Das Gesetz des Ausgleichs

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Unbewusste Denkprozesse

Der niederländische Sozialpsychologe Ap Dijksterhuis fand anhand mehrerer Studien heraus, dass intensives, bewusstes Nachdenken nicht automatisch zu den besten Entscheidungen führt. Entspannt zu sein dagegen hilft sehr wohl.21

Sogar wenn wir mit aller Kraft versuchen, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen, klappt es oft nicht, meint Dijksterhuis. Denn das Gehirn kann die Informationen zwar sammeln, aber nicht gleichzeitig verarbeiten. Anders ausgedrückt: Grübeln bring nichts. Je komplexer das Problem ist, desto eher sollten wir es deshalb unbewussten Denkprozessen anvertrauen, rät er. Was begründet, warum manche Menschen ihre besten Ideen morgens unter der Dusche haben.

Wir sollten also bei unserem Versuch, gut zu sein und gute Entscheidungen zu treffen, auch die Hintergrundaktivitäten unseres Gehirns zulassen, seine Eigeninitiativen sozusagen, zu denen es immer dann fähig ist, wenn wir es nicht gerade selbst beschäftigen. Die Religionen sprechen in diesem Zusammenhang von Medita tion und Gebet.

Die Wissenschaft bezeichnet die für die Hintergrundaktivitäten des Gehirns zuständigen Regionen als Default Mode Network. Dieses Netzwerk ist sozusagen unsere körpereigene Kreativagentur. Und unsere Kreativität ist gefragt, wenn wir uns verändern wollen. Denn dieses Vorhaben konfrontiert uns ständig mit neuen Situationen oder zwingt uns, mit vertrauten Situationen neu umzugehen.

Glymphatisch zu leben bedeutet, bis zum Ende durchgedacht, auch einen positiven Kreislauf in Gang zu setzen, der uns irgendwann von selbst vorwärtsbringt. Wer es schafft, den ersten Impuls systematisch verstreichen zu lassen und wichtige sowie emotional besonders stark aufgeladene Entscheidungen erst am nächsten Vormittag zu treffen, wird mit seinen Mitmenschen besser im Einklang stehen und deshalb insgesamt weniger Gedankenmüll aufbauen.

Er wird weniger Stress und Ängste haben und damit auch unaufschiebbare, sofort nötige Entscheidungen besser treffen. Letztendlich ist die Kunst, den ersten Impuls möglichst verstreichen zu lassen und die Sache erst einmal zu überschlafen, die wichtigste Vorstufe für die Kunst der Gelassenheit.

Charakterfitness-Trainingsstufe zwei:
Entgifte deine Emotionen

Die regelmäßige Beichte ist mehr als eine von der Kirche auferlegte Pflicht im Sinne christlicher Traditionen. Im Grunde versucht sie, etwas zu systematisieren, das uns tatsächlich hilft, bessere Menschen zu werden: Die Entgiftung unseres Gehirns durch Reden über die Dinge, die wir uns selbst vorwerfen. Das wir uns damit befreien und bereit für gutes Neues machen, wissen längst auch die Gehirn- und Verhaltensforschung.

Jeder Mensch macht Fehler. Kleine oder gravierende, unbedeutende oder unbedachte. Ein falsches Wort hier, eine Notlüge da. Die Patzer summieren sich und bilden einen Schmierfilm rund um unsere Seele. Falsche Entscheidungen, vielleicht verbunden mit weitreichenden Konsequenzen, lasten auf unserer Seele. Einmal falsch abgebogen, und schon scheint es kein Zurück mehr zu geben. Der Weg scheint verbaut, die Türen scheinen zugeschlagen zu sein, die Aussichten wirken trüb. Wie ein riesiger Stein liegt die Vergangenheit auf unserem Gemüt. Ein schwarzer Monolith, der ein unangenehmes Grundrauschen erzeugt, negative Wellen aussendet und nach und nach unsere Gefühle, unsere Gedanken und am Ende unsere Taten vergiftet.

Um diesen Monolithen loszuwerden und unsere Gedanken damit zu entgiften, gibt es eine bewehrte Methode. Sie besteht darin, uns mitzuteilen. Die Regelung, die das Christentum dafür anbietet, ist die Beichte. Den Erfindern ging es wahrscheinlich weniger um ein paar Gebete, die der Beichtende zur Vergebung seiner Sünden zu beten hatte, sondern vielmehr um die Entgiftung des Geistes, auch wenn sie es so kaum genannt hätten.

Der Mensch benennt dabei seine Fehler. Er spricht sie aus. Das Gespräch mit einem Menschen, dem er vertraut, befreit ihn und nimmt den Krampf von seiner Seele. Diese Vertrauensperson muss jeder für sich selbst auswählen, und es macht dabei jedenfalls Sinn, dass sie an ein Schweigegelübde gebunden ist. Schließlich wollen wir nicht jedermann in unsere Abgründe blicken lassen.

Dass eine andere Berufsgruppe, die ebenfalls schweigen muss, das ebenso gut und mitunter auch besser kann als Geistliche, das sieht sogar der Wiener Dompfarrer Anton Faber so. Seit 2018 bietet der Wiener Stephansdom Beichten von 7 bis 22 Uhr an, und zwar in fünfzig Sprachen. Der heftige Ansturm veranlasste ihn, »schwere Fälle«, wie er es nannte, an Psychotherapeuten weiterzuleiten.

Ein Geistlicher, ein Psychotherapeut oder ein vertrauter Freund – wen immer wir auswählen, um uns mitzuteilen und unsere Gedanken dabei zu entgiften, muss wertfrei zuhören können. Er darf nicht urteilen. Er muss in diesem Gespräch über den Dingen stehen. Auf diese Art nimmt er uns am ehesten eine Last ab, sodass wir danach wieder flexibler, beweglicher und leichtfüßiger sind, und uns frei von Dunklem in unserem Kopf leichter tun, gut im Sinne des von uns gewollten Gutseins zu sein. Es ist eine Übung, der wir uns regelmäßig widmen sollten, und nicht erst, wenn der Druck besonders groß ist. Wir sollten sehr bewusst damit umgehen und sie zum Teil unserer Zeitplanung machen.

Christliche Gepflogenheiten gehören auch zum Weisheitsschatz der Menschheit. Das Bekennen und das Suchen nach Vergebung ist seit den Zeiten der griechischen Tragödie alteuropäisches Erbe, das sich bis in die heutige Psychoanalyse und Logotherapie fortgesetzt hat. Schon in der antiken Orestie, der einzigen erhaltenen Trilogie griechischer Tragödien, lebte diese Sehnsucht im Hintergrund des alten Mythos. Nur die Gnade der Gottheit spricht deren Orest, den Sohn des Agamemnon, frei. Der Dichter Aischillos hat daraus in großartiger Schau den Kampf zwischen den alten Göttern der Gerechtigkeit und den jungen Göttern der Gnade gemacht und damit zum ersten Mal betont, dass der Mensch sich selbst von seiner Untat gar nicht befreien kann. Auch weil er möglicherweise gar nicht allein dafür verantwortlich ist.

Christliches Vokabular mit Worten wie »Schuld«, »Eingestehen« oder »Vergebung« bereinigt also unser Leben, und wenn wir das Ganze naturwissenschaftlich betrachten, sehen wir rasch, dass da einiges dran ist.

So beschäftigte sich eine Studie der Universität von Iowa, durchgeführt an älteren Menschen, mit dem Zusammenhang zwischen der Sterblichkeit und der Anzahl der Kirchenbesuche. Die Forscher entdeckten eine eigentümliche Korrelation. Je häufiger die Probanden die Kirche besuchten, desto geringer war der Anteil eines bestimmten Entzündungsmarkers. Was im Rahmen der durchgeführten Langzeitbeobachtung auch das Sterblichkeitsrisiko senkte. Als hätte ein höheres Wesen seine schützende Hand über die Gläubigen ausgebreitet.

Die Studie erregte naturgemäß den Zorn der Atheisten. Kirchen als Jungbrunnen darzustellen, wäre ein Wunschtraum, zu dem nur Spinner in der Lage wären, meinten sie. Dem hielten die verantwortlichen Wissenschaftler entgegen, dass die Probanden eben an etwas glaubten, und schon allein diese Gewissheit brächte inneren Frieden. Doch dazu wie angekündigt mehr im zweiten Teil.

Absurderweise haben sich im Internet auch Hunderte digitale Möglichkeiten etabliert, Abbitte zu leisten, etwa auf www.beichthaus.com: Sünde wählen, Klick, dann die Vergehen im Raster definieren. Aggression, Begehrlichkeit, Eitelkeit, Faulheit, Fremdgehen, Lügen, Masturbation, Schamlosigkeit, Trägheit, Trunksucht, Vandalismus, Verschwendung und Verrat.

Per E-Mail kann der Sünder präzisieren, was er sich im Detail vorwirft beziehungsweise was er verbrochen hat. Was natürlich nicht funktioniert. Der dunkle Monolith bleibt dabei im Kopf. Es braucht die persönliche menschliche Interaktion, um ihn aufzulösen. Nur der Dialog von Mensch zu Mensch reinigt die Seele und den Körper gleich mit dazu.

Zu den großen Vorteilen des sich Mitteilens bei unserem Versuch, gut zu sein, gehört, dass wir damit eine Ventilfunktion bedienen. Es federt den Zorn ab, den wir andernfalls vielleicht an anderen auslassen, was uns zwangsläufig zu schlechten Menschen machen würde. Auch hier sind einige positive medizinische Begleiterscheinungen evident, die ich vorwegnehmen möchte: Forscher fanden heraus, dass sich gewisse Formen von Autoimmunkrankheiten als sogenannte Autoaggressionskrankheiten interpretieren lassen. Sie entstehen, wenn Zorn oder Wut nicht ausgedrückt werden. Stattdessen sorgen sie dafür, dass sich unsere Physiologie und unsere Biochemie gegen uns selbst richten. Wie eine Strafe, die wir uns selbst auferlegen.22

Die Beichte, wem gegenüber wir sie nun auch ablegen, ist also ein Geständnis, das nur gute Folgen hat. Ein Lächeln, eine Linderung. Belastungen fallen ab, Bürden verschwinden. Trost stellt sich ein. Wir sind erlöst und nun erst recht bereit, gute Menschen zu sein.

Ebenso wie wir dafür aus einem Kreis unterschiedlichen Vertrauenspersonen wählen können, wählen viele Menschen dafür auch besondere Orte aus. Die Kirche, das Sofa eines Psychotherapeuten, die Natur. Besonders beliebt ist der Berg Athos. Er bildet eine orthodoxe Mönchsrepublik mit autonomem Status unter griechischer Souveränität in Griechenland. Mein Arztkollege Prof. Rudolf Likar und ich besuchen ein Kloster, das hoch in den Bergen liegt und in der Dämmerung wie ein Geheimversteck aus einem alten James-Bond-Film wirkt, einmal im Jahr. Der russische Präsident Wladimir Putin selbst ließ es einst revitalisieren und besucht es auch. Die Räume glänzen in Gold und es sind kontemplative Tage, die man dort verbringt, mit Beichte, Fasten, Meditation und Gebet. Erwünscht sind nur Männer, Frauen dürfen den Berg Athos leider nicht betreten. Besucher aus allen sozialen Schichten finden sich dort ein, orthodoxe Büßer ebenso wie Verbrecher aus Russland.

 

Bei der Beichte sitzt ein Priester vorne im Saal. Alle singen. Jeweils ein Mann steht auf, geht nach vorn und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der Priester legt ihm seine eigene Stola um, spricht ihn frei und zieht die Stola wieder weg. Dabei wird vielleicht eine besondere Energie frei, die alle im Saal zu spüren vermeinen.

Beichten als regelmäßige Übung könnte uns sogar vor Krankheit schützen und macht uns als Menschen besser. Probieren Sie’s aus.

Charakterfitness-Trainingsstufe drei:
Pflege den Kompromiss

In unserer von Egomanie geprägten Gesellschaft hat sich der Kompromiss den Ruf als etwas erworben, bei dem beide verlieren. In Wirklichkeit ist er viel mehr als eine Vereinbarung mit wechselseitigen Vor- und natürlich auch Nachteilen. Er ist ein Grundprinzip der Evolution und als Muster tief in unserem Genom eingeschrieben. Denn wir sind nichts anderes als der Kompromiss zwischen den Genen unserer Eltern. Wenn wir uns im Kompromiss üben, üben wir uns in nichts Geringerem als dem Einhalten der Verfassung der Natur.

Lange war ich Mitglied der Bioethikkommission, die der vormalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel eingerichtet hatte. Sechs Jahre davon leitete ich sie auch. Die Essenz aus der schönen Tätigkeit steckt im Wort Kompromiss. Sich einigen auf etwas Gemeinsames, statt stur auf dem Eigenen zu beharren.

Singuläre Kurzsichtigkeit führt immer über eine Einbahnstraße an eine Wand. Sackgasse. Ende. Hier geht es nicht weiter.

Gute Menschen zeichnet das Zugehen auf Menschen mit anderer Gesinnung aus. Annäherung ist ein Zeichen des Verständnisses. Kompromissbereitschaft ist der rote Teppich des Respekts.

Kooperation ist die einzige Verhaltensweise, die immer zum Erfolg führt. Zusammenarbeit auf allen Ebenen macht Individuen, Gruppen, ganze Staaten und Kontinente fitter und erfolgreicher. Wer auf andere zugeht, Wünsche und Vorstellungen respektiert und den Mittelweg der Vernunft sucht, kommt ans Ziel. Vielleicht nicht immer schnell, aber dafür sicher.

Die Evolution ist seit Millionen Jahren voller Kompromisse. Es geht also, wenn wir wollen. Jeder einzelne Mensch ist ein Kompromiss, und zwar der zwischen den Genen seines Vaters und den Genen seiner Mutter.

Die biologische männliche Rolle ist es dabei, das Kind möglichst groß, stark und robust zu machen. Die väterlichen Gene haben den Ehrgeiz, das Baby wachsen zu lassen und nehmen auf die Mutter, die es auszutragen hat, wenig Rücksicht. Bei der biologischen weiblichen Rolle kommt hinzu, dass die Mutter überleben will und muss, damit auch das Kind überleben kann. Das Kind darf also nicht zu groß, zu stark und zu robust für ihren Körper werden. Die mütterlichen Gene versuchen also, den schwangeren Körper der Frau zu schützen.

Die Überlebens-Gene des Vaters und die Schutz-Gene der Mutter bilden also einen Kompromiss zwischen »Das Kind soll groß und stark werden« und »Ja schon, aber überleben möchte ich bitte auch.«

Diesen Mega-Kompromiss gibt es seit 300 Millionen Jahren. Seit damals schlüpfen die Nachkommen einer Art nicht mehr ausschließlich aus Eiern, sondern bei einigen Arten werden sie im Körper groß. Dieser Kompromiss ist in uns verankert, in jeder Zelle, in unserer kompletten DNA. Wir sind sozusagen ein genetischer Überlebenspakt zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip in der Evolution der Säugetiere.

Die Evolution entschloss sich auch beim Vorgang der Geburt zu einem Kompromiss. Auf der einen Seite wünscht sie sich möglichst viele Exemplare einer Spezies. Eine Frau soll also möglichst viele Kinder gebären. Dem gegenüber steht der nahezu unerträgliche Schmerz, den Frauen während der Wehen und der Geburt erleben. Einmal und dann nie wieder wäre ihre folgerichtige Entscheidung danach.

Der Kompromiss, den die Evolution hier schloss, ist fast ein wenig unfair. Okay, sagte sie, ich kann dir den Schmerz nicht nehmen, aber ich kann immerhin dafür sorgen, dass du ihn vergisst. Sie schuf ein eigenes Hormon, das die Erinnerungen an die Wehen und an die Schmerzen der Geburt einfach ausradiert.

Obwohl die Fortpflanzung für die Evolution den höchsten Stellenwert hat, geht sie selbst hier Kompromisse ein, bei denen sie notfalls auf Nachwuchs verzichtet. Das tut sie dann, wenn es um altes gegen neues Leben geht. Wenn sie den Eindruck gewinnt, dass die Frau zu wenige Ressourcen hat, um eine Geburt zu überstehen, zum Beispiel zu wenig Energie oder zu wenig Gewicht, stellt sie die Fortpflanzung im Körper der betreffenden Frau bis auf Weiteres ruhig. Die Frau hat keine Regel und keinen Eisprung mehr.

Unser Körper ist voller Kompromisse, ohne die das System Mensch nicht funktionieren würde. Doch der Kompromiss ist nicht nur das grundlegende biologische Erfolgskonzept. Auch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft gewinnen auf Dauer immer nur die, die von ihrer Sturheit ablassen, einlenken und mit anderen einen gemeinsamen Weg finden.

Frieden ist immer ein einziger Kompromiss

Der erste Friedensvertrag der Geschichte ist im Gebäude der Vereinten Nationen in New York ausgestellt. Unterschrieben haben ihn am 10. November des Jahres 1259 v. Chr. Pharao Ramses II. und der hethitische Großkönig Hattušili III.23 Beide Herrscher erkannten einander mit dem Vertrag als gleichrangige Partner an. Als solche versprachen sie sich wechselseitig militärischen Beistand gegen innere und äußere Bedrohungen. Somit waren sie gemeinsam stärker. Dass dieser Vertrag an einem so exponierten Ort zu bewundern ist, hat gute Gründe. Kompromisse und die menschliche Fähigkeit dazu schaffen Zuversicht, und Zuversicht gibt Kraft, die Zukunft zu bewältigen.

Ein besonders interessanter Friede war der Westfälische. Er umfasste zu viele und so weitreichende Kompromisse, dass ihm Juristen bis heute hohe historische Bedeutung beimessen. Wobei dieser Friede auch ein erzwungener war. Denn alle Kriegsparteien waren am Boden und konnten einfach nicht mehr. Kompromisse zu schließen war die einzige Möglichkeit, wie es irgendwie weitergehen konnte. Wobei sich angesichts der derzeitigen Entwicklung der Welt der Gedanke aufdrängt: Fangen wir doch besser gleich jetzt zu reden an als später, wenn schon alles kaputt ist.

Erfolgsmodell Kooperation

Die Grundlage für das Schließen von Kompromissen ist die Bereitschaft zur Kooperation. Wer kooperieren will, muss meist Kompromisse schließen, und wer Kompromisse schließt, will meist kooperieren. Interessante Hinweise auf die Erforschung der Kompromissbereitschaft gibt das sogenannte Gefangenendilemma.

Das Gefangenendilemma ist ein mathematisches Spiel aus der Spieltheorie. Es modelliert die Situation zweier Gefangener, die beschuldigt werden, gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. Ein Staatsanwalt verhört die beiden Gefangenen einzeln. Sie können also nicht miteinander kommunizieren. Leugnen beide das Verbrechen, erhalten beide eine niedrige Strafe, da ihnen nur eine weniger streng bestrafte Tat nachgewiesen werden kann. Gestehen beide, erhalten beide wegen ihres Geständnisses eine hohe Strafe, aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur einer der beiden Gefangenen, geht dieser als Kronzeuge straffrei aus, während der andere als überführter, aber nicht geständiger Täter die Höchststrafe bekommt.

Das Dilemma besteht nun darin, dass sich jeder Gefangene entscheiden muss, entweder zu leugnen, also mit dem anderen Gefangenen zu kooperieren, oder zu gestehen, also den anderen zu verraten, ohne die Entscheidung des anderen zu kennen. Das letztlich verhängte Strafmaß richtet sich allerdings danach, wie die beiden Gefangenen zusammengenommen ausgesagt haben und hängt damit nicht nur von der eigenen Entscheidung, sondern auch von der Entscheidung des anderen Gefangenen ab.

Die auf Dauer für alle Beteiligten erfolgversprechendste Strategie ist die Kooperation. In Experimenten waren viele Mitspieler dazu auch bereit. In einem mit vierzig Mitspielern, die jeweils zwanzig Spiele paarweise absolvierten, betrug die Kooperationsrate im Durchschnitt allerdings doch nur relativ bescheidene 22 Prozent.

Schon Aristoteles hielt allerdings in der Nikomachischen Ethik fest: »Die beste Art Freundschaft erfordert ein Verhältnis unter Gleichrangigen, das ein wechselseitiges Geben und Nehmen ermögliche.«

Kooperation heißt demnach immer, dass wir einen Preis zahlen, um einem anderen einen Nutzen zu verschaffen. Auf diese Art erkaufen wir uns selbst Nutzen sowie Reputation. Reputation spielt dabei eine bedeutendere Rolle, als wir zunächst glauben würden.

Wir opfern zum Beispiel wertvolle Zeit, um einem Fremden zu helfen und nehmen dafür in Kauf, zu einem wichtigen Termin zu spät zu kommen. Wir bauen so aber auf lange Sicht eine Reputation auf, die mehr wert ist, als sie an Zeit gekostet hat.

Denn niemand verweigert gerne einer Person mit hoher Reputation Hilfe, das schadet der eigenen Reputation ganz besonders. Bei egoistischen Personen mit geringem Ansehen ist das etwas anderes. Ihre Bitte um Hilfe können wir viel eher unbeschadet ignorieren.

Das gilt übrigens nicht nur für jeden einzelnen Menschen, sondern auch für Gruppen und für Gruppen von Gruppen bis hin zu Staaten. Wenn Griechenland Hilfe braucht, ist die Staatengemeinschaft zur Stelle. Wenn ein Schurkenstaat Hilfe braucht, wendet sie sich ab und denkt, dass die jeweilige Regierung besser die Lehren aus der Not ziehen sollte.

Interessant ist hier übrigens auch der medizinische Zusammenhang von Kooperation und Kapital. Wenn wir uns mit etwas eine gute Reputation verschaffen, werden im Belohnungszentrum des Gehirns dieselben Schaltungen aktiv wie beim Geldverdienen. Reden ist Silber, Schenken ist Gold.

Faule Kompromisse

Hinter Kompromissen können sich also immer auch egoistische Abwägungen verbergen, was immer noch besser ist als Krieg. Allerdings gibt es auch faule Kompromisse, etwa zwischen Ethik und Pragmatik, zu denen es immer dann kommt, wenn der Zweck die Mittel heiligen soll. Kann der Zweck die Mittel überhaupt heiligen, und wenn ja, inwieweit heiligt er sie?

Im Zuge der Corona-Krise etwa tauchte die Frage auf, ob individuelle Freiheitsrechte aus Gründen der Staatsräson beschnitten werden dürfen. Heiligt der Zweck wirklich die Mittel oder bekommen wir irgendwann auf jeden Fall die Rechnung dafür präsentiert, in Form einer Erosion unserer Zivilgesellschaft?

Ein Beispiel aus der Vergangenheit ist die Exekution Osama bin Ladens. Die emotional verständliche, aber rechtsstaatlich fragliche Ermordung eines Terrorchefs, die per Video ins Oval Office von Barack Obama übertragen wurde, ist zumindest diskussionswürdig.

Natürlich hat bin Laden die freiheitliche Seele der Welt verletzt. Amerika drängte darauf, die Mordopfer von 9/11 zu rächen. Aber ein Todesurteil, und das ist der Punkt, kann nicht das Weiße Haus verhängen und, außerhalb von Kriegszeiten, auch nicht das Militär. Natürlich wäre seine Übergabe an ein Gericht der korrekte Weg gewesen. Inwieweit machen sich sogenannte zivilisierte Staaten mit so einem Vorgehen selbst zu Schurkenstaaten, zumindest schleichend? Interessanterweise waren die, die dabei am meisten applaudiert haben, die amerikanischen Medien selbst. Gut so, meinten sie. Yes we can.

