Das Gesetz des Ausgleichs

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Charakterfitness-Trainingsstufe vier:
Halte die andere Wange hin

Die Königsdisziplin ist das Nachgeben. Auf den ersten Blick sieht es immer so aus, als wären wir damit die Verlierer. Doch eine nähere Betrachtung zeigt, dass das Nachgeben die höchste Form des Kompromisses und damit mindestens ebenso erfolgsversprechend ist. Und würden wir alle, bildlich gesprochen, die zweite Wange hinhalten, statt zurückzuschlagen, würde sich das Gute auf der Welt mit exponentieller Geschwindigkeit ausbreiten.

Ein umfangreicher Teil der Weltgeschichte, nämlich jener des Kriegsgeschehens, lässt sich mit zwei Sätzen erklären: Kriege können entstehen, wenn jemand eine Ohrfeige bekommt und sofort zurückschlägt. Schlägt er nicht zurück, sondern hält er, bildlich gesprochen, die zweite Wange hin, gibt es keinen Krieg. Die Botschaft lautet: Üben wir uns im Nachgeben, denn es verbessert die Welt und bringt uns dem Himmel näher.

Die Kunst besteht darin, Aggressionen, die uns widerfahren, nicht sofort mit Aggression zu beantworten. Das verlangt nach innerer Kraft. Jemand behandelt uns ungerecht, doch wir fahren ihm nicht sofort mit unseren Krallen ins Gesicht, sondern warten, denken nach und zügeln unsere negative Energie. Dadurch bleibt ein Kampf aus. Dadurch erhöhen wir uns. Dadurch wachsen wir über uns hinaus. Dadurch wird die Welt besser. Nachzugeben ist die erweiterte Form des Kompromisses. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes eine Königsdisziplin.

Einlenken tut gut. Das ist wissenschaftlich evident. Wir leben gesünder, wenn wir darauf verzichten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die Studien dazu sind in einer Meta-Analyse zum Thema Herzerkrankungen zusammengefasst. Sie zeigen das Naheliegende: Zorn erhöht das Herzinfarktrisiko signifikant.25

Der Blutdruck steigt rapide an, der Puls hämmert, der Atem wird heiß, die Augen sehen rot. Wer sich wie ein Pitbull auf seinen Widersacher stürzt, versetzt auf Dauer seiner eigenen Gesundheit den Todesstoß. Denn das Herz ist das Organ der Liebe. Es sieht es nicht gerne, wenn der Hass dominiert. Wird der Groll zur treibenden Kraft, gibt das Herz irgendwann auf.

Wir lächeln heute über die Bibelstelle, die uns sinngemäß empfiehlt, die zweite Wange hinzuhalten, wenn uns jemand ohrfeigt. Wie dumm ist das denn? Wer will sich denn auf die Art als Weichei outen? Irgendwann scheinen wir das Gefühl für das Majestätische am Nachgeben verloren zu haben.

Dabei ist die Aggression, derer wir uns gerade in unserer Empörungsgesellschaft so gerne bedienen, nichts weiter als die simpelste Art, einem Zwist zu begegnen. Es ist das Schwert des Stümpers, nicht das Florett des Weisen. Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür, dass Nachgeben die bessere Strategie ist.

Eines davon geben Napoleon Bonaparte und sein Kratzbaum Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Während Napoleon zum Jähzorn neigte, war Talleyrand, ehemals Bischof von Autun, später Außenminister Napoleons und sein engster Berater, ein Ausbund an Selbstkontrolle. Niemals widersprach Talleyrand seinem Herrn, den er auch wie einen solchen behandelte. Ihm wird folgender Satz zugeschrieben: »Ich bin ein alter Parapluie, auf den es seit vierzig Jahren regnet, was macht mir da ein Tropfen mehr oder weniger?«

Überliefert ist eine Szene, in der sich Napoleon mit hochrotem Kopf auf die Zehen stellte, um ganz nahe an das Gesicht des größeren Talleyrand heranzukommen. »Wissen Sie, was Sie sind?«, schrie er ihn an. »Sie sind nichts als Scheiße in Seidenstrümpfen!« Daraufhin rannte der Kaiser aus dem Zimmer, um gleich darauf wieder zurückzukehren und weiter auf seinen Getreuen einzuschreien. Wenn es »eine Revolution, einen Putsch oder sonst irgendwas« gäbe, werde er, Talleyrand, einer der ersten sein, die dran glauben würden. »Merken Sie sich das!«, schrie er.

