Vierecke fallen nicht zur Seite

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„Is´ was?“, fragte Ian, während er den knarzenden Stuhl zurückzog, um sich auf die zerkratzte und ausgediente Sitzfläche zu fläzen.

„Nö“, sagte Lena und holte aus ihrer Tasche die Stiftebox und einen Collegeblock heraus. Ihren Ranzen aus dem letzten Jahr hatte sie gegen eine große Umhängetasche mit Reißverschluss eingetauscht. Ian bezweifelte, dass da alle Bücher reinpassen würden und er zweifelte auch an Lenas Antwort.

„Wir war´n deine Ferien?“

„Gut.“

Lena beließ es dabei. Dann kam Frau Lärmer-Nilmarch, die immer nur Frau Lärmer genannt wurde, in den Raum 401, schmiss ihre Ledertasche auf den einzigen gepolsterten Stuhl und legte zeitgleich mit dem Klingeln ihre beringte Hand auf den Lehrertisch.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde trugen die Lehrer an der Akihi-Realschule Namensschilder. Als wäre es nicht schon schwer genug in einer lauten, mit dreißig Schülern übervollen siebten Klasse Autorität auszustrahlen. Das Namensschild ließ die Deutschlehrerin wirklich lächerlich aussehen. Zumal dort auch nur „Frau Lärmer“ stand. Ein Kollege hatte das verbockt. Dabei war es ihr wichtig bei ihrem vollen Namen genannt zu werden. Das erwartete sie auch von ihren Schülern, das Namensschild war da keine große Hilfe. Sie hatte leider auch keine große Stimme, wenn sie lauter werden wollte, überschlug sie sich und das hörte sich sehr albern an. Deshalb hatte Frau Lärmer-Nilmarch sich für eine sehr leise Sprechweise entschieden. Fast flüsternd erklärte sie die ganzen organisatorischen Dinge, die zu Beginn eines neuen Schuljahres geklärt werden mussten. Sie wurde dabei immer wieder vom Klopfen an der Tür unterbrochen. Nach dem dritten Schüler, der zu spät kam und gegen die Tür hämmerte, ließ sie sie einfach offenstehen. Im Raum 401 gab es keine freien Stühle mehr und deshalb wurde der Kartenständer zum Türstopper umfunktioniert. Es waren schon fünfzehn Minuten der Unterrichtszeit verstrichen, als mit Adem der letzte Schüler, durch die nun offene Tür, kam. Letztes Jahr war sein Platz noch in der letzten Reihe gewesen, doch er wurde von Frau Lärmer, die auch gleichzeitig die Klassenlehrerin der 7a war, nach vorne in die Mädchengruppe gesetzt. Wie ein Gockel saß er da, umgeben von Elen, Gülsah, und Aiyln in der Fensterreihe. Jetzt kam Frau Lärmer zum Thema Bücher. Die Klasse wurde in drei Gruppen aufgeteilt und sollte sich die Schulbücher aus dem Bücherraum holen. Die erste Gruppe war die komplette Wandreihe, mit den dazugehörigen mittleren Plätzen. Lena stand schnell auf. Sie wollte vor zur Tür, konnte aber zwischen sich und Ian nur SS-Sveni bringen. SS-Sveni hieß mit Vornamen Silvio-Sven. Seinem Vater war die Konnotation sehr wohl bewusst. Hätte der Junge, der nun hinter Lena wartete, weil der dicke Leroy es nicht schaffte aufzustehen und die anderen sich stauten, mit Nachnamen Bauer, Müller oder Michl geheißen, so wäre sein Spitzname wahrscheinlich SS-Müller und so weiter geworden. Aber Silvio-Sven hieß mit Nachnamen Aé und daraus konnte man nun wirklich gar nichts machen. Als Leroy es endlich geschafft hatte, seine Rundungen aus der Umklammerung des Stuhles zu lösen, drängten die Schüler aus dem Raum, wie Sprudel aus einer geschüttelten Flasche. Lena machte weiter Plätze auf Ian gut, der an der Tür mit einer generösen Geste Vivien den Vortritt ließ. Das junge Mädchen machte einen Schritt aus der Tür und drehte sich dann im Flur auf, so dass sie neben Ian laufen würde. Im Gang war es schon sehr laut. Eigentlich war die Einteilung so, dass die Klassen sich abwechselnd die Bücher holen sollten. Doch den Geräuschen nach, waren wohl alle Schüler auf den Beinen. Bei einem Probefeueralarm gelang das selten.

„Es ist wohl Ärger im Paradies?“, fragte Vivien. Sie mussten an einer der Feuerschutztüren warten. Logischerweise hatten diese Türen einen Holzrahmen. Doch der Umstand, dass sie nur mit dem Kraftaufwand von fünf Siebtklässlern geöffnet werden konnten und deshalb spätestens ab dem zweiten Schultag immer sperrangelweit offenstanden, indem sie mit dem Metallhaken in der Öse befestigt wurden, machte sie noch obsoleter.

„Nein, alles paletti“, antwortete Ian ausweichend.

Auch wenn er Vivien mochte, wusste er, dass es keine gute Idee wäre, mit ihr über solche Sachen zu reden.

Lena hatte mit Vivien geredet. Sie hatte sich bei ihr beschwert, dass Ian ihr einfach nicht schrieb. Es kotzte sie schon an, dass er ihre Bilder auf SchülerCC nicht kommentierte. Ian hatte immer eine fadenscheinige Ausrede parat, von wegen; kein Handy, keinen Computer und so einen Mist. Ihrer Meinung nach sollte er dann einfach mal den Mut haben, seine Eltern zu fragen. Konnte ja nicht so schwer sein. Unter strengster Geheimhaltungsvereinbarung hatte Lena Vivien das alles erzählt.

Lena war schnell mal eingeschnappt, wenn sie nicht die Aufmerksamkeit bekam, die sie ihrer Meinung nach verdiente. Und sie hatte mit viel mehr Aufmerksamkeit seitens Ian gerechnet, gerade nach dem Kuss.

Etwa eine Viertelstunde von der U-Bahnstation „Paulmander Nord“ entfernt, nah des Bokettoberges, gab es einen See, an dem die Schüler traditionell den Nachmittag ihres letzten Schultages verbrachten. Letztes Jahr waren Ian und Lena dafür noch zu klein gewesen, deshalb stromerten sie stattdessen in den schmalen Gassen am Bokettoberg herum und setzten sich irgendwann an das Ufer des Tuhlm. In dem kleinen Park gab es mehrere Bänke, meist waren sie von Rentner besetzt. Die hatten immer Zeit. Doch an diesem Tag schienen Ian und Lena Glück gehabt zu haben.

Lena hatte für sich und Ian jeweils einen griechischen Joghurt gekauft. Der Vater ihrer Mitschülerin Maria führte ein Restaurant. Es befand sich in dem Keller des älteren Einkaufcenters. Früher sah dieses Gebäude fremd zwischen den Altbauhäusern des Außenbezirkes aus. Doch nun hatten Häuser dieser Art die Vorherrschaft in Paulmander errungen.

Den Joghurt aßen sie mit einem kleinen Löffel, den Freya verächtlich weggeschmissen hätte.

Etwa bei der Hälfte, ein Kanu zischte gerade an ihnen vorbei, fragte Lena Ian, ob er sie küssen wollte. Es war so unromatisch, aber auch so kindlich einfach gewesen. Ian hatte zwar gar keine Ahnung, doch nutzte die sich ihm bietende Chance. Er nahm Lenas schmale Hand, an der sie ein Armband trug, das zu ihrem Halsschmuck passte. Dann zog er an der Hand und ihre Schulter fiel nach vorn. Schnell beugte sich Ian zu ihr und küsste sie auf die kalten Lippen, die nach Apfel schmeckten.

Lena kicherte.

„Das musst du anders machen“, so hatte sie es zumindest in Zeitschriften gelesen, die ihre Mutter und ihre große Schwester lasen. Sie nahm sich Ian und streckte etwas zu früh ihre Zunge heraus. Der Belag war vom Essen weiß. Im Mund von Ian wusste sie dann aber auch nicht, was sie machen sollte und so fühlten sich die wenigen Sekunden ziemlich lang an. Es war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten, aber irgendwie doch ganz schön. Irgendwie doch ganz okay. Lena fragte sich, ob sie jetzt erwachsen wäre.

Den letzten Teil hatte sie Vivien nicht erzählt, den ganzen Rest hingegen schon. Und Vivien hatte es Tania erzählt und das erklärte, weshalb Tania und Lena die Köpfe zusammensteckten, als sie die Treppen hinunter gingen.