Ein anderes Beispiel. Der Dichter Hans Magnus Enzensberger nahm 2013 gemeinsam mit dem deutschen Journalisten Frank Schirrmacher an einer Diskussion teil. Dabei ging es auch um die Frage, ob Staaten Terroristen überwachen dürfe. »In jeder Verfassung der Welt steht das Recht auf Privatsphäre«, sagte er dazu. »Dieses Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung wird abgeschafft. Das heißt, wir befinden uns nicht mehr in einem demokratischen Zeitalter.«

Für Enzensberger heiligt also auch der Schutz der Rechtsstaatlichkeit nicht jedes Mittel. So drängt sich auch nach der Veröffentlichung des sogenannten Ibiza-Videos, an dem 2019 die österreichische Bundesregierung zerbrach, die Frage auf, ob hier der Zweck tatsächlich die Mittel geheiligt hatte. Ob es tatsächlich Ziele gibt, die so bedeutend sind, dass sie die Verletzung des Datenschutzes beziehungsweise der Privatsphäre rechtfertigen. Im Falle von Politikern scheint das Medienrecht das zu bejahen.

Wobei es hier im medienrechtlichen Detail nicht darum geht, dass dieses Video veröffentlicht wurde, sondern wie. Jene Passagen, die Empörung auszulösen in der Lage waren, standen mit Bild und Text im Vordergrund, jene Passagen, in denen die Inkriminierten, vor allem der ehemalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache, betonten, dass sie nichts tun würden, dass gegen die Gesetze sei oder Österreich schaden würde, standen im Kleingedruckten. Die unter medialem Applaus gefeierte Gewichtung Enzensbergers und Schirrmachers der Privatsphäre fanden dabei jedenfalls keine Berücksichtigung.

 

Heiligt der Zweck die Mittel? Bertolt Brecht, ein einflussreicher deutscher Dramatiker, beschäftigte sich ebenfalls mit dieser Frage. 1930 wurde sein Stück Die Maßnahme uraufgeführt. Darin findet sich der Schlüsselsatz: »Wer eine bessere Welt will, muss töten können.« Und zwar mit gutem Gewissen und auch ohne Gerichte.

Die Frage, wie weit die Revolution moralische und rechtliche Grundsätze verletzen darf, um Ausbeutung und Unterdrückung wirksam zu bekämpfen, die Brecht damit aufwarf, war eigentlich an die marxistische, menschenverachtende Terrorherrschaft Lenins und Stalins gestellt. Heute ließe sich der Schlüsselsatz aus Die Maßnahme so formulieren: Wer die Welt von politisch Andersdenkenden befreien möchte, dem sind keine ethischen Grenzen gesetzt, auch nicht in den sozialen Medien und beim Dirty Campaigning.

Heiligt der Zweck die Mittel?

Auch Thomas Mann befasste sich in seinem großen Bildungsroman Zauberberg damit. Anhand der düsteren Figur des Fanatikers Leo Naphta zeichnet er eine Gestalt, die bemüht war, allen Unmenschlichkeiten eine dogmatische Grundlage zu geben. Er schuf damit eine »zweite Ethik«, die den Terror rechtfertigt, wenn damit das Ziel erreicht wird.

Auch heute scheint es eine Tendenz zu geben, die eigene politische Meinung über demokratische Grundlagen zu stellen und so den Zweck die Mittel heiligen zu lassen. So verbot die linke Stadtregierung in Berlin, wo Demonstrationen zum Stadtbild gehören, Corona-Großdemonstrationen und vermischte dabei virologische und weltanschauliche Bedenken. Die Argumente des SPD-Senators Andreas Geisels waren fragwürdig. »Sie wecken Zweifel an der Verfassungstreue des rot-rot-grünen Berliner Senats. Und sie nähren den Verdacht, der Kampf gegen die Pandemie werde missbraucht, um missliebige Meinungen zum Schweigen zu bringen«, hieß es dazu in einem Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung.24

Das alles sind Hinweise darauf, dass wir uns auch als Gesellschaft nie selbstgefällig unseres Gutseins sicher sein dürfen. Auch wir haben den Charakter-Fitness-Parcours dringend nötig. Wenn wir müde werden, ihn zu benützen, erodiert die Zivilgesellschaft tatsächlich.