An dem majestätisch gelassenen Talleyrand perlte derlei ab. »Schade, dass ein so großer Mann so schlechte Manieren hat«, soll er bloß beim Hinausgehen gesagt haben. Napoleon musste dann auch vor ihm »dran glauben«. Als Napoleon nach St. Helena verbannt wurde und dort an Magenkrebs mit Lymphknotenbefall starb, blieb Talleyrand ein Faktor in der Politik. Er diente in seinem politischen Leben sechs Regimen. Zuerst der vorrevolutionären Kirche, danach der Revolution, dem Direktorium, dem Kaiserreich, den Bourbonen und am Ende dem Bürgerkönig Louis Philippe. Das Geheimnis hinter seiner Strategie war, einstecken zu können, ohne auszuteilen. In seiner Branche gibt es dafür auch ein Wort mit zehn Buchstaben: Diplomatie. Der Zornige gewinnt vielleicht eine Schlacht, aber nie den Krieg.26

In dieser Kunst übte sich im Mai 2020 übrigens auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz in bemerkenswerter Weise. Es ging um die Situation der Kunst in der Corona-Krise. In einer Einblendung kritisierte ihn der Direktor des Theaters an der Josefstadt ungewöhnlich hart und teilweise untergriffig. Der Kanzler nickte. »Der Herr Direktor hat recht. Wir werden uns das überlegen.«

Am Sonntag war der Theaterdirektor erneut eingeladen. Der Direktor war nun wie ausgewechselt. Sinngemäß sagte er, dass die Meinung des Kanzlers viele interessante Aspekte habe, dass er sich offenbar ehrlich bemühe und dass man sehen werde, was die Zeit bringe. Besonnenheit, auch wenn sie glatt ist und bloß als politische Methode der Empfehlung von Spin-Doktoren folgt, führt offenbar zu Besonnenheit.

Manche Menschen tun sich damit leichter, andere schwerer. Denn die Ursachen für Jähzorn liegen oft in der Endokrinologie. Sie haben zum Beispiel mit dem Testosteronspiegel zu tun, der bei jedem Menschen genetisch determiniert ist. Mit ihm steigt der Hang zur Aggression. Davon mehr im dritten Teil, in dem wir uns auch mit der Wirkung unseres Hormonhaushaltes auf unser Verhalten und mit der Wirkung unseres Verhaltens auf unsere Hormone befassen werden.

Am Nordufer des Sees Genezareth

Die Geisteshaltung des Nachgebens und Hinnehmens, selbst wenn wir ungerecht behandelt werden, wurzelt im Christentum. Genau genommen entstand sie am Nordufer des Sees Genezareth. Es ist ein magischer Ort mit warmen Quellen, und wo warme Quellen sprudeln, schwimmen meist auch viele Fische, die wiederum Fischer anlocken. Dort, auf einer Erhebung, hielt Jesus Christus die Bergpredigt, vor Fischern, die seine Apostel wurden, und in der er die Sache mit der zweiten Wange erstmals verkündete.

Im Matthäus-Evangelium finden wir die Bergpredigt mit ihrer zeitlosen Gesetzmäßigkeit. Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg, heißt es dort. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie. Dann kommt Jesus zur Sache. Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.

Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Der Verzicht auf Gegenwehr hat freilich auch in der Bibel nichts mit Kapitulation zu tun. Um das zu erkennen, bedarf es einen Blick auf die sprachlichen Feinheiten. Im Griechischen und im Hebräischen bedeutet »keinen Widerstand leisten« eigentlich, »du sollst deine Art überwinden«.

Unsere »Art« meint grob gesagt unseren Egoismus, das von unserem Willen geschaffene Konstrukt unserer Überzeugungen, Ideen und Wünsche, das wir vor uns hertragen, und mit dem wir uns oft genug selbst im Weg stehen. Als der Rabbi Akiba, einer der bedeutendsten Väter des Judentums, gefragt wurde, wie er sein hohes Alter erreicht habe, antwortete er: »Ich habe nicht auf meine Art bestanden.«

Das bedeutet, er konnte nachgeben.

»Leiste keinen Widerstand und lass dich auf die andere Wange schlagen« heißt in Wahrheit »Entledige dich deiner alten Muster, sei nicht dein altes Du, dein erzürnbares Ego, sondern wachse über deine Art hinaus«. Mit Schwäche hat das ganz bestimmt nichts zu tun.

Dass wir diese Art der Demut, die Kunst des Nachgebens, nicht einfach von heute auf morgen lernen können, ist klar. Entscheiden wir uns dafür, wird unser erster Impuls, wenn uns jemand auf die Zehen steigt, wohl trotzdem noch eine Weile kein herzliches Dankeschön sein. Das verlangt Übung. Askese. Und Training der inneren Ausgeglichenheit, denn je unruhiger unser Geist ist, desto leichter lassen wir uns reizen.

Die Feldrede nach der Bergpredigt

In der Feldrede, einem Teil des Lukasevangeliums, in dem Jesus seine Lehre verkündet, klingt die Botschaft ganz ähnlich. Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!

 

Egoismus, der sich im Kleid der Nächstenliebe verbirgt, hat da keine Chance mehr. Der Effekt eines solchen Verhaltens, ins Heute umgelegt, wäre sicht- und messbar. Wir bräuchten weniger Rechtsanwälte und würden unser Herz-Kreislauf-System entlasten. Mahatma Gandhi hat gezeigt, dass sich damit auch Politik machen lässt. Gewaltlos lässt sich die Welt verändern. Das gilt für jeden Menschen und jedes politische Problem. Würden wir das Wangen-Gebot im Nahen Osten einhalten, gäbe es dort möglicherweise schon Frieden. Das ist die große Conclusio: Böses mit Bösem zu vergelten, führt zu einer exponentiellen Ausbreitung des Bösen. Böses mit Gutem zu vergelten, führt zu einer exponentiellen Ausbreitung des Guten.

Umso nachdenklicher stimmt es, wenn die Symbole dieser Botschaft in Flammen aufgehen. In Frankreich und Amerika brennen immer öfter Kirchen und Heiligenstatuen werden geköpft.27 Weltweit werden immer mehr Christen verfolgt. Wer darüber spricht, wird schnell als islamophob oder rechtsextrem gebrandmarkt.28 Und Brüssel schweigt dazu.

Charakterfitness-Trainingsstufe fünf:
Höre auf den Wald

In der Natur liegt eine Kraft, die uns zu besseren Menschen macht. Wenn wir uns mit ihr vereinen, vereinen wir uns letztlich auch mit uns selbst und mit einem größeren Ganzen, das uns die Dinge relativer sehen lässt. Doch Natur ist mehr als Blumen, Wald und Wiesen. Uns die Natur bewusst zu machen und uns mit ihr zu vereinigen, hat auch etwas mit Viren zu tun, ohne die es uns gar nicht gäbe.

Das Dekameron ist der Titel einer Novellensammlung des italienischen Autors Giovanni Boccaccio, einem Stück Weltliteratur.29 Die Handlung: Als im 14. Jahrhundert in Europa die Pest wütet, fliehen zehn junge Edelleute, sieben Frauen und drei Männer, in ein von üppigen Gärten umgebenes Landhaus bei Florenz und vertreiben sich die Zeit, indem sie einander zehn Tage lang Geschichten erzählen.

