Vierecke fallen nicht zur Seite

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„Sollen wir für Sachkunde liniert oder kariert nehmen?“

Vui hatten einen Stapel von beiden neben dem Papphefter liegen.

„Für den Sachkundeunterricht nehmen wir alle liniertes Papier“, sagte Frau Rhemberg und ging in die Klasse. Als sie bei Freya und Patrick stand, sah sie Freyas kariertes Papier.

„Freya, mach das einfach wie im Deutschunterricht. Da hast du ja auch liniertes Papier genommen. Kariertes Papier nehmen wir nur für Mathematik“, sagte sie freundlich, dann ging sie weiter, ohne zu wissen, dass Freya alle linierten Blätter, die sie von ihren Eltern bekommen hatte, schon für den Deutschhefter verbraucht hatte.

Da Frau Rhemberg eine gute Lehrerin war ging der Unterricht schnell vorbei. Danach hatten sie Mathe bei Frau Civelek. Dieses Fach mochte Freya wenig. Sie war nicht schlecht in Mathe. Beim schriftlichen Multiplizieren und Dividieren machte sie kaum Fehler. Aber sie konnte nur sehr mäßig Kopfrechnen. Wenn sie ein Blatt hatte, auf dem die Zahlen standen, dann ging es. Aber im luftleeren Raum, verlor Freya die Zahlen. Zum Ende der Stunde veranstaltete Frau Civelek ein Spiel. Eine Bank sollte aufstehen, dann wurde eine Rechenfrage gestellt. Wer die Frage zuerst richtig beantwortete, rutschte eine Bank weiter. Neslihan hätte eine ganze Runde geschafft, wenn sie nicht das eine Mal Sefa hätte gewinnen lassen. Als es klingelte stand sie neben Freya, einen Platz von ihrem eigenen entfernt. Wer eine ganze Runde schaffte, bekam ein Geschenk. Doch Neslihan hatte eine richtige Antwort zu wenig gegeben. Frau Civelek gab ihr nur lobend die Hand. Freya fand sie nett, aber irgendwie roch sie komisch, nach dicker Luft und dem, was ihr Vater jeden Abend trank. Frau Civelek winkte der Klasse zum Abschied. Die 3a hatte jetzt Sport. Doch da am ersten Tag nicht alle ihre Sporttasche dabeihatten, Freya auch nicht, ließ Herr Osowitsch sie auf dem Schulhof „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“ spielen. Dann klingelte es. Freya schulterte ihren Ranzen, der jetzt auch die Bücher im Bauch hatte. Zu viert gingen Neslihan, Freya, Patrick und John an der Wand vorbei und die Treppe zur U-Bahnstation hinunter. Neslihan und John winkten. Sie fuhren eine lange Rolltreppe hinunter. Patrick und Freya kamen auf dem Ring wieder raus und liefen zu dem kleinen Trampelpfad. Sie bogen auf den Kleinhauerweg. Sie redeten über die Schule.

„Kommst du heute noch mit raus?“, fragte Patrick.

„Nein, ich mach die Hausaufgaben und dann muss ich Mama helfen“, sagte Freya.

Die beiden Kinder verabschiedeten sich vor dem Eingang 38. Danach lief Freya weiter und holte ihren Schlüsselbund hervor. In dem Moment, in dem sie nicht auf den Steinplattenboden schaute, wäre sie fast auf einen alten Hundehaufen getreten. Die Sonne hatte die Kacke gebleicht. Freya schloss die Tür auf. Dabei stemmte sie ihr ganzes Gewicht dagegen. Sie tapste die grauen Stufen hoch und öffnete auch die Wohnungstür. Sie zog, noch mit dem Ranzen auf dem Rücken, die Schuhe aus und legte sie in das Regal. Dann ging sie in die Küche. Den Ranzen lehnte sie an das Tischbein. Nun flitzte sie ins Bad. Dort wusch sie sich vor und nach dem Pieseln die kleinen Hände. Als sie auf den hohen Küchenstuhl gesprungen war, merkte sie, dass sie heute noch nichts getrunken hatte. An die Gläser im oberen Fach kam sie nicht heran. Deshalