Baupläne der Schöpfung

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Der epigenetische Code

Dolly hat alles über den Haufen geworfen.

Lange waren sich die Philosophen einig gewesen: Objekt und Subjekt sind getrennte Wirklichkeiten. Die Entdeckung der Epigenetik, die zur philosophischen Hilfswissenschaft aufstieg, zeigte das Gegenteil.

In Form eines Experiments, das Määäh sagen konnte und die Medien auf der ganzen Welt abgraste: Schaf Dolly, das erste geklonte Säugetier. 1996 gelang der Durchbruch. Die Forschungen hatten ein pharmazeutisches Ziel: Man wollte mit Schaf-DNA eine Zellkultur anlegen. So manipulierte Euterzellen gewinnen, in denen sich über Milch Gerinnungsfaktoren bilden, um Medikamente herzustellen. Deshalb transplantierte man den Zellkern, das Genom einer Euterzelle, in das Zytoplasma einer Eizelle ohne Zellkern. In der Hoffnung, dass dadurch lang lebende Zellkulturen entstehen. Allerdings kam etwas völlig anderes heraus. Ein neues Schaf. Die Wissenschaftler stutzten: Wie konnten die Gene einer Milch produzierenden Zelle einen neuen Embryo erschaffen, anstatt, wie erwartet, eine weitere Euterzelle?

Antwort gab die Epigenetik: Die Gene der milchherstellenden Zelle wurden sozusagen von außen durch das Zytoplasma der Eizelle unerwartet so neu geordnet, dass nicht mehr Brustdrüsenzellen, sondern ein richtiger Embryo daraus wurde.

Das ist das Fantastische an der Wissenschaft. Forschung geht so weit, dass sie irgendwann Regeln, die bislang als unumstößlich galten, von der Platte fegt. Forschen heißt Thesen aufstellen und Bestätigungen suchen. Über den Tellerrand schauen und das Unmögliche nicht ausschließen. Dann passieren Wunder. Denkschulen ändern sich, neues Wissen erweitert den Horizont und macht die Sicht klar.

So hatte mit Dolly das Ende der rein genetisch-mechanistischen Betrachtungsweise des Lebens begonnen. Unter der Wucht dieser und anderer Erkenntnisse zerstob die bisherige Meinung, das Genom wäre ein erratischer Block, an dem im Normalfall nicht gerüttelt werden kann und in dem sich bis zum Lebensende nichts mehr verändert. Falsch. DNA ist nicht stur.

In unserem Erbgut ist viel in Bewegung: Gene lösen sich aus einer Position, um sich an einem anderen Ort hineinzuzwängen. Andere DNA-Abschnitte verschwinden in einem schwarzen Loch von Basen, die nicht in Proteine umgesetzt werden konnten. Die Biologie studiert das derzeit sehr genau. Was man heute mit ziemlicher Sicherheit weiß, betrifft die Verpackung der Gene: Sie ändert sich sowohl bei der Befruchtung wie auch in der Schwangerschaft. Dadurch wird vorherbestimmt, ob und welche Gene tatsächlich arbeiten dürfen und ihre Botschaft in Proteine umschreiben können.

Jede Zelle trägt die komplette Erbinformation in sich. Und zwar im DNA-Faden, auf dem die Buchstaben der Erbinformation wie auf einer Perlenkette hintereinander eingewoben sind. Der Faden ist lang, etwa zwei Meter beträgt er pro Zelle, würde man ihn vollkommen entfalten.

Dass diese Informationskette klug verpackt werden muss, versteht sich, sonst hätten die zwei Meter in dem mit freiem Auge gar nicht sichtbaren Zellkern unmöglich Platz. Deshalb ist der DNA-Faden zusammengerollt. Wie ein Seil, das man in einen kleinen Sack zwängen muss.

Obwohl es beim Hinsehen chaotisch aussehen könnte, geschieht das nicht zufällig. Das Faltungsmuster der DNA gehorcht physikalischen Regeln, die auf chemischen Verbindungen beruhen: Methylreste, Acetylreste und Phosphatgruppen, drei häufige Moleküle, die an unterschiedlichen Stellen an die DNA angehängt werden, beziehungsweise an den Kristallisationskern, den Histonen, einem Teil des Verpackungsmaterials der DNA. Das verleiht der DNA-Perlenkette eine elektrische Ladung, die, physikalischen Anziehungs – und Abstoßungskräften folgend, ein Faltungsmuster ergibt. Das Wunder Leben, ein elektrisches Zittern.

Unser Erbgut ist ein Schatz, der aus unzähligen kleinen Magneten besteht, sich ununterbrochen bewegt und oszilliert. Das biochemische Origami dient nicht nur der Verpackung. Wird ein Gen, bildlich gesprochen, nach unten oder in das Innere des Knäuels geschoben, kann es bei Weitem nicht so aktiv bleiben und Proteine bilden, wie wenn es an der Oberfläche bleibt. Damit entscheiden besagte Methylphosphate und Acetylreste auch darüber, ob Gene arbeiten oder in einen Ruheschlaf versenkt werden.

Im Unterschied zur Basensequenz des DNA-Fadens, der im Großen und Ganzen konstant bleibt, ändert sich die Verpackung und steht offensichtlich mit der Außenwelt in permanentem Dialog. Was dem Überleben und der Erhaltung der Art dient. Dadurch gelingt es der Zelle rasch und ohne Gene verändern zu müssen, sich einer rastlosen Umwelt anzupassen – körperlich und auch charakterlich.

Was also die Biologie tut, könnte man ebenso von der Interpretation der Offenbarung erwarten.

Damit wird auch eine Denksportaufgabe gelöst, für die es in der Medizin lange Zeit keine Antwort gab: Wenn in unserem Körper jede Zelle die gleiche Erbinformation in sich trägt, warum bilden dann manche Zellverbände Haare, andere Knochen und wieder andere den Herzmuskel? Wie weiß die Zelle, welche Befehle sie an welchem Ort ausführen soll? Schließlich trägt sie das Genom für alle Organe unseres Körpers in sich. Die Antwort darauf ist: die Verpackung.

In Leberzellen sind Gene für die Netzhaut, für Nerven und Knorpeln durch die Verpackung versteckt und inaktiviert. Das Erbgut wird so gefaltet, dass es nur jene Proteine herstellt, die gerade für die Leber notwendig sind.

Während der Embryonalzeit sind zahlreiche Gene aktiv, die dem Heranreifen und der Neubildung unserer Organe dienen. Nach der Geburt, mitunter auch schon früher, werden diese Gene abgeschaltet, indem sie umgepackt und dadurch ruhiggestellt werden.

Manchmal verlieren diese Gene im Alter den Karton, in dem sie eingesperrt waren, und werden aktiv, so wie in der Embryonalzeit. In seltenen Fällen kann dadurch Krebs entstehen. Wird dieser Verpackungsmechanismus während der Schwangerschaft gestört, können schwere Missbildungen entstehen. Denn die veränderte Verpackung verhindert mitunter eine Genaktivität, bevor das Organ noch fertig ist.

Nach der Geburt werden Gene weiter umgepackt. Ihre Aktivität hängt letztlich davon ab, ob sie aufgeschnürt werden, was epigenetisch passiert. Manche Änderungen in der Genarchitektur sind durch äußere Reize ausgelöst und so nachhaltig, dass sie noch Jahrzehnte später ihre biologische Wirkung behalten. Das jahrelange Leiden an psychischen Traumen, auch physisch, lässt sich so erklären.

Die Schwangerschaft ist für das Kind, teils aber auch für die Mutter eine epigenetische Großleistung. Während dieser Phase prägt die Mutter das Kind. Manche epigenetische Veränderungen reichen bis zur Verpackung der Keimzellen-DNA. Dann werden erworbene Eigenschaften auch weitervererbt. Und das Spiel des Lebens geht in der Verlängerung.

Die tragende Rolle der Schwangerschaft

Junge Stare flüchten flinker, wenn sie schon im Ei dem Cortisol ähnlichen Stresshormon Corticosteron ausgesetzt waren. Das haben Forscher der kanadischen University of British Columbia bei Vögeln beobachtet, die sie in Kästen auf einer Farm eingenistet hatten. Zur Vortäuschung mütterlichen Stresses wurde der Corticosteron-Gehalt frisch gelegter Eier künstlich erhöht. Daraus geschlüpfte Nestlinge wuchsen zwar ebenso schnell heran wie Stare aus unbehandelten Eiern und wurden wie sie im Alter von drei Wochen flügge. Bei ihren ersten Flugversuchen schnitten sie aber merklich besser ab. Sie besaßen nicht nur größere Flügel, sie konnten auch kräftiger damit schlagen. Deutlich weiterentwickelt, enthielten ihre Flugmuskeln so viel Eiweiß und so wenig Wasser, wie es sonst für erwachsene Vögel typisch ist. Flugtechnisch derartig frühreif zu sein, dürfte sich vor allem dann auszahlen, wenn die Jungen in einem riskanten Umfeld aufwachsen. Vermutlich verbessern gestresste Starenweibchen, die ihre Eier mit Corticosteron anreichern, die Überlebenschancen der Brut.

Das erklärt: Die Umwelt greift über die Prägekraft der Hormone schon während der Schwangerschaft in unser Leben ein.

Dass Mütter ihren Stress an die Kinder weitergeben, noch ehe der Nachwuchs das Licht der Welt erblickt, ist zwar schon lange bekannt, bisher wurden meist negative Effekte entdeckt: gebremstes Wachstum etwa oder ein geschwächtes Immunsystem. Anscheinend können Stresshormone sehr wohl die positive Auswirkung haben, dass die Sprösslinge bei Zeiten für ein gefahrvolles Leben vorbereitet werden. Man könnte sagen, sie werden epigenetisch abgehärtet.

In der Geburtshilfe nimmt die Epigenetik der Schwangerschaft einen immer größeren Raum ein: die Folsäure ist ein epigenetischer Buchstabe, deswegen ist sie in der Schwangerschaft wichtig. Ein Vitamin-D-Mangel der Mutter kann Jahrzehnte später beim Kind eine Osteoporose beschleunigen. Ja selbst die Nahrung des Vaters vor der Zeugung kann sich ungünstig – noch Jahrzehnte nach der Geburt – auswirken. Hat sich der Herr Papa zeit seines Lebens von Schnitzel, Stelzen und Schweinsbraten ernährt, wird das Kind später wahrscheinlich leichter zunehmen. Sogar Mobbing kann über die DNA wie eine Portion Gift in die nächste Generation einfließen. Ist die Mutter während der Schwangerschaft boshafter Kritik ausgesetzt, beeinflusst ihre Angst das Stressverhalten des späteren Erwachsenen.

Die Natur gibt weiter, was der Mensch begonnen hat.

Schreien, Stillen, Schmusen: das Säuglingsalter

Die Wissenschaft der Spiegelungen, mit deren Hilfe sich die äußere Welt nicht nur in unser Bewusstsein eingraviert, sondern sich auch in der DNA verewigt, geht bis in die 1990er-Jahre zurück. Zwei kanadische Forscher, beide kamen aus Montreal, kannten einander aber nicht, trafen sich zufällig in Madrid in einer Bar. Michael Meaney, Neurowissenschaftler am Douglas Mental Health Institute, und Moshe Szyf, Genetiker an der McGill University, der sich mit chemischen Veränderungen an der DNA befasst, die sich auf die Aktivität auswirken. Meaney nahm eine kräftigen Schluck von seinem Bier und erzählte von seinen Beobachtungen.

 

»Ich habe da etwas entdeckt. Junge Ratten sind viel stressresistenter, wenn sich ihre Mütter beim Stillen um sie kümmern.«

»Tatsächlich?«

»Ja, ich verrate dir die Details. Nehmen wir noch eine Runde, Moshe?«

»Sicher, Michael.«

Bei diesem Gespräch soll Moshe Szyf – so berichtet Craig Miller am 2. Juli 2010 im Fachmagazin Science – die Erleuchtung gekommen sein. Es lag nicht am Bier. Das muss etwas mit der Methylierung an der DNA zu tun haben, dachte er. Ein Mechanismus, den Szyf bislang nur an Stammzellen und an Krebsgeweben hatte beobachten können. Das stand im Widerspruch zur üblichen Meinung, dass sich Impressionen über Neuronen manifestieren. Diese Neuronen bilden bei entsprechenden Reizen mehr Synapsen, die dann umso leichter wieder bemüht und aktiviert werden können. 2004 publizierten beide in Nature Neuroscience einen Artikel, der zu den meistzitierten dieses wissenschaftlichen Journals zählt.

In ihm berichteten sie von einer Hormonuntersuchung, die sie an jungen Ratten vorgenommen hatten. An Nagern, die nach ihrer Geburt ausreichend gestillt wurden, und an einem zweiten Kollektiv, dem es nicht so gut ging. Wurden diese Tiere später mit Stresssituationen konfrontiert, schütteten die Ratten, denen in der Kindheit wenig Zuwendung zuteil geworden war, reichlich Cortisol, also Stresshormone, aus. Die Nebenniere, in der das Cortisol gebildet wurde, reagierte damit überschießend. Mit all den körperlichen Reaktionen, die ein hohes Maß an Stresshormonen mit sich bringt. Der Grund für diese massive Cortisolbildung bei den kindlich vernachlässigten Tieren: In bestimmten Bereichen des Hirns fehlten die Cortisolrezeptoren, die normalerweise die Stressreaktionen ausbalancieren. Durch die fehlende Zuwendung und das kümmerliche Stillen waren diese Rezeptoren methyliert – und damit außer Kraft gesetzt.

In der Folge erzielte eine zweite Publikation enormes Interesse: Studenten von Michael Meaney untersuchten das Östrogenrezeptorgen und seinen Methylierungszustand. Wurde den Labortieren nach ihrer Geburt der Zugang zum Stillen erschwert, dann besaßen sie auch im Erwachsenenalter einen methylierten Östrogenrezeptorgenabschnitt, der die Ablesung erschwerte. Und vor allem verhinderte, dass ein weiteres Hormon, Oxytocin, im Gehirn ausgeschüttet wird. Dieses Hormon regelt die Zuwendung und das Vertrauen – auch beim Menschen –, und es ist für das Stillen mitverantwortlich. Ratten, die kaum gestillt wurden, zeigten dadurch ein ähnliches Verhalten, wenn sie selbst Kinder zur Welt brachten.

Aber auch das Gen für den Brain Derived Nerve Growth Factor der Jungen wird hypermethyliert und inaktiv gesetzt, wenn Muttertiere während ihrer Schwangerschaft mit sozialem Stress konfrontiert sind. Das Methylierungsmuster bleibt später erhalten. Interessanterweise greifen bestimmte Psychopharmaka in den epigenetischen Code ein und acetylieren das Gen für den Brain Derived Nerve Growth Factor, wodurch sie es aus der Lethargie wieder herausholen und – schnipp! – aktivieren.

Während für die Verhaltensforscher die Epigenetik eine willkommene Erklärung für Phänomene darstellt, die sie beobachten, aber naturwissenschaftlich bis dato nicht zuordnen konnten, stehen Biochemiker und Molekularbiologen den epigenetischen Interpretationen noch abwartend bis skeptisch gegenüber. Timothy Bestor, ein Genetiker der Columbia University, meint, dass mehr naturwissenschaftliche Studien notwendig seien, um tatsächlich derartige verhaltensbiologische Schlüsse zu ziehen. Was man, so der Einwand, bei Einfachmechanismen wie der Hefe nachweisen kann, muss nicht zwangsläufig in der Komplexität des Gehirns stattfinden. Allerdings können selbst die kritischsten Molekularbiologen nicht leugnen, dass es Prägephänomene gibt, die den Menschen klinisch über Jahrzehnte begleiten. Die Suche nach dem Alphabet für diese Phänomene ist noch nicht abgeschlossen. Die Tendenz scheint in die Richtung zu gehen, dass epigenetische Mechanismen ihre Hand im Spiel haben.

Für den Geburtshelfer ist eines wichtig: Die Neugeborenen müssen von der Mutter liebkost und gestreichelt werden. Das prägt sie ein Leben lang und hilft, Stresssituationen mit Gelassenheit entgegenzutreten. Die ersten Lebensjahre sind das zweite epigenetische Fenster, währenddessen sich die Außenwelt im Kind niederschlägt, vor allem in der Zuneigung, die man dem Kind über taktile Reize entgegenbringt. Das Kind speichert sie und gibt sie später an die eigenen Kinder weiter.

Uns zeigt das etwas sehr Schönes. Liebe lässt sich vererben.

Die Pubertät und der Prägestempel

Schwierig, schwierig. Und doch so aufschlussreich. Die Zeit der inneren Irritationen. Sturm und Drang ohne Maß und Ziel. Wo geht die Reise hin, hm? Man weiß es nicht zu richtig zu deuten, woher auch, wozu auch. Der Geist der Rebellion erwacht.

Gesellschaftliches, soziales und weltanschauliches Verhalten entscheidet sich meist in der Kindheit und in der Pubertät. Es ist die Prägephase, in der die elektronischen Medien zunehmend die Funktion des Idols übernehmen. Dazu die sozialen Medien, die Wertungen, die Mahnstimmen der bloggenden Umwelt. Alles Weichen, wichtige Weichen. Da diese Kurseinstellung junger Menschen jahrzehntelang anhält und nicht den Genen selbst zugrunde liegt, darf man eine epigentische Wirkung der elektronischen Medien vermuten.

Eine internette Auswirkung.

Der epigenetische Einfluss der Medien ist gut untersucht. Daneben gibt es viele andere Varianten, die unsere Physiologie und unsere Lebenseinstellungen prägen.

Die härtesten Daten gibt es derzeit aus der TV-Welt. Seit 17 Jahren testet Peter Winterstein, Kinderarzt in Baden-Württemberg, fünf – bis sechsjährige Kinder und lässt sie dabei zeichnen. Dieser Blick in die Kinderseele hat eine Überraschung gezeigt: Während Vorschulkinder mit einem TV-Konsum von weniger als 16 Minuten pro Tag Männchen mit Haaren, Kleidern und Schuhen zeichnen, begnügen sich gleichaltrige Kinder, die täglich drei Stunden und mehr fernsehen, mit der Darstellung verkrüppelter Strichmännchen, denen Glieder aus der Hüfte wachsen oder Beine aus dem Kopf. Winterstein macht für solche Entwicklungsdefizite vor allem den Medienkonsum verantwortlich. Dabei besuchten aber alle Untersuchten eine Schule und ab dem Alter von drei Jahren mindestens halbtags den Kindergarten.

Winterstein gehört mit seinen Untersuchungen zu jenen Medizinern, die nicht müde werden, vor den Folgen kindlichen TV-Konsums zu warnen. Er schrie es geradezu heraus: Passt auf, liebe Mütter und Väter, der Flachbildschirm ist nicht so harmlos, wie er ausschaut. Fernsehen verändert.

Ähnlich der deutsche Neurophysiologe Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Ulm. Er liefert Erklärungen, wie es zu medialen Schäden kommt: In einem Gehirn prägen sich nur jene Dinge besonders gut ein, die über mehrere Sinne erfasst werden können, die also Ohr, Auge, Nase, Tast – und Geschmacksinn beschäftigen. Fernsehen sei dagegen eine, verglichen mit der wirklichen Welt, armselige Angelegenheit. Sie führe zu einer Reduktion der Vorstellungswelt. Sprich: Beim Zappen geht die Fantasie flöten.

Solche Erkenntnisse haben sich längst in einer Empfehlung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung niedergeschlagen. Demnach sollten Kinder im Vorschulalter nicht länger als 30 Minuten pro Tag fernsehen, für Grundschulkinder sei eine Stunde akzeptabel. Daran halten sich nur wenige Eltern. Manche, die es dank ihrer Ausbildung besser wissen sollten, bezeichnen scherzhaft das Fernsehen als ihr Kindermädchen. Vor dem die Kinder ruhig gehalten werden können. Wozu mit den Rackern reden, wenn es die Teletubbies gibt.