Die Flucht in die Natur, auch Retreat genannt, ist wieder massentauglich geworden. Sie hat den Rang eines spirituellen Rückzugs aus dem Alltag und dient als Ruhepause für Körper und Geist. Man fährt aufs Land und lässt die Seele in den Himmel schauen. Man macht kreative Seminare und erweitert den Horizont. Der Wald heilt. Bäume sind gute Ärzte. Dass das keine verträumte Romantik einiger Esoteriker ist, die barfuß über die Wiese hopsen und Bäume umarmen, zeigen Wissenschaft jede Menge Fachliteratur.

Eine Studie aus Dänemark besagt: Wer in seiner Wohnung von Grün umgeben ist, hat ein um 55 Prozent geringeres Risiko, an psychischen Problemen zu erkranken. Eine amerikanische Studie bestätigt: Nur dreißig Minuten im Grünen senken den Cortisolspiegel bereits deutlich. Eine britische Studie ergab: Ausgeglichenheit und Wohlbefinden sind dann am größten, wenn wir mindestens zwei Stunden pro Woche im Freien verbringen. Eine japanische Studie wiederum ergab: Der Mensch hat mehr Immunzellen, wenn er die Nacht über eine Luft einatmet, die aus dem Wald kommt. Das stärkt die natural killer cells, die durch Terpenoide gestärkten, natürlichen Killerzellen. Und eine Studie aus Pennsylvania, schon von 1993, belegte: Wenn wir von einem Krankenzimmer aus ins Grüne blicken, ist die Heilungswahrscheinlichkeit viel größer. Ähnlich eine Arbeit über Gefängnisinsassen: Die Aggressionen werden weniger, wenn die Häftlinge ins Grüne können, etwa indem sie in einem Park spazieren gehen.30

Wir dürfen nicht vergessen, es gibt den Homo sapiens seit dreihunderttausend Jahren, das sind zehntausend Generationen. Wir tragen deshalb das Genprofil der Natur in uns. Glück und Furcht zum Beispiel. Wenn wir eine Schlange sehen, sind wir verängstigt. Aber wenn ein Rowdy in seinem Sportwagen mit 150 Sachen an uns vorbeirast, schreckt uns das kaum.

Die universelle Schönheit

Gewisse Gefühle sind im Erbgut verankert, bei allen Menschen. Die Schönheit der Natur, ein weißer Sandstrand, ein Wasserfall, ein Sonnenuntergang, ein See, ein Bergmassiv im Morgenlicht. Warum empfinden wir manche Landstriche als besonders schön? Der Forschungsreisende Alexander von Humboldt fragte sich das schon im 18. Jahrhundert.

Eine Arbeit aus dem Max-Planck-Institut gibt heute Antwort darauf. Bei der Kunst existieren unterschiedliche Geschmäcker, aber ob die Natur schön ist oder nicht, beantworten alle Menschen gleich. Für das Leuchten des Planeten hat jeder das gleiche Empfinden. Glück und Natur liegen nah beieinander.

Deswegen ist, was wir heute gardening nennen, nichts anderes als eine Therapie für Körper und Seele.31 Es baut Stress ab, fördert körperliche Aktivität und bringt rasch ein Erfolgserlebnis. Sich mit der Erde zu beschäftigen, Dinge anzupflanzen, wachsen und sprießen zu sehen, das ist schön. Wir lieben das Graben und Anbauen und Warten, bis die Saat gedeiht. Jeden Tag zeigt sich die Natur dabei von einer anderen Seite. Der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm fasste es in einer These zusammen, in der sogenannten Biophilie, der »leidenschaftlichen Liebe zum Leben und allem Lebendigen«.

Wir fühlen uns am lebendigsten, wenn wir mit der Umwelt in Verbindung treten. Wenn wir in der Natur sind, ändern sich die Gehirnströme. Der Körper schüttet nicht nur weniger Stresshormone aus, auch das Herz schlägt ruhiger. Studien zeigen, dass wir in Parks und baumbewachsenen Straßen langsamer gehen. Wir sind dort sogar freundlicher zu anderen. Wenn wir uns zum Teil der Natur machen, sehen wir das Leben als Ganzes und nehmen uns nicht so wichtig. Die Natur macht uns zu besseren Menschen.