Vor dem Bücherraum stand eine Schlange, die noch aus etwa sechs Schülern bestand. Frau Giebenrath teilte die Bücher aus. Die Schüler mussten den Empfang, so wie absurderweise den einwandfreien Zustand der Bücher bestätigen. Die Schimmelflecken, die herausgerissenen Seiten und die aufgemalten Hitlerbärtchen existierten dann für ein Jahr nicht mehr. Erst bei der Bücherrückgabe tauchten sie wieder auf. Ian bekam seinen Stapel und sah, dass der Haufen größer war als letztes Jahr. Während er Vivien die dicksten Bücher abnahm, fragte er sich, wie Lena die ganzen Bücher nachhause tragen wollte. Würden sie überhaupt in ihre Tasche passen?

Frau Lärmer-Nilmarch schickte die letzte Reihe zum Bücherholen. Danach erklärte sie, dass die Bücher eingeschlagen werden sollten. Ian blätterte die erste Seite seines Deutschbuches auf. Dabei fragte er sich, ob einer seiner fünfzehn Vorgänger das Buch eingeschlagen hatte. Der Unterricht war fast vorbei, als endlich alle wieder oben waren. Ahmet schaute auf seine Vorgängerliste und haute seinem Kumpel Deniz mit einem Neandertalergrunzen auf den Rücken.

„Höhö, isch hab´ Riccardas.“

Deniz zog an Ahmets Mathebuch. Er wollte nachschauen. Riccarda war aus der Neunten und deshalb ein Thema, weil sie Melonen hatte, die größer waren als Leroys Bauch.

„Pfff“, schnaubte Lena verächtlich, „die mit ihrem ekligen Atombusen. Wie kann man so was nur geil finden.“

„Ja stimmt“ und „Mhmmhm“, nickten Schlagmann und Franz eilig. Das waren zwei Ja-Sager vor dem Herrn. Schlagmann, weil er sich einschleimen wollte und Angst hatte, nicht mehr bei den Coolen sein zu dürfen und Franz, weil er mit seinen überlangen, überdünnen Gliedmaßen nicht nur wie eine Marionette aussah, sondern sich auch wie eine verhielt. Franz schien keine Meinung zu irgendwas zu haben. Lena schaute Ian an und wartete, ob er ihr zustimmte. Schlagmann und Franz schauten ihn genauso an, da er es eigentlich war, der die Befehle gab und die beiden nun unsicher waren, auf wenn sie hören sollten. Frau Lärmer-Nilmarch, die hier eigentlich die Chefin sein sollte, beendet einen Tick vor dem Gong die Stunde. Mit einem Mal rückten alle Stühle über den Linoleumboden, der von der Kippelei Dellen und von den schwarzen Gumminoppen Striemen hatte.

Sie hatten fünf Minuten, um vom Raum 401 zum Raum 213 zu gelangen. Auf den vollen, schmalen Gängen dauerte das ewig. Für Toilettenbesuche war keine Zeit. Bei Frau Szchemanek, der Englischlehrerin, wollte wirklich niemand zu spät kommen, denn sie konnte ein Drache werden. Allerdings wollte man bei ihr auch nicht auf die Toilette müssen. Ian fand es schon demütigend genug, andere um die Erlaubnis fürs Pissen zu fragen, aber bei Frau Szchemanek konnte man sich das gleich sparen. Nie im Leben würde sie ein Verlassen des Unterrichtsraumes für so einen irrelevanten Grund erlauben. Naja, wenigstens war sie konsequent, denn Trinken durfte man bei ihr auch nicht. Ahmet Ezzedine hatte es einmal versucht. Sie hatte ihn nach vorn zur Tafel geholt, auf Englisch ermahnt und gleich mal mündlich drangenommen. Ahmet war in Englisch eine Niete, nicht einmal die Fragen hatte er verstanden. Die Note Fünf hatte Frau Szchemanek auf Deutsch ausgesprochen. Klar, deutlich und deutsch. Dabei hätte Ahmet dieses Zahlwort ausnahmsweise gekannt, da er den Großteil seiner Schulzeit damit verbrachte, mit seinem Sitznachbarn Deniz „High Fives“ einzustudieren.