Obwohl die Faktenlage erdrückend scheint, tut sich, wie Christian Seel in Die Welt schrieb, die Forschung immer wieder schwer, einen Wirkungszusammenhang zwischen TV-Konsum und Bildungschancen zu belegen. Zum einen sind Fernsehabstinenzler als Vergleichsgruppe kaum verfügbar, zum anderen kann man den hohen TV-Konsum auch als Symptom für andere Dinge werten, die im kindlichen Umfeld schief laufen. So ergab vor kurzem eine große Studie in Nordrhein-Westfalen an 5.500 Kindern, dass der Medienkonsum umso geringer ist, je wohler sich die Kinder in ihrer Familie fühlen. Bekannt ist, dass in bildungsferneren Schichten besonders exzessiv ferngesehen wird. Wer sich nichts zu sagen hat, gibt der Fernbedienung einen Ruck. Netflix ist die neue Religion.

Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Pro 7, Thomas Ebeling, beschrieb seine Zuschauer so: »Sie sind Menschen, ein bisschen fettleibig und ein bisschen arm, die immer noch gerne auf dem Sofa sitzen, sich zurücklehnen und gerne unterhalten werden wollen.« Ebeling hat nach dieser seiner Analyse den Hut nehmen müssen.

In Österreich und Deutschland ist Fernsehen wie Alkohol. Absolut okay. Es kann hin und wieder sogar mehr sein, schadet nicht und bringt gute Laune. Diese Denke ist nicht unproblematisch. Die Mehrheit der Leute legt über diesen Missbrauch den Schleier der Toleranz, ein neuer OLED-3D TV soll ja ausgiebig eingeweiht werden. Wenige sind bemüht, den Off-Knopf zu drücken. Anstatt die Probleme primär zu verhindern, wird für die Spätfolgentherapie ein Trupp von Logopäden und Therapeuten zu Hilfe gerufen. In langen Gesprächen sollen sie die Sünden wiedergutmachen. Und dann macht man natürlich auch die Lehrer für die schlechten Leistungen der Schüler verantwortlich. Ich will hier keine PISA-Diskussion anzetteln, nur anmerken, dass manche Schwierigkeiten hausgemacht sind.

Zu den größten Untersuchungen, die sich dem Thema Wie Fernsehen die Menschen formt widmeten, gehört die UNESCO Global Media Violence Study. Sie hat das Verhalten von Kindern vor dem Bildschirm in 23 Ländern untersucht. Ein Resultat ließ schon am Beginn der Untersuchungen aufhorchen: Rund 93 Prozent der schulpflichtigen Kinder, die in elektrifizierten Städten wohnten, verbrachten mehr als 50 Prozent der Freizeit vor dem TV-Schirm. Mehr als die Hälfte ihrer gesamten Freizeit.

Die unabhängige Television Commission aus England notierte bereits 1998, dass 46 Prozent aller Kinder einen Fernsehempfänger in ihrem Schlafzimmer haben und nur 43 Prozent aller Eltern willens sind, die Programme der Kinder zu überprüfen oder gar zu steuern. Das, obwohl die meisten englischen Eltern wissen, dass Fernsehen das Benehmen und die Kommunikation ihrer Kinder nachhaltig verändert.

Die Abhängigkeit der Kleinen vom Fernsehschirm wird durch eine weitere Untersuchung illustriert: Wie die US-National Television Study berichtet, beinhalten 61 Prozent der ausgestrahlten Programme gewalttätige Akte, nur 4 Prozent strahlten Inhalte aus, die sich gegen Gewaltaktionen richteten. In 39 Prozent wurde Gewalt, die den Tod brachte, von attraktiven und sympathischen Menschen präsentiert.

Bei Daniel Craig schaut das, wenn er den Abzug seiner Walther PPK zieht, einfach lockerer aus, er hat ja die Lizenz zum Töten. Jennifer Lawrence darf genauso ihre Widersacher im Wald mit Pfeil und Bogen jagen, schließlich ist sie die Gute von Panem. Es soll Männer geben, die sich freiwillig von ihr den Oberschenkel aufspießen lassen würden.

Jedenfalls, mehrere Studien waren tatsächlich in der Lage, über viele Jahre Menschen, die in ihrer Kindheit vor dem Fernseher saßen, zu untersuchen. Eine große US-amerikanische Evaluierung beobachtete 707 Menschen über 17 Jahre hindurch. 20 bis 25 Gewaltakte wurden pro Stunde im Kinderfernsehprogramm registriert. Fernsehen bringt auch jede Menge Action mit sich. Tatsächlich bestätigte sich, dass früh erlebte Gewaltdarstellungen später mit antisozialem Verhalten, einer Neigung zu physischer Verletzung und aggressivem Benehmen verbunden waren. Eine zweite Studie, die 1977 begann, nahm Kinder zwischen sechs und neun Jahren unter die Lupe, verfolgte sie 15 Jahre und kam zum gleichen Ergebnis. Wer viel Rambo schaut, wird kein Kuschelbär.

Burschen sind gefährdeter als Mädchen. Vor allem wenn sie in den ersten fünf Lebensjahren Gewalt unter den Menschen miterleben. Wird Brutalität mit Erotik kombiniert, hat das einen besonderen Erregungseffekt, der ins Asoziale, Egoistische, irgendwann vielleicht ins Kriminelle führt. Je höher die optische Dosis, desto stärker die Wirkung. Internetpornos und Egoshooter lösen ganz spezielle Reize aus. Dieser Effekt ist, statistisch gesehen, gefährlicher als das Passivrauchen.

 

Computerspiele sind gefinkelter als Actionfilme, weil das Kind aktiv als Aggressor mitwirkt. Drei Metaanalysen bestätigen das. Die Unterhaltungsindustrie, die diese Spiele herstellt, wehrt sich geschickt gegen Vorwürfe, die immer dann aufkommen, wenn Jugendliche zum Gewehr greifen und Amok laufen. Viele dieser jugendlichen Täter hatten eine Spielsucht entwickelt.

Manche Kids finden den IS geil. Die Tatsache, dass Kinder über Handys Hinrichtungsvideos aus dem Irak auf europäischen Schulhöfen untereinander austauschen, wissen Eltern höchstens aus der Boulevardzeitung.

Ich darf an dieser Stelle beruhigen. Die Technik ist nicht böse. Es war früher nicht besser. Die Digitalisierung ist das Dogma unserer Zeit. All diese Errungenschaften, vom Flatscreen bis zum Web, bieten die Möglichkeit der Information, Bildung und Kontakterweiterung. Analog lässt sich hier der alte Spruch des Gelehrten Paracelsus anwenden: Ob etwas Medizin oder Gift ist, hängt von der Dosis ab.

Natürlich spielen die Umwelt, das Geschlecht, Bildung, dazu Alkohol und Drogen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Burschen sind auch hier gefährdeter als Mädchen. Und Kinder, die gleichzeitig zu Hause den dreidimensionalen, weil realen Aggressionsakt der Eltern erleben. Sie werden durch die zweidimensionale TV-Darstellung in ihrem charakterlichen Programmierungsprozess weiter bestärkt.

Die US-Forscherin Su Bailey untersuchte in einer aufsehenerregenden Studie 40 adoleszente Mörder sowie 200 junge Menschen, die sexuelle Verbrechen begangen hatten, und sah einen starken Zusammenhang zwischen aggressiven und pornografischen Videos auf der einen Seite und den Straftaten, die folgten.

In ähnlicher Weise analysierte eine britische Studie 18 Jugendliche, die zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Hier zeigte sich klar, dass es die elektronischen Medien waren, die das Gewissen und die Geistigkeit der späteren Straftäter prägten: Sie hatten keinerlei Sensibilität für das Wohl anderer Menschen. Und das sei kein Wunder, resümierte vor kurzem ein angesehenes wissenschaftliches Journal: Wenn der Leitfilm für aggressives Verhalten Natural Born Killers, der strengen Jugendschutzbedingungen unterliegt, von jungen Menschen gesehen wurde, die zu 45 Prozent unter 18 Jahren waren, darf es nicht wundern, dass Friedenstauben aussterben. Selbst wenn uns vorgegaukelt wird, soziale Medien brächten die Menschen zusammen. In Wahrheit begibt man sich in eine hübsch animierte Isolation, in eine selbst gewählte Matrix.

Ich meine: Für viele Dinge im Leben braucht man eine Lizenz. Für das Spritzen eines Weingartens mit Pestiziden, für das Fischen, für das Handeln mit Gütern, für das Lehren. Eigentlich wäre auch eine Qualifikation notwendig, Kinder und vor allem Pubertierende erziehen zu dürfen. Die Bedürfnisse von Jugendlichen sind mannigfaltig, man kann so viel falsch und nur so wenig richtig machen.

Die Plastizität des pubertierenden Gehirns – und damit auch seine Beeinflussbarkeit – lässt sich sogar bildgebend verfolgen. Ungefähr im Alter von zwölf Jahren hat das kindliche Gehirn von der Größe, dem Faltungsmuster, dem Gewicht und der regionalen Spezialisierung den Status eines Erwachsenen erreicht.

Kognitiv allerdings sind sie noch nicht auf dem Niveau. In einer groß angelegten Arbeit überprüfte das National Institute of Mental Health in Bethesda, es gehört zum US-Gesundheitsministerium, 2.000 Jugendliche vom 3. bis zum 25. Lebensjahr. Alle zwei Jahre wurde an ihnen ein Gehirnscan vorgenommen. Die Arbeit verwendete eine Magnetresonanzmethodik (MRI), um den Wasser-Fett-Gehalt im Gehirn zu dokumentieren. Im Gehirn besteht die graue Substanz vor allem aus wasserreichen Nervenzellen, während die weiße Substanz Fette beinhaltet, die die einzelnen Nerven voneinander isolieren, das Myelin. Myelin ist das griechische Wort für Gehirn. Im Hirn eine Biomembran, reich an Nervenfasern.

Die Untersuchung brachte überraschende Erfolge. Sie zeigte, dass die graue Substanz zunächst in der Kindheit stark zunimmt, dann sich wieder zu verdünnen beginnt. Wobei diese Welle im Hinterhirn beginnt und bis zum frühen Erwachsenenalter anhält. Dieser Prozess läuft bei Mädchen schneller ab als bei Buben und wird mit dem »Waking-up«-Schritt in Zusammenhang gebracht; Mädchen erreichen wesentlich früher die Reife des Erwachsenenalters. Je schneller diese Welle vorangeht – und das scheint ein interessantes Nebenprodukt dieser Untersuchung zu sein –, umso höher ist die Intelligenz.

Diese Zeit der frühen Adoleszenz, die mit dem dritten epigenetischen Prägefenster zusammenfällt, entscheidet über Wichtiges im weiteren Leben: die synaptische Vernetzung und die Auswahl der Nerven. Welche gebrauchten verwendet und welche nicht gebrauchten man eliminiert. Die Stimulierung von außen scheint so an der Gehirnentwicklung entscheidend beteiligt zu sein.

Der Spruch »Use it or lose it« gilt in besonderer Weise für das Oberstübchen. Wird in dieser Lebensphase das heranreifende Gehirn angehalten, schwierige Situationen zu meistern und Konflikte zu lösen, bleibt ihm diese Begabung für das spätere Leben.

Der US-Neurowissenschaftler Jay Giedd, der diese Untersuchung leitete, schließt daraus, dass in dieser Lebensphase die Begegnung des Kindes mit Musik, Eindrücke durch Reisen, fremde Sprachen, aber auch die sportliche Balance von enormer Wichtigkeit sind. Das Gleiche gilt für Konfliktlösungsmodelle, die das Kind in diesen Lebensphasen erlernt und sich dabei an Prägedarstellungen in elektronischen Medien orientiert. Im Alter scheint wiederum eine zunehmende Myelinisierung wichtig zu sein. Sie ermöglicht, dass Nervensignale schneller weitergegeben werden und die Zeit zwischen zwei neuronalen Impulsen kürzer wird. Deswegen verlangt Weisheit ein Maximum an Myelinisierung. Das ist jener Prozess, bei dem Axome mit einer Myelinschicht umhüllt werden. Gewissermaßen das Motoröl für den Denksport.

Die molekulare Neurologie hat demnach eindrucksvolle Beispiele geliefert, wie plastisch und formbar unser Gehirn ist. Und wie nachhaltig Prägung sein kann.

Was die großen Fragen aufwirft: Gibt es den freien Willen? Ist er vorbestimmt? Und wenn ja, gibt es in einem determinierten freien Willen Freiräume? Das wären dann Nischen des Glaubens.