Die Anatomie des Schicksals

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Weise Frauen

Doch schon in der Antike gab es eben auch einen anderen Blickwinkel.

Eine Perspektive sind die Moiren, drei Frauen, fürs Schicksal zuständig. Obwohl die wirklichen Götter allesamt Männer waren, waren die Schicksalsgöttinnen immer Frauen. Sie vereinen Geburt und Tod.

Es wird in diesem Buch noch viel von der Geburt, von der Schwangerschaft, von der Zeit vor der Schwangerschaft und von der Schicksalhaftigkeit dieser Lebensphase die Rede sein. In den Moiren ist sie schon vorweggenommen.

Die drei Moiren bestimmen über unser aller Leben. Klotho, die Spinnerin. Sie ist es, die unseren Lebensfaden spinnt. Lachesis, die Zuteilerin, misst diesen Lebensfaden und teilt das Lebenslos zu. Atropos, die Unerbittliche, schneidet den Lebensfaden ab.

Die ihnen zugeteilten Attribute sind die Spindel, das goldene Messer und eine Wasserschale, aus der die Zukunft gelesen werden kann. Spannend, die weibliche Weitsicht. Klotho als Jungfrau, Lachesis als Mutter, Atropos als alte Frau. Man hat das Schicksal damals schon gegendert.

Das ewig Weibliche zieht uns nicht zuletzt deswegen an, weil es mit der Entstehung des Lebens und daher mit der Entstehung des Schicksals verbunden ist. Leben und Schicksal sind Synonyme.

Die Götter sind in der griechischen Mythologie dem Wirken der Moiren unterworfen, sie haben keine Gewalt über die Schicksalsfrauen. Selbst Zeus, der Göttervater, kann nicht hineinpfuschen und keine ihrer Entscheidungen widerrufen.

Die Kernaussage ist: Die Moiren sind immer lebenswegzeichnend. Sie bestimmen das Schicksal. Aber – es ist nicht unausweichlich. Kommt ein Mensch dem Tod vor seiner ihm bestimmten Zeit sehr nahe oder plant er Dinge, die mit seinem oder dem Schicksal anderer nicht übereinstimmen, können ihm die Moiren warnende Gedanken schicken.

Wir hören dieses: Obacht! Wir sagen »innere Stimme« dazu oder Gewissen. Der Stimme des Herzens zu folgen, ist in diesem Sinne existenziell wichtig. Wer dagegen handelt, verschuldet möglicherweise sein weiteres Schicksal selbst.

Mit dem Segen der Moiren können Menschen ihr Schicksal beeinflussen. Und zum Guten wenden. Darum arbeiten die drei eng mit Nemesis, der Göttin des gerechten Zorns, der Vergeltung, zusammen. Und mit Aidos, der Göttin des Gewissens.

Auch die Mutter schickt warnende Gedanken, das ist ebenfalls nicht uninteressant. Und mit diesen Gedanken, hat man sich vorgestellt, kann man möglicherweise in das Schicksal eingreifen. Die Warnung mag nicht direkt in den Geist fahren wie eine Erleuchtung oder ein Download aufs Handy. Es genügt ein leises Gefühl, dass da etwas nicht richtig ist. Irgendetwas stimmt nicht.

Zwei Aspekte ziehen sich bildhaft bis in die Moderne: die Nemesis, der Zorn, und Aidos, das Gewissen. Mit beiden agiert der Mensch. Er schneidet sich möglicherweise selber den Lebensfaden ab, im Zorn. Einhalt gebietet nur das Gewissen, das empfiehlt, nicht blind loszupreschen, sondern ein paar Schritte zurückzutreten oder innezuhalten.

Das Schicksal bereitet sich vor, es ist ein longitudinaler Prozess, und die Gedanken spielen eine enorm wichtige Rolle dabei, denn aus den Gedanken kommen die Taten, im schlimmsten Fall sogar die Schicksalsschläge und Katastrophen. Unsere Gedanken, um die es in diesem Buch auch noch ausführlich gehen wird, können der rote Teppich sein, auf dem das Schicksal in unser Leben stolziert. Sein Beginn ist oft nichts anderes als etwas Gedachtes, nichts als Energie.

Die Botschaft ans Universum, könnte man sagen. Sie kommt an wie eine E-Mail an den lieben Gott.

Gute Politik, schlechte Politik

Schicksalhaft ist es aber zum Beispiel auch, in welchem Staatsgefüge wir leben. Ist es ein guter, sozialer, gerechter, ein lebenswerter Staat oder das Gegenteil davon? Ein höchst moderner Aspekt, aber bereits das älteste Epos der Welt widmete sich ihm. Ein 4.000 Jahre alter Text, geschrieben auf Sumerisch. Entdeckt wurden die Tafeln im heutigen Irak. Das älteste Epos der Menschheitsgeschichte. Das Gilgamesch-Epos.

Im Gilgamesch-Epos, das übrigens bereits etwas thematisiert, was derzeit in Silicon Valley Hochkonjunktur hat, nämlich die Relativierung der Todesangst und des Sterbens, war es schicksalhaft, ob man einen guten oder einen schlechten König hatte. Die Politik schwingt immer mit. Das war schon in der Odyssee so und wurde im Rathaus von Siena im zwölften Jahrhundert noch einmal wunderschön als Fresko verewigt: die gute Regierung und die schlechte Regierung. Welche man bekommt, ist auch Frage des Schicksals. Das hat sogar einen gewissen Zeitgeist.

Es ist schicksalhaft, welchem politischen System wir angehören oder ausgeliefert sind. Zu Platons Zeit war schon die Demokratie in Griechenland eingezogen, vor allem in Athen, die Kultur wurde hochgehalten und über all dem stand sein berühmter Satz: »Jeden Tag danke ich den Göttern, dass ich als Mensch, als Mann, als Grieche und als Bürger Athens geboren wurde.«

Es hat nach wie vor eine große Bedeutung, in welchem politischen System wir aufwachsen. Nordkorea? Tibet? Berlin? Meidling?

Im Gilgamesch-Epos, in der Unterwelt, gibt es übrigens auch einen bösen Geist namens Namtaru, der mehr oder weniger alles durcheinanderbringt und auch den guten Herrscher zum bösen macht. Namtaru wirft üble Schicksale auf die Menschen: Sie haben Wasser, aber er bewirkt, dass es nicht trinkbar ist. Sie haben etwas zu essen, aber er bewirkt, dass die Nahrungsmittel ungenießbar werden und alle daran sterben.

Dazu gibt es eine Analogie in der Gegenwart, in der Wasser kaum mehr trinkbar ist ohne Filter und in der uns viele Nahrungsmittel krank machen, weil sie mit zu viel Salz und Zucker versetzt und geschmacksverstärkt sind. Namtaru wäre heute Lebensmittelchemiker.

Die Entzauberung des Schicksals

Die Moderne nimmt nun das Schicksal mehr und mehr in die eigene Hand. Um beim Beispiel Krankheiten zu bleiben, bei denen der Mensch früher dem Tod geweiht war – sie folgen heute einer simplen Gleichung: Diagnose plus Therapie ist gleich Heilung.

Der Fortschritt nimmt dem Schicksal das Geheimnisvolle. Jede Entdeckung, jede Erfindung lüftet vor allem in der Medizin den Vorhang der Unkenntnis und nimmt die Angst vor kosmisch gesteuerter Unbill. Was die Moderne allerdings nicht in den Griff bekommt, sind die sich anbahnenden Schicksalsschläge, die von der Umwelt ausgehen.

Unser größter Schatz in dieser Hinsicht ist der Sozialstaat. Er ist eine Art kollektive Versicherung gegenüber allem Versicherbarem, mit dem das Schicksal die Gesellschaft und ihre Individuen behelligen kann.

Der Sozialstaat hat eigentlich nicht unbedingt mit »roter« Politik zu tun, vielmehr lebt er nach einem größeren Sinn und höheren Zielen. Gerechtigkeit. Sicherheit. Gemeinsamkeit. Vor allem aber lebt er auch von jenem Wohlstand, der mitunter die Umwelt belastet. Er lebt von den Steuern der Ökonomie und letztlich von einigen Paradoxien, die der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk so formuliert: »Es werden in den Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphären ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind. Es werden weltweit mehr Abfälle aus Konsum, Freizeit, Reisen und gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als sich in absehbarer Zeit im Recycling-Prozess resorbieren lassen. Es werden im Gang der Liberalisierung mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltung und neue Fairnessregeln domestiziert werden könnten.«

Krankheit, Umweltverschmutzung und hemmungsloser Egoismus also. Der Sozialstaat lebt somit auch von Gedanken, denen Gier zugrunde liegt, und Gedanken werden zu Schicksal. Es ist die gedankliche Gier, die die Welt schicksalhaft in den Abgrund stürzt, autofrei und klassenlos wird da nichts ändern. Wir müssen die Gedanken ändern, um aus dieser Falle zu entkommen, den Sozialstaat auf ein neues Fundament stellen. Sonst bringt uns unsere Versicherung vor schweren Schicksalsschlägen ebensolche.

Zudem bleibt da immer ein Aspekt des Schicksals, gegen den wir uns mit nichts versichern können: die schicksalhafte Veränderung der Zeit.

Den höheren Rhythmus der Geschichte, die Neuformierung der Welt kann niemand aufhalten. Alles geht in diesem Zyklus seinen logischen, vorhergesehenen Gang. Wie beim Kreislauf von Werden und Vergehen. »Ob einer Persönlichkeit Raum gelassen wird, entscheidet allein das Zeitalter, in das sie geboren wird. Man kann zu früh, aber auch zu spät zur Welt kommen. Die Epoche, in die wir hineingeworfen sind, hämmert und meißelt uns«, formulierte der Wiener Jurist und Autor Tassilo Wallentin einmal.

Vor vierzig Jahren wäre Donald Trump nicht US-Präsident geworden, heißt das zum Beispiel. In zwanzig Jahren würde Angela Merkel nicht mehr frohgemut in die Hände klatschen und versprechen: »Wir schaffen das!« Die Beatles würden heute keine Castingshow gewinnen.

Das Schicksal der Geschlechter

Das nächste Zeitalter wird wieder andere Schicksale formen, und es drängt bereits vor. Es richtet sich auf eine quasi neue planetarische Ordnung aus. Die Klassifizierung Mann und Frau soll in einer neuen bizarren Weltordnung nicht mehr gelten. Hochgepriesen wird der globale Uniformismus. Alles will gleich sein. Es kommt zur Angleichung der Geschlechter. Zur Veränderung von Reproduktion und Fortpflanzung. Zur Forderung einer künstlichen Gebärmutter, um den Unterschied zwischen Mann und Frau auszulöschen. Zur Einebnung von Ethnien und Hierarchien. Zu einer schulischen Freigabe der beliebigen und nachhaltlosen Sexualität – jeder möge penetrieren, wen er, sie oder es will.

 

Es kommt zu einer Veränderung der Werte. Zu einer neuen Spiritualität. Zu einem elektronischen Exhibitionismus, jeder will sich der digitalen Welt zeigen. Zu einem überbordenden Narzissmus, einer Folge der frühkindlichen Anbetung und falsch verstandener Kindesliebe. Pädagogischen Widerspruch gibt es nicht mehr, Gewissenserforschungen werden abgeschafft, jedes Kind ist das beste und braucht keine Korrektur. Das arretiert sich, das bleibt bis zum Lebensende erhalten.

Helikoptereltern meinen, ihrem Kind die allerbeste Entwicklung auf der ganzen Welt angedeihen zu lassen, indem sie ihm jede nur erdenkliche Aufmerksamkeit sehenken, die eine Umlegung ihrer eigenen Selbstverliebtheit auf das Kind ist. Sie schütten es mit zu viel Aufmerksamkeit zu und verhindern so paradoxerweise dessen eigene Entwicklung und das soziale Abschleifen mit anderen. Das Kind hat gar keine Chance mehr, sich anders zu entfalten, als die Eltern das bis ins allerletzte Detail gewollt, geplant und gecheckt haben. Kontrolle ist alles.

Im Erwachsenenalter führt das zu ungebremstem Narzissmus. Das Kind, dann die Frau oder der Mann liebt sich so sehr und genau diese Egomanie wird dann wieder an die nächste Generation weitergegeben. Liebe zum Beispiel ist dann in diesem neuen Zeitalter … ich.

Der Mensch steht so mitten im Sog einer gewaltigen schicksalhaften Veränderung. Epigenetik und vor allem evolutionäre Entwicklungsbiologie stellen in diesem dynamischen kosmischen Biotop lang gesuchte Zusammenhänge zwischen Erbgut und Gestalt her, zwischen Genotyp und Phänotyp.

Sie erforschen Makro- und Mikroevolution, Großes wie Kleines, sie knacken ganz neue Codes. Sie zeigen, wie uns alle das Leben unserer Vorfahren, auch solcher, die wir gar nicht kannten, beeinflusst. Wie Umweltfaktoren unser Schicksal verändern und wir diesen Drall an unsere Kinder weitergeben. So zeigen sie letztendlich, dass nicht nur Zeitschicksal zum persönlichen Schicksal werden kann, sondern auch persönliches Schicksal zu Zeitschicksal.

Wir könnten uns wie Platon bei den Göttern bedanken, als Mensch, als Europäer und als Bürger unseres Landes geboren worden zu sein. Allerdings müssen wir nicht nur schicksalhaft dankbar sein. Wir können ja alles mitformen.

Den Grundgedanken des Philosophen Martin Heidegger vom schicksalhaften Geworfensein in das Leben konterkariert der neue Mensch, indem er nicht nur das physische und psychische Leben formen kann. Er formt auch die Zeit, in der er lebt, er dreht das Rad des Schicksals selbst, und das nicht nur zu seinem Vorteil. Der deutsche Philosoph und Anthropologe Max Scheler bezeichnete den Menschen als den großen Verschwörer, der täglich die uralte Verfassung der Natur aus den Angeln heben möchte.

Tangenten an den Kreis der Ewigkeit

Heute haben die meisten Menschen das ständige Gefühl, eine neue Zeit sei angebrochen. Digitalisierung. Alles geht rasanter, die Welt dreht sich schneller, alle sind im Stress, müssen hierhin und dorthin und posten und mailen und twittern und simsen und schauen, dass sie nicht auf der Strecke bleiben. Das Lebenstempo steigt und steigt durch die vom Menschen selbst für den Menschen geschaffenen Technologien, die Anforderungen wachsen. Nicht jeder kann da mit.

In hundert Jahren wird das Leben auf Erden noch einmal ganz anders aussehen. Laut dem Visionär Yuval Noah Harari könnten biotechnologische Innovationen bald eine neue Spezies entstehen lassen oder den alten Homo sapiens einem neuen Totalitarismus unterwerfen.

Diese düsteren Visionen sind mehr als Spekulationen. Wir sehen es am Beispiel China, wo gerade ein durch Hightech gesteuerter, totalitärer Staat entsteht, der seine Bürger anhand eines sozialen Punktesystems klassifiziert. Wer einmal auf der gesellschaftlichen Leiter abrutscht, kann nie wieder aufsteigen. Er verliert seinen Job, seine Wohnung, die Kinder dürfen keine gute Schule mehr besuchen, der Mensch wird zur Persona non grata.

Oder wird sich der neue Mensch mit Chips, Brain-Interfaces und Implantaten optimieren, um mit der Rasanz der Digitalisierung überhaupt mithalten zu können?

Das Rad des Zeitschicksals dreht sich weiter, und wir müssen alle entscheiden, ob wir uns von dem Strudel mitreißen lassen oder unseren eigenen Weg im Mahlstrom finden. Unsere eigene Zeitlinie, eine individualtemporäre Tangente, angelehnt an den Kreis der Ewigkeit. Wer sein Zeitschicksal erkennt, kann den Timer modulieren. Wie bei einem Marathon muss er wissen, wann man schneller läuft und wann langsamer. Einteilen heißt eingreifen. Wer nicht eingreift, wird umgeworfen, ganz einfach.

Und dennoch hat der Mensch immer wieder guten Grund, das Rad des Zeitschicksals schneller zu drehen, und noch schneller. Die Medizin bestätigt das Jahr um Jahr, Monat um Monat und fast schon Woche um Woche aufs Neue. Was ist, wenn ein Genabschnitt schicksalhaft für eine Erkrankung verantwortlich ist, für eine genetische Erkrankung, sagen wir, für den genetisch bedingten Brustkrebs?

Die Antwort lautet: Die Medizin hat in Zukunft Scheren für die Hardware und Software der Biologie, für das Genom und das Epigenom. Damit schneidet man mehr oder weniger das betreffende Stück Gen heraus, und eine auch schicksalhafte genetische Erkrankung, eine genetische Anfälligkeit für Brustkrebs, Eierstockkrebs und vieles andere, wird von ihrer Schicksalhaftigkeit befreit. Das ist eine Befreiung der Menschheit, nach Pest und Kindbettfieber, von einer weiteren Geißel.

Auf diese Weise stellt sich der Schicksalsbegriff bis zu einem gewissen Grad neu dar. Der schicksalhafte krankheitsbedingte Tod wird allmählich zur Vergangenheit und es entstehen andere Fragen. Es ist ein ewiger Kreislauf.

Wir verstehen: Das Kolorit des Schicksals verschiebt sich, sein Farbwert changiert, verändert sich. Und der Mensch kann es schaffen, wie in der Medizin, es zu seinen Gunsten zu wandeln, etwas Positives daraus zu machen. Das ist das Wunder des wandelbaren Schicksals. Es ist menschenmöglich.

Wenn sich das Schicksal vorbereiten kann, dann können wir das auch. Im Gegensatz zur Venus vor 750 Millionen Jahren.

Wir können uns wappnen.

Es sind nicht die Gene

Schicksal ist kein Synonym für Erkrankung oder Katastrophe, für Desaster oder Tod. Es muss sich nicht unbedingt um etwas Furchtbares handeln, damit es Schicksal genannt werden kann. Auch wenn wir uns das im Sprachgebrauch so angewöhnt haben, Schicksal ist nicht per se negativ. Es haftet ihm nicht a priori etwas an, womit man im Leben nichts zu tun haben will.

Das Schicksal kann uns auch auf der Sonnenseite des Lebens einquartieren. Wir sehen zum Beispiel in Familien, wie ähnliche Schicksale in Form von ähnlichen Begabungen weitergegeben werden. Da sind Musikerfamilien beispielhaft, wir kommen später im Kapitel »Der Strauss-Faktor« dazu. So viel vorweg: Es zeigt, dass da irgendetwas gewesen sein muss, irgendetwas, das diese musikalische Begabung gefördert hat.

Früher hätte man gesagt: Es sind die Gene.

Heute weiß man: Gene spielen eher eine untergeordnete Rolle. Doch was nun erkennt die Biologie als neue schicksalhafte Kräfte?

Als Bill Clinton im Juni 2000 die Entschlüsselung des menschlichen Genoms verkündete, vermutete man, die Schicksalhaftigkeit der Gene entdeckt zu haben. Allerdings merkte man bald, dass es hinter dem genetischen Code noch einen anderen gibt, nämlich den epigenetischen. Er bestimmt sozusagen darüber, welche Gene unser Organismus wie stark benutzt. Er kann Gene zum Beispiel stilllegen oder aktivieren und damit über unsere Gesundheit, unser Glück und damit unser Schicksal mitbestimmen.

Der epigenetische Code hat mit elektrischen Ladungen zu tun und entfaltet weitreichende Wirkungen, die seit seiner Entdeckung Forscher und das interessierte Publikum gleichermaßen faszinieren, und die ich bereits in meinem Buch Der holistische Mensch – Wir sind mehr als die Summe unserer Organe beschrieben habe.

Ein Beispiel: Wenn Weinbauern Pestizide verwenden, schädigen sie damit ihre eigenen Keimzellen. Bekommen sie Kinder, geben sie diese Schädigungen an sie weiter. Das heißt, dass ihre Kinder Pestizid-Schäden haben, selbst dann, wenn sie keine einzige Stunde im Weingarten verbringen. Selbst dann, wenn die Weinbauern ihre Kinder unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigeben.

Der genetische Code steht somit für ein unabänderliches Schicksal, der epigenetische aber für ein veränderbares, negativ wie auch positiv, denn klarerweise lassen sich auch positive epigenetische Prägungen vererben. Was bedeutet: Ein gutes Leben schlägt Wellen in den uns nachfolgenden Generationen, ein schlechtes tut es ebenfalls. Wir beeinflussen diesen epigenetischen Code zum Beispiel durch unsere Ernährung, durch Krankheiten und durch unseren Lebensstil.

Eine Weile galt die Epigenetik sogar als die große und einzige Komponente im Bereich der biologischen Übertragung von organischen und auch psychischen beziehungsweise seelischen Faktoren von einer Generation auf die nächste. Doch dann entdeckte die evolutionäre Entwicklungsbilologie die stille, schicksalhafte Macht der dunklen DNA und der microRNA.

Was bedeutet der Begriff »dunkle DNA«, der klingt, als würde er uns in ein geheimnisvolles Reich entführen – und das zu Recht?

Um ihn zu verstehen, müssen wir wissen: Nur ein ganz kleiner Teil unserer DNA ist für die Proteine verantwortlich, aus denen wir bestehen. Es gibt auch in der DNA so etwas wie im Weltall, nämlich dunkle Materie. Nur ein kleiner Teil des Universums ist greifbare Materie. Die dunkle Materie, die wir nicht sehen, die aber extreme Bedeutung hat, ist in der Überzahl.

In der DNA besteht die dunkle Materie aus langen Sequenzen, von denen lange niemand wusste, wieso sie eigentlich da sind. Aus denen nichts abgelesen zu werden schien, kein Protein. Und die dennoch mehr als neunzig Prozent der Gesamt-DNA bilden. Nur ein kleiner Teil unseres Erbfadens wird transkribiert, der große Teil schien nichts wert zu sein, Junk-DNA eben.

Mittlerweile hat die Wissenschaft belegt, dass dem nicht so ist.

Wenn nötig, greift der Körper, wie von magischer Hand, auf diese nicht abgelesenen Junk-DNA-Stücke zurück und macht aus ihnen RNA-Stücke. Plötzlich sind die Nichtsnutze etwas wert. Auf einmal haben sie eine Funktion, eine, die vorher gar nicht da war. Mit einem Mal ist da eine neue Möglichkeit des Überlebens.

Ein Beispiel aus der Biologie: Durch die Erderwärmung ändert sich die Fruchtbechergeometrie bei Pflanzen. Genau dort, wo der Nektar enthalten ist. Die Distanz zur Pflanzenoberfläche wird größer und der Fruchtbecher verändert sich, schließt sich praktisch, um den Nektar besser vor der Wärme zu schützen. Mit der Zeit orientieren sich die Insekten daran und passen sich an. Sie bekommen längere Rüssel. Dafür ist wahrscheinlich die Junk-DNA mitverantwortlich. Ihr Organismus holt aus ihrer nicht abgelesenen DNA plötzlich etwas wie aus einem Zauberhut hervor und daraus entsteht etwas Neues.

Ein anderes Phänomen, das wundersam erscheint, aber gar nicht wundersam ist: In der Natur gibt es Bakterien, die Glucose nicht abbauen können. Wenn man diese Bakterien allerdings über lange Zeit in glucosereiches Material gibt, dann tun sie, was sie nie konnten, nämlich Glucose abbauen. Sie greifen auf ein schwarzes Energieloch in ihrer DNA zurück.

Das alles ist Anpassung, das ist Evolution.

Ein Beispiel, das sich so in der Geschichte der Menschheit abgespielt haben oder theoretisch noch abspielen könnte: Eine Hungersnot bricht aus. Wir, die Menschheit oder zumindest ein Teil davon, können uns plötzlich nicht mehr ernähren. Nun liest unser Körper die dunkle Gen-Materie ab und wird dort fündig: Er bringt ein Enzym hervor, mit dessen Hilfe wir Dinge verdauen können, die wir bisher nicht verdauen konnten.

Die dunkle Gen-Materie hat in der Menschheitsgeschichte zweifellos schon die wertvollsten Dienste geleistet. Wer weiß, was sich dort noch alles an Bauplänen befindet. Sie ist ein Schatz an allem, das Menschen schon einmal waren und das sie noch werden können. Und selbst, wenn wir uns noch nicht einmal die Frage stellen, wie all diese stille Information in die DNA gelangt ist, wer sie dort hineingeschrieben hat, bildet sie eine geheimnisvolle Welt voller Abenteuer für die Forschung, die besonders deutlich macht, was für ein großartiges Wunder alles Leben ist.

Einen völlig neuen Aspekt brachte eine Erkenntnis über die Viren in unserem Genom. Sie sind die längste Zeit ruhiggestellt, aber wenn es der Teufel will, und unser Körper etwas braucht, was nur die Virus-DNA hervorbringen kann, dann schaltet er dieses Fremd-DNA-Gut ein. Und dieses Virus-Genom bildet dann plötzlich ein Virus-Protein, weil es dem Körper hilft, sich an eine bestimmte Situation anzupassen. Wobei das Ganze für uns auch schiefgehen kann. Virus-DNA kann auch Krebs erzeugen, wenn sie ohne Erlaubnis abgelesen wird. Früher sagte man: Das ist zufällig, das ist schicksalhaft. Mitnichten. Da sind einfach Kräfte am Werk, die wir bisher nicht kannten.

 

Womit wir beim dritten Punkt sind, der microRNA. Bei diesen winzig kleinen RNA-Stücken, die der Körper nicht hervorbringt, um ein Protein zu bilden, sondern um regulativ in die Gene einzugreifen. Es geht um Anpassungskontrolle. MicroRNA, das sind sozusagen die kleinen Männchen, die die Evolution steuern und die das Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie als »mächtige Winzlinge« bezeichnet.

Mächtig sind sie deshalb, weil sie darüber mitbestimmen, welche unserer Gene zum Einsatz kommen. Sie können Gene aktivieren oder stilllegen. Stilllegen zum Beispiel kann gut sein, wenn sie dabei ein Gen nehmen, das uns für eine bestimmte Krankheit prädestiniert, und es kann schlecht sein, wenn es eins ist, das uns besondere Leistungen, körperliche oder auch musische oder mathematische, ermöglichen würde.

Nehmen wir das Laufen.

Wenn wir laufen, glaubt unser Körper aufgrund urzeitlicher Prägungen, dass wir auf der Flucht sind. Deshalb stellt er mithilfe der microRNA neue Vernetzungen im Gehirn her. Wozu? Weil auf der Flucht zu sein für unseren Körper bedeutet, bedroht zu sein. Von jemandem verfolgt und möglicherweise angegriffen zu werden. Weshalb er Maßnahmen ergreift, um unsere Aufmerksamkeit zu schärfen, besser gesagt: um unsere neurologischen Möglichkeiten, aufmerksam zu sein und Angreifer frühzeitig zu bemerken, zu verbessern. So ganz nebenbei sind diese Vernetzungen auch eine wunderbare Prävention gegen Alzheimer. Daran sind die Steinzeitmenschen zwar noch nicht erkrankt, weil sie dafür nicht alt genug wurden, aber es funktioniert trotzdem.

Die Forschung hat das Wirken der microRNA inzwischen weitgehend entschlüsselt. Sie regelt die Aktivität einer Vielzahl von Genen gleichzeitig. Beim Menschen scheinen mehr als sechzig Prozent aller Gene durch microRNAs beeinflusst zu werden. Rund siebzig Prozent der bekannten microRNAs befinden sich im Gehirn. Sie steuern dort wie im Beispiel mit dem Laufen die Aktivität vieler wichtiger Gene, und sie beeinflussen unter anderem die Struktur, Funktion und Verknüpfung von Nervenzellen. Sie haben auf diese Weise auch enorme Auswirkungen auf unser Verhalten und unsere Intelligenz, auf unser Bewusstsein.

Auch unser Befinden beeinflussen sie und bieten so Schutz vor Depressionen. Wissenschaftler des Max-Planck-Weizmann-Labors für experimentelle Neuropsychiatrie und Verhaltensneurogenetik haben die Aufgabe von microRNAs in Nervenzellen untersucht, die Serotonin produzieren – also jenen Botenstoff, der Appetit, Schmerzempfinden oder Gefühlsregungen beeinflusst und der gemeinhin als Glückshormon gilt. Die Forscher haben dabei eine spezielle microRNA identifiziert, die im Gehirn und im Blut von depressiven Patienten im Vergleich zu Kontrollprobanden in geringeren Mengen vorkommt.

Die mächtigen, schicksalhaft wirkenden Winzlinge microRNA, auch das hat die Forschung herausgefunden, sind davon abhängig, in welchem Zustand wir sie von unseren Eltern übernommen haben, aber auch davon, was um uns selbst herum geschieht, welchen Umweltfaktoren wir ausgesetzt sind, was wir eben so erleben. Schicksal, das wir selbst in der Hand haben, ähnlich wie die schicksalhaften epigenetischen Prägungen. Was wir denken, was wir fühlen und was wir tun, das zeigt auch die evolutionäre Entwicklungsbiologie anhand der microRNA, das geht weit, sehr weit, generationenweit über die unmittelbar sichtbaren Effekte davon hinaus.

Die Übertragung der microRNA durch unsere Vorfahren auf uns kann dabei ebenso Fluch wie Segen sein, je nachdem, wie sehr diese Vorfahren im Einklang mit ihrer Umwelt, mit ihrer ganzen Umgebung und mit sich selbst gelebt und damit ihre microRNA geformt haben. Wir profitieren von dem, was sie gut gemacht haben, und es spukt durch unser Leben, was sie schlecht gemacht haben.

Doch auch hier bleibt das Schicksal wandelbar. Wir können es durch unseren eigenen Lebensstil korrigieren. Und gleichzeitig erhalten Lebensregeln, wie sie uns etwa die Heilige Schrift mitgibt, eine ganz neue, biologische, holistische Bedeutung. Sie in ihrem ursprünglichen Sinn zu befolgen, so könnte man das sehen, bedeutet, die Biologie des Lebens und damit die Anatomie des Schicksals von nicht weniger als der Menschheit an sich positiv zu beeinflussen.

Da ist übrigens noch etwas, was man erst seit Kurzem weiß: Die DNA, der Erbfaden, hat eine extrem gute Leitfähigkeit. Eine bessere Leitfähigkeit als der Draht für den Strom. Das heißt, es könnte drinnen, im Haus der Gene, Strom fließen. Lebensenergie. Was das bedeutet, muss erst erhellt werden. Ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten eröffnet sich uns da.

Ein interessanter Bogen, der sich neuerdings über das Schicksal spannen lässt. Und da ist noch mehr.

Wir werden in den folgenden Kapiteln auch noch sehen, wie sehr das Immunsystem mit dem Gehirn kommuniziert und für Dinge sorgt, die wir in Unkenntnis als schicksalhaft bestimmt, abgehakt und hingenommen haben. Heute wird das durch die neu erkannten Mechanismen verständlicher.

Vorweg ein Beispiel, das zunächst ganz banal klingt: Menschen, die sich öfter im Wald aufhalten und sozusagen gute Luft atmen, sind psychisch ausgeglichener.

Ach, werden Sie sagen, wirklich? Wissenschaftlich gesehen ist Erfahrung gut, aber noch kein Grund, Dinge als bewiesen anzusehen. Ganz genau weiß man nämlich nicht, warum Bäume so gut für uns sind.

Die Forschung hat dazu Daten von 45.000 Stadtbewohnern ausgewertet: Angaben zur Wohnungssituation, zur Nähe von Grünanlagen und zu psychischen Erkrankungen. Ergebnis: Am besten wirkten sich Bäume auf das seelische Wohlbefinden aus. In Nachbarschaften von Stadtwäldern ist das Risiko von Erwachsenen, unter psychischen Problemen zu leiden, um fast ein Drittel geringer als in Gegenden mit weniger Bäumen. Auch der allgemeine Gesundheitszustand ist in der Nähe von Bäumen besser. Wiesen oder andere Grünflächen aus Büschen und Sträuchern haben diese Wirkung laut der Studie dagegen nicht.

Warum sich Bäume so positiv auswirken, ist, wie gesagt, nicht ganz klar. Ein einfacher Teil der Antwort ist sicher der Schatten, den sie spenden. Schon etwas spekulativer ist die größere Biodiversität von Bäumen im Vergleich zu Wiesen. Ein Forscherteam aus Dänemark hat jedenfalls herausgefunden, dass Kinder, die mit Natur aufwachsen, als Erwachsene zu 55 Prozent seltener psychisch erkranken als Gleichaltrige, die ohne Grün lebten.

Es muss also etwas in der Luft sein, das uns zufrieden macht oder unruhig werden lässt. Dabei könnte das Immunsystem seine Wirkung entfalten. Es registriert die Ruhe auf dem Land und die Hektik in der Stadt und gibt das an das Gehirn weiter. Das Immunsystem steht in ständigem Dialog mit der Außenwelt und auch mit dem Gehirn. Alles, was passiert, hat Auswirkungen. Gute, schlechte, wie auch immer. Unsere Umwelt bestimmt so, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, was wir tun, wie wir denken. Wie wir sind.

Das Schicksal liegt also auch in der Umwelt, die wir unsererseits beeinflussen. Im Umfeld, in dem wir uns bewegen. Es liegt in dem, was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder ertasten. Das Immunsystem wacht über unsere Begegnungen, auch mit der Umwelt, und bietet uns nicht nur Schutz, sondern verändert Emotionen und Denkmuster im Gehirn.