Auch Viren sind Natur

Weil, während ich das im Sommer 2020 schreibe, die COVID-19-Pandemie eine tiefe Angst vor Viren geweckt hat, sollten wir uns an dieser Stelle kurz daran erinnern, dass auch sie ein Teil der Natur sind, und zwar ein wesentlicher. Ohne Viren gäbe es uns nicht. Sie sind schon viel länger auf der Erde als wir, rund zwei Milliarden Jahre lang. Nicht sie waren die Eindringlinge auf diesem Planeten, sondern wir waren es, denn die Viren hatten es sich hier bereits gemütlich gemacht, lange bevor wir kamen. Wahrscheinlich werden sie auch noch da sein, wenn wir Menschen längst wieder ausgestorben sind. Das heißt, dass sie uns nicht brauchen, wie wir vielleicht denken. Im Gegenteil. Wir brauchen sie. Wir verdanken ihnen sogar unsere Existenz.

Lassen Sie uns, um das besser zu verstehen, ein paar Jahre in die Vergangenheit und dort durchs Mikroskop schauen. Es war wirklich eine große Enttäuschung, als der amerikanische Biochemiker und Unternehmer Craig Venter das menschliche Genom dechiffrierte hatte und, in Anwesenheit des amerikanischen Präsidenten, erkennen musste, dass der Mensch gerade einmal 20.000 Gene hat. Der einfache Reis hat doppelt so viele, der Weizen fünf Mal so viel. Die Krone der Schöpfung, das vermeintlich großartigste Lebewesen, hatte einen läppischen Genpool.

Woraus bestehen wir dann letzten Endes? Aus Knochen, Knorpeln und Körpersäften? Aus guten Ideen? Wie konnten wir zu einer so dominanten Spezies werden?

Ein überraschendes Ergebnis des Humangenomprojekts, das 1990 mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, das menschliche Genom vollständig zu entschlüsseln, war, dass große Teile unseres Erbguts von Viren stammen.32 Diese viralen Sequenzen machen mehr als die Hälfte unseres gesamten Genoms aus. Es ist ein Patchwork zwischen Viren und Mensch.

Die viralen Anteile stammen überwiegend von sogenannten Retroviren, die die Vorfahren des Menschen infizierten und es dabei schafften, ihr Erbgut dauerhaft in das Genom ihres Wirtes einzubauen. Viren waren also unsere ersten Kooperationspartner, denen wir verdanken, wie wir aussehen, wie wir sind und was wir können.

Es sieht fast so aus, als hätten wir über die Viren die Qualitäten früherer Lebewesen eingesammelt und für uns nutzbar gemacht, als hätten wir damit in einer Art Evolutionsarchiv die Weisheit der Erdgeschichte in uns aufgenommen.

Durch Viren haben in erster Linie die Bakterien, aber auch andere, einfache Lebewesen immer neue DNA und RNA geschenkt bekommen. Das bedeutet, Viren sorgten für evolutionäre Fortschritte, und interessanterweise sind es auch Viren, die uns, kurz gesagt, vor Viren schützen. Die guten schützen uns vor jenen, die uns schaden. Denn Viren wehren sich gegen Viren, indem sie eigene Strategien entwickeln. Sie betreiben taktische, biochemische Kriegsführung, als kleine Generäle mit großem Wirkungsbereich.

Viren sind also keineswegs nur unsere ausgewiesenen Feinde und jene Krankmacher, als die sie heute gelten. Respektsabstand zu ihnen zu halten, ist trotzdem erforderlich. Es geht hier nicht um den Babyelefanten, der mit dem oft kindischen Getöse um die COVID-19-Pandemie bekannt wurde. Es geht um einen gedanklichen Respektsabstand. Viren sind keine Kuscheltiere. Wer zu leutselig mit ihnen umgeht, wird funktionell überrannt.

Die Natur, Lehrmeisterin und Förderin auf unserem Weg, gute Menschen zu sein, besteht also aus mehr als Wiesen, Blumen und Wäldern. Das müssen wir auf dem Charakter-Fitness-Parcours verstehen: Eins mit der Natur zu werden, heißt, eins mit uns selbst zu werden. Wenn wir das schaffen, tragen wir nicht nur zu unserem Glück, sondern zum Glück der Welt bei. Das ist das Biophilia-Gesetz.

Der Respekt vor der Natur

Machen wir an dieser Stelle noch einen kleinen Vorgriff auf den zweiten Teil, in dem es, wie gesagt, darum geht, welchen Nutzen es uns bringt, gut zu sein, und welchen Schaden es bringen kann, wenn wir es nicht sind. Gut zu sein heißt, wie schon angedeutet, nicht nur gut zu unseren Mitmenschen zu sein und sie zu achten, sondern auch gut zur Natur zu sein und sie zu respektieren.

Wiederholt haben Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass die COVID-19-Pandemie zustande kam, weil wir die Grenzen zwischen Tier und Mensch überschritten haben. Das war wahrscheinlich immer schon ein Problem, seit Menschen sesshaft sind und Tierzucht betreiben, aber heute ist es offensichtlich so, dass das Übermaß mehr Probleme schafft. Wir kriegen den Rand nicht voll.

Obwohl wir es besser wissen sollten: Das Grippe-Virus kommt von den Schweinen und das hoch ansteckende Rotavirus, die weltweit häufigste Ursache für schwere Durchfallerkrankungen bei Säuglingen und Kindern, von den Kälbern. Wir importieren solche Erreger, seit wir Ackerbau, Viehzucht und vor allem Völlerei betreiben aus dem Tierreich.

Viren mögen unsere ersten und vielleicht wichtigsten Kooperationspartner sein, doch sie können zu Raubtieren werden, wenn wir die Balance stören. Was das bedeuten kann, hat Professor Harald zur Hausen herausgefunden. Er entdeckte, dass Viren Krebs auslösen können und erhielt dafür den Nobelpreis. Er ist auch fest überzeugt davon, dass im Fleisch, das wir essen, so viele RNA-Bestandteile sind, dass deren Konsum für das Kolonkarzinom mitverantwortlich ist. Kurzum: Rotes Fleisch kann Darmkrebs verursachen.33

Am fünften Tag schuf Gott der biblischen Schöpfungsgeschichte zufolge das »Getier« und er gab uns, die er demnach erst tags darauf schuf, den Auftrag, damit wie mit der gesamten Natur respektvoll umzugehen. Was wir nicht tun. Die industrielle Tierhaltung ist nach den von Menschen an Menschen begangenen Genoziden eines der großen Menschheitsverbrechen. Die Industrie und wir alle als Konsumenten begehen es bloß nicht aus böser, unmittelbarer Absicht, sondern aus Gier und Fresslust. Die Folgen mildert das nicht.

Wir produzieren dabei Tote auf vielfältige Weise. Durch die Zivilisationskrankheiten, die mit übermäßigem Fleischverzehr einhergehen. Durch die genannten Krankheiten, die aus dem Tierreich auf Menschen übergesprungenen sind. Durch die Vernichtung von Regenwäldern, um Anbauflächen für Futtermittel zu schaffen. Durch mangelnde Anbauflächen für den Kampf gegen den Hunger auf der Welt, weil wir sie als Weideland verwenden. Durch die Treibhausgase, die die derzeit lebenden eine Milliarde Rinder, 600 Millionen Schweine und 50 Milliarden Hühner in die Atmosphäre absondern. Durch die Vergiftung des Grundwassers durch tierische Exkremente sogar schon in der bisher noch heilen Welt der Berge und Almen, weil Bauern selbst dort extensive Viehwirtschaft betreiben.34

 

Zählen wir die Opfer zusammen, die das alles schon gefordert hat und die es noch fordern wird, dann sind das bei Weitem mehr als die Opfer aller Genozide zusammen. Ganz abgesehen davon, dass das alles das Zeug hat, unser Ökosystem kollabieren zu lassen und damit die sogenannte Carrying Capacity des Planeten zu reduzieren. Sinkt sie in einem durchaus realistischen Katastrophenszenario zum Beispiel auf fünf Milliarden, heißt das, dass drei Milliarden Menschen sterben müssen, weil der Planet sie einfach nicht mehr ernähren kann.