 

Auch der Raum 213 ordnete die Tische in einer U-Form an. Allerdings waren hier die Abstände zur Wand größer. So konnte Ian ein paar Zentimeter zurückrutschen und Lena den Blick auf die Tafel gewähren. Als Frau Szchemanek fünf Minuten nach dem Klingeln, bei ihr war das kein Thema, in den Raum kam, war die Tafel noch leer. Da war es auch kein Problem, dass Lena wenig sehen konnte. Doch Frau Szchemanek schaffte es stets in einer atemberaubenden Geschwindigkeit die Tafel mit ihrer großen, aber schiefen Schrift vollzuschreiben. Dabei redete sie unentwegt und ausschließlich auf Englisch, während die Metallhalterungen, in denen sie die Kreide steckte, damit sie keine schmutzigen Hände bekam, wie in einem Comic über die grüne Tafel flogen. Dann bekam Lena meist ein Problem, denn für so etwas war eine U-förmige Sitzordnung Mist, egal wie sehr Ian rutschen würde. Die Wandreihe und die Fensterreihe beugten sich, aufgereiht wie Orgelpfeifen, nach vorn. Jeder Schüler ein Stück weiter als sein Sitznachbar. Und die, die ganz hinten saßen, hatten dann ein wirkliches Problem. In der Wandreihe war das Lena und ihr gegenüber saß der zweite Alex. Zu Alex´ Vorteil befand sich die Tafel nicht mittig, sondern im rechten Drittel der vorderen Wand. Links daneben stand der Lehrertisch mit dem blau gepolsterten Stuhl und der Polylux, für den auf der Wand eine weiße Projektionsfläche angebracht war. Links oben und unten hatte diese Fläche braungrüne Flecken, die von einer legendären Weintraubenschlacht herrührten. Da die Tafel nicht in der Mitte angebracht war, musste die Fensterreihe nicht wahnsinnig viel an ihrer Sitzposition ändern. Lena in der Wandreihe konnte allerdings nur etwas erkennen, da Ian den freien Platz in seinem Rücken ausnutze und wirklich, wirklich weit zurückrutschte. Er schaute durch die Lücke, die SS-Sveni und Tania bildeten. Lena beugte sich weit nach vorn und drehte ihren Kopf knapp über der Tischfläche. Franz war groß genug, der konnte über sie hinüberschauen. Jetzt in der ersten Stunde nach den Ferien waren die Schüler noch zu Verrenkungen bereit. Aber nach zwei Wochen war das vorbei.

Die allerbesten Plätze hatten Jale und Alparen, die an den Spitzen der Reihen und damit mit dem Lehrertisch auf einer Höhe saßen. Sie konnten immer alles erkennen. Egal ob es die seit fünf Jahren beschädigte VHS-Kassette aus dem Biounterricht war, in der Markus erklärte, dass das Mitochondrium das Kraftwerk der Zelle sei oder die schiefe Schrift von Frau Szchemanek. Dazu wurden sie auch nie drangenommen. Lehrerunabhängig. Sie wurden einfach übersehen.

Ian hatte da nicht so viel Glück. Dabei hätte er das gerade in diesem Fach gebraucht. Englisch war nicht so sein Ding. Wenn er am Platz drangenommen wurde, konnte er auf die Hilfe von Lena vertrauen, die in Englisch ein Ass war und sich für die viele Hilfe, die Ian ihr in den naturwissenschaftlichen Fächer gab, revanchieren wollte. Nun war es allerdings einfacher, das richtige Ergebnis einer Berechnung ins Ohr zu flüstern, als einen kompletten Satz. Lena gab aber trotzdem ihr Bestes. Sie hatte eine leise, hohe Stimme, die Frau Szchemanek nicht hörte und so konnte sie Ian ein paar Vokabeln in den Mund legen, auf die er selbst nicht gekommen wäre. Leider tendierte Frau Szchemanek immer mehr dazu, die Schüler aufstehen zu lassen. Da war das Vorsagen schon schwieriger und wenn sie vor zur Tafel geholt worden, war alles vorbei. Ian war froh, dass er keine Uhr hatte. Sonst hätte er aller paar Sekunden drauf geschaut. Die Zeit wäre dann noch langsamer verstrichen. Auch die Uhr, die über der Tafel hing und den Glockenturm mit dem Big Ben als Hintergrund hatte, zeigte schon lange nichts mehr an. Die Batterien waren wohl das letzte Mal an dem Tag ausgetauscht wurden, an dem Markus seine Biotipps aufgenommen hatte.

Ian war niemand, der wahnsinnig viel mitschrieb. Das lag zum einem an seiner Hefterlimitierung, er musste sie nämlich zwei Jahre lang benutzen und zum anderen an seiner Art Notizen zu machen. Ein Satz wie: „Der Vorsitzende der Partei für soziale Gerechtigkeit Özer Sahin betonte auf dem Bundesparteitag am 20.April ein weiteres Mal, dass er das Grundeinkommen als das zentrale Thema seiner politischen Arbeit und als das entscheidende Ziel seiner potentiellen Regierungsverantwortung ansieht.“ wurde in Ians Notizen höchstens zu einem: „Vs PSG AH-Bday Grundeink. wichtig.“

Damit und mit seiner Art, aus zwei Kästchen drei Zeilen zu machen, hatte er sich schon oft Ärger eingefangen. Er verstand ja, dass er bei Arbeiten ein Kästchen frei lassen sollte, aber weshalb es Lehrer interessierte, wie er in seinem eigenen Hefter schrieb, würde er nie verstehen. Es stimmte auch nicht, was sie sagten.