Dazu noch einige Fakten: Shefali Sharma vom Institute for Agriculture and Trade Policy wies 2018 in einer Studie nach, dass die fünf weltweit größten Fleisch- und Molkereikonzerne zusammen mehr Treibhausgas-Emissionen verursachen als die drei größten Ölkonzerne Exxon Mobil, Shell und BP zusammen.35

Eine deutsche Studie zeigte 2015, dass 88 Prozent von 57 Putenfleischproben antibiotikaresistente Keime enthielten.36 Eine 2020 publizierte Studie der Northwestern Medicine and Cornell University ergab, dass Personen, die mehrmals pro Woche rotes oder verarbeitetes Fleisch essen, ein bis zu sieben Prozent höheres Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung und eines frühzeitigen Todes haben.37

Andere Studien zeigten einen Zusammenhang zwischen Fleisch und Krebserkrankungen, Übergewicht und Depressionen. Letzten Endes sieht die Rechnung so aus: Der Profit aus der Nahrungsindustrie wirkt sich direkt proportional auf unseren Körper, unseren Geist und den ganzen Planeten aus.

Es wäre Unfug zu behaupten, dass Gott uns damit bestraft für unsere krassen Verstöße gegen die Regeln, die er uns in seiner Heiligen Schrift, der Bibel, mitgegeben hat. Es scheint aber doch so zu sein, dass diese Heilige Schrift in Teilen die uralte Verfassung der Natur abbildet. Eine Verfassung, in der alles mit allem verbunden ist und die deshalb gerade uns Menschen, die wir durch unsere Vielzahl und unsere Erkenntnisfähigkeit alles dominieren, Respekt abverlangt. Man könnte es so formulieren: Wir bestrafen uns selbst, wenn wir diese Verfassung mit Füßen treten. Die Industrie, indem sie alles andere ihrer Gewinnmaximierung unterordnet, und wir alle, indem wir möglichst viel möglichst billiges Fleisch essen wollen. Vielleicht straft uns nicht Gott dafür, aber die Natur rächt sich, und wir sehen das noch immer viel zu wenig.

Woraus sich die Frage nach den Alternativen ergibt. In einer Milliardenindustrie, die vegane fleischähnliche Lebensmittel mit fragwürdigen gesundheitlichen Aspekten herstellt, können sie kaum bestehen. Die Alternativen ließen sich, da wir nun schon einmal dabei sind, auch aus der Bibel ableiten. Gott der Herr setzte den Menschen in den Garten, dass er ihn bebaue und bewahre, heißt es darin. Respekt vor der Natur gebietet uns also, die Balance zu halten. Als Allesfresser brauchen wir Fleisch, doch es muss darum gehen, wie viel davon wir brauchen, welches wir essen wollen und wie wir es herstellen.

Konrad Lorenz, der österreichischer Zoologe, Medizin-Nobelpreisträger und Hauptvertreter der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung, war oft bei meinem einstigen Arbeitgeber und Mentor, dem Wiener Kardinal König, zum Mittagessen geladen. Obwohl Lorenz Atheist war, unterhielten sich die beiden immer angeregt. »Es ist der Balanceakt, der den Menschen fehlt«, sagte Lorenz.

Der Balanceakt, den Lorenz meinte, ist es, was uns zu guten Menschen und im Sinne des in der Verfassung der Natur verankerten Gesetzes des Ausgleichs auch zu glücklichen Menschen macht, die gesund, im Wohlstand und in Harmonie mit ihren Mitmenschen, mit sich selbst und mit der Natur leben.