„Mit diesen Notizen wirst du dir nie etwas merken.“

„Wenn du nächste Woche in deinen Hefter schaust, verstehst du das nicht mehr.“

„Mit so einer Arbeitseinstellung wirst du später Probleme bekommen.“

„Wenn du nächstes Schuljahr in deinen Hefter schaust, verstehst du das nicht mehr.“

Es stimmte alles nicht. Ian reicht das als Merkstütze. Er hatte schon ein paar Mal gesagt: „Wenn die sich andere Notizen machen, ist doch cool, soll´n mir nicht auf´m Sack gehen, mit ihren fucking Muschigehabe.“

Sein Englischhefter war aber fast immer leer. Die Sätze an der Tafel schrieb er manchmal ab, ab er wusste nie, ob sie wichtig waren oder nicht. Meist griff er den Kugelschreiber, der würde ihm zumindest keinen Ärger mehr einbringen, denn ab der Siebten musste kein Füller mehr benutzt werden und kritzelte auch etwas auf sein Blatt.

Für einen Jungen in seinem Alter hatte Ian eine recht schöne Handschrift.

Die Größe allein ist ja nicht entscheidend.

Die Kanten waren hart und klar, doch das passte zu der bemerkenswerten Eigenschaft die Linie halten zu können. Auch auf einem weißen Blatt würden alle Buchstaben auf einer Höhe sein. Und die Haken der „g“s und „f“s und „j“s würden alle auf einer Ebene liegen. Auch sahen Ians Buchstaben immer gleich aus, da gab es keinerlei Varianz. Die Findungsphase war Mitte der zweiten Klasse abgeschlossen. Es würde sich nichts mehr ändern. In all den noch kommenden Jahren, würde sich das Wesen der Buchstaben wandeln, ihr Innerstes sich färben, doch die Haut, die hart und stramm, wie eine Rüstung über die Formen gelegt war, änderte sich nie. Das „A“, welches am Anfang stand und mit dem die Einleitung des Deutschaufsatzes begann, würde genauso so aussehen, wie das „A“, mit dem das Schlusswort auf der achten Seite begann.

Ians Schrift war so klein, dass der abgerissene Zettel, der von Vivien zu Ian zu Lena und wieder zurückwanderte, für die ganze Stunde ausreichen würde. Eigentlich brauchten die drei keinen Zettel, um sich im Unterricht zu unterhalten. Normalerweise war es so laut, dass sie auf Briefe nicht angewiesen waren. Doch bei Frau Szchemanek musste man aufpassen. Diese Frau wartete nur darauf ein Fish&Chips-Feuer ausspeien zu können.

Vivien schrieb: „Kennt ihr den neuen Geolehrer?“

Ihre Buchstaben hatten die, für Mädchen typischen, Verschnörkelungen. Ihr „K“ sah aus wie Roter Klee, der neben dem Handtuch, auf dem man sich gerade sonnte, hervorlugte und seine grünen Blätter in der leichten Brise wog. Wind, der die zarten Wassertropfen von der warmen, sonnengebräunten Haut kullern ließ. Wenn man sich zur Seite drehte, konnte man sehen, wie die Sonne Regenbögen unter den Wassertropfen erscheinen ließ und man konnte den roten Nektar des Klees riechen. Unter der Pflanze war Erde, die trotz der strahlenden Sonne feucht war und sich nicht wie Sand anfühlte.

Das „K“ eines Ians sah aus wie der Backstein einer gepflasterten Fläche, bei der man sagte: „Jo, hier kann ich meinen Sonnenschirm aufstellen. Hier ist es stabil.“

Ian hatte noch nicht von dem neuen Lehrer gehört, allerdings hatte er ja auch noch nicht gewusst, dass sie heute Geographie haben würden.

Lena schrieb: „Ne, kenn ich auch nicht.“

Jedes „N“ sah anders aus und es war der letzte Wortwechsel auf diesem Zettel, der für Außenstehende Sinn ergeben hätte. Es klingelte wieder. Frau Szchemanek rief in das Durcheinander die Hausaufgaben herein. Wieder auf Englisch. Ian nahm das gar nicht wahr. Er hielt es für eine Verabschiedung. Die Klasse versuchte schnellstmöglich in den Physikraum zu gelangen. Das war mit den vielen Büchern eine Herausforderung. Zwölfjährige sind in der Regel richtige Luftpumpen. Der Physikraum lag direkt unter ihnen und war ein Fachraum mit klassischer Anordnung, der aber nur mit einem Lehrer betreten werden durfte. Zügig wurden die Taschen hingestellt, Lena und Ian saßen hinter Tania und Vivien und dann wurden sie auf den Hof gescheucht. Ian schnappte sich noch schnell einen Stift.

Neben dem Glaskasten lag der Eingang zum Pausenhof. Der Durchgang von draußen nach drinnen nach halbdraußen war unterbrochen von Plakatwänden aus Kork, an denen Schülerarbeiten hingen. Die ersten fünf Jahre waren für die Kunstobjekte die schwierigsten. Doch wenn sie fünf Jahre dort hingen, bekamen sie einen Altersschutz, der sie vor Schmierereien bewahrte. Zwischen den Plakatwänden, die am Morgen manchmal umfielen, da die Schrauben an den Füßen locker waren und die hereinströmenden Schüler wenig Rücksicht nahmen, war ein kleiner Ständer, dessen Legierung abblätterte. Dieser Ständer hatte einen Korb, in dem der „Spießer“ und kostenlose Hausaufgabenhefte lagen. Sie waren viel dicker als die Exemplare, die man im Laden kaufen konnte, da auf jeder zweiten Seite Werbung für und von Schaldstättener Betriebe gedruckt war. Ian nahm sich so ein Hausaufgabenheft, dann stellte er sich an den Glaskasten. Er suchte seinen Klassenstundenplan. Auf dem schwachgedruckten Papier konnte er erkennen, dass er heute noch Gemeinschaftskunde und eine Doppelstunde Geographie haben würde. Das hieß, er würde heute um 13:25 Uhr Schluss haben. Hinter dem Fach standen der Raum und dahinter der Name des Lehrers. Ian erkannte, dass er viele Neue bekommen hatte. Während Ian das alles in sein Heft eintrug, wurde er von der Seite angesprochen. Zuerst hörte Ian das Klappern des Schlüsselbundes und er wusste, dass es sich um einen Lehrer handeln musste.

„Was machst du hier?“, fragte die Person neben Ian. Der schaute noch nicht hoch.

„Hallo, ich rede mit dir!“ Ian wurde auf die Schulter getippt.

Herr Schröder konnte froh sein, dass Ian kein verwöhnter Gymnasiumsbengel war, dessen Eltern wutentbrannt am nächsten Tag bei ihm anrufen würden, um etwas von „körperlicher Züchtigung“ zu faseln. Auf der Mycathie-Akihi-Realschule waren es vielleicht zehn Prozent der Schüler, die länger als fünf Minuten mit ihren Eltern über die Schule redeten. Ian und Freya Teutschwitz waren normal. Sie gehörten zu der Mehrheit.

„Ich schreib mir nur schnell den Stundenplan ab.“

„Dafür hattest du zuhause genug Zeit. Jetzt ist erst einmal Pause.“

„Ja gleich. Bin gleich fertig“, sagte Ian und trug ein, dass die erste Stunde am Freitag Deutsch im Raum 401 sein würde.

„Ich glaub, ich höre wohl nicht richtig.“

„Gleeeeich“, sagte Ian genervt. Er schaute dem jungen Lehrer ins Gesicht. Rechts hinterm Ohr baumelte ein Rattenschwanz, an dem komische bunte Kullern hingen. Bis auf seinen Sportlehrer verachtete Ian sie alle. Für ihn waren Lehrer in erster Linie Menschen, die sich einen draufabwichsten, Liebesbriefe von Jugendlichen laut vorzulesen. Aber vor den neuen Lehrern hatte er nicht das Mindestmaß an Respekt. Er verstand auch nicht, warum es eine Einstellungsvoraussetzung zu sein schien, komische Haare oder Freizeitaktivitäten zu haben. Letztes Jahr hatte er zwei Referendare gehabt. Die eine war weißer als Tania und trug Dreadlocks, war 1,50 Meter groß, trank ihren Tee aus einem braunen Gefäß, in welches sie immer wieder heißes Wasser aus einer Thermoskanne goss und sie bestand darauf, zu Stundenbeginn den Zeigefinger auf die Lippen zu legen, während sie mit der freien Hand Hitler grüßte und von fünf runter zählte. Der andere Referendar hatte aus irgendeinem, nicht erkenntlichen Grund zwei Zöpfe und jeden Tag ein schwarzes Hemd mit verkehrt herum angebrachten Hufeisen an, bei dem der Knopf sich am Bauch schon lange verabschiedet hatte. Er hatte den Schülern der 6a damals erzählt, dass sein Hobby Stockkampf war und er an Wettbewerben teilnahm.

 

Ian kannte Leute, die auf dem Schulhof mit Gras dealten, er hatte Freunde, die in der Partei waren und jeden Monat vor der U-Bahnstation Rechtsrock-CDs verteilten. Wie zur Hölle kamen Lehrer auf die Idee, dass sie mit Rattenschwänzen, Kräutertee und nach unten offenen Hufeisenhemden Autorität ausstrahlen könnten? Herr Schröder war ja noch nicht einmal größer als Ian. Na gut, vielleicht einen halben Kopf, aber das war es auch schon.

„Du verrätst mir jetzt bitte deinen Namen“, sagte Herr Schröder. Man merkte, wie er in seinem Kopf nach den Lektionen suchte, die es für den Umgang mit Störenfrieden und Rabauken gab.

Ian klappt sein neues Hausaufgabenheft zu und ging mit den Worten „Jetzt ist erstmal Pause“ auf den Hof. Er horchte, ob Herr Schröder ihn folgte, doch der junge Lehrer ahnte, dass er sich lächerlich machen würde.

Die Bauweise des Schulgebäudes ließ keine andere als eine rechteckige Form des Pausenhofes zu. An den zwei länglichen Seiten waren ebene Eingänge. An den Stirnseiten gab es kleine Podeste, auf denen jeweils ein Lehrer die Aufsicht hatte. Ein dritter Lehrer ging über die asphaltierte Fläche. Wenn die Schüler zu derb Fangen spielten, schritt er ein. Denn lange Leinen können sich um Beine wickeln. Und da die meisten Lehrer alt waren und Wasserknöchel hatten, wollte das niemand. Auf dem gesamten Schulhof gab es keinen Basketballkorb, keine Springfelder aus Kreide und keine Tischtennisplatte. Nicht ein einziger Baum wuchs auf der Fläche. Der einzige Blickfang waren die aufgemalten weißen Linien, gedacht für die Fahrradführerscheinstunden. Die wurden allerdings nur von den Grundschülern genutzt. An der einen Ecke, unter der die Mensa lag, war der innere Gang unterbrochen und ein Metalltor, das schwer den Eindruck von Knast und Gitterstäben machte, versperrte den Weg zur Grundschule und deren Schulhof. Manchmal kamen die Kinder rüber und fuhren eine Viertelstunde mit dem Rad. Wenn man aus den Fenstern schaute, konnte man manchmal einen kleinen Jungen sehen, der, da er immer wieder über den Lenker seines Fahrrades flog, einen Fußgänger spielen musste.

In den großen Pausen der Akihi-Realschule, die nach der zweiten, der vierten und der fünften Stunde stattfanden, wurden die Linien nur von den Kindern genutzt, die keine Freunde hatten und ihre Zeit alleine verbringen mussten. Es war unglaublich demütigend. Auf diesem Pausenhof gab es keinerlei Versteckmöglichkeiten und ihr Außenseitersein wurde zur Schau gestellt. Die, die nicht allein waren, standen in Kreisen und warteten. Ian lief an ein paar Gruppen seiner Klassenkameraden vorbei und stellte sich nahe des Tores zu SS-Sveni. Im Kreis standen noch Kralle aus der Achten, Riccardas Schwester, die der Atombusigen in Nichts nachstand, sowie Manuel Hunsieg und Carlo Schikowski, die beide in die neunte Klasse gingen und dieses Jahr ihren Hauptschulabschluss machen würden. Riccardas Schwester hatte sie gefragt, was sie nach dem Ende des Schuljahres machen wollten. Manuel plante in einer Gärtnerei anzufangen. Seine Eltern wohnten ganz im Süden von Paulmander. Sie teilten sich mit einer anderen Familie einen bunt bepflanzten Garten, den Manuel liebte. Carlos Ziel hatte im weitesten Sinne etwas mit Ausländer verprügeln zu tun. Carlo war einer von den gefährlichen Hunden, die bellen und beißen. Kralle gefiel das. Er konnte jedes Lied der ausgeteilten CD´s auswendig. Auch die Parteireden zwischendurch hatte er sich angehört. Kralle laberte etwas von einer Umvolkung. Riccardas Schwester nickte, während sie sich umdrehte und auf den Schulhof schaute. Tatsächlich waren nur wenige weiß. Die meisten waren braun. Viele von außen und ein paar von innen. Das konnte allerdings auch an der Sonne liegen, die den ganzen Sommer schon gebrannt hatte und auch jetzt den Schulhof erhellte. Kurz bevor es klingelte, setzten sich die Schülergruppen schon in Bewegung. Als es tatsächlich klingelte, schaute Ian durch die Gitterstäbe.

Auf dem Schulhof der Grundschule durfte noch Hasche gespielt werden. Es wurde nicht unterteilt.

Freya war zwar bewusst, dass ihr Papa Neslihan und John undufte finden würde, doch sie mochte sie. Zusammen mit Patrick waren sie ihre besten Freunde. Die Tuhlmspatz-Grundschule-Schaldstätten besaß nur einen Eingang. Dieser führte in einen bogenförmigen Flur. Wenn man nach rechts ging, kam man in das große Treppenhaus. In der Mitte gab es einen Fahrstuhl. Die Treppen schlängelte sich in vier breiten Abschnitten um den Schacht herum nach oben in die zweite Etage. Wenn man die Stufen hinunterstieg, konnte man in die Mensa gelangen. Auf der anderen Seite des Bogens fand man die Werkenräume. Zwischen den Enden waren Klassenzimmer für derzeit neun Klassen. Außerdem gab es noch einen Raum für den Hort.

Freyas Klassenzimmer war im zweiten Stock. An der Tür hing ein kleiner Zettel mit dem Aufdruck einer Sonne, die verriet, dass es sich um den Raum 205 handelte. Aus einem Regenbogenbogen war eine „3“ und ein kleines „A“ herausgeschnitten und neben die Sonne geklebt worden. Freya ließ Neslihan den Vortritt. Sie setzte sich dann in die Mitte der Fensterreihe. Vor ihr waren zwei Tische, dahinter auch. Neben ihr saß der kleine Patrick, der seit der ersten Klasse nicht mehr zu wachsen schien. Der Metallkorb unter seinem Tisch war voll mit Blättern. An der Spitze des braunen Tisches lag eine kleine Einkerbung, die mit Gummi ausgelegt war. In ihr lagen zwei angefangene Klebestifte und ein abgebrochener Füller. Die Drittklässler hatten heute die ersten beiden Stunden Deutsch mit Frau Rhemberg gehabt. Sie unterrichtete sie auch in Sachkunde, das stand jetzt auf dem Stundenplan. Sie war zugleich ihre Klassenlehrerin. Die Schulglocke ertönte. Alle Schüler schlugen ihre gelben Hefter auf. Die meisten schafften das alleine. Nur Sefa in der letzten Reihe brauchte etwas Hilfe. Hinter ihm saß ein Mann. Freya wusste, dass er kein Lehrer war, sie aber trotzdem auf ihn hören sollten, wenn er etwas sagte. Dieser Mann passte auf Sefa auf. Auch dass er seine Hausaufgaben und so was machte. Dafür gab es eigentlich die Hausaufgabenhilfe. Nach der Schule war die. Im Hort. Doch Sefa braucht noch mehr Hilfe. Denn wenn er etwas nicht konnte, wurde er schnell sauer. Dann stand er auf und schrie. Einmal hatte er die Kunstbox seiner Sitznachbarin Selen durch den Raum geworfen und dabei den Wasserbecher von Lotte schräg gegenüber getroffen. Ein anderes Mal, erinnerte sich Freya, hatte er im Sportunterricht seine Hose ausgezogen und gegen die Holzbank gepinkelt, weil seine Mannschaft beim „Ball unters Netz“-spielen verloren hatten. Am Anfang hatten ein paar gekichert, dann fanden sie es eklig. Frau Rhemberg hatte ihnen am nächsten Tag gesagt, dass jeder Mensch unterschiedlich sei und unterschiedlich auf Probleme reagiert. Sefa würde wohl schnell sauer von Problemen. Deshalb war es wichtig, dass die Klasse ihn unterstützte. Aber da die Klasse das nicht alleine konnte, gab es da auch noch diesen Mann. Vui, die in der ersten Reihe neben Zeki saß, meldete sich. Sie überstreckte dabei ihren Ellenbogen und schnipste. Frau Rhemberg hob mahnend die Augenbraue. Vui verstand und hörte auf, die Finger zu bewegen. Frau Rhemberg nahm sie dran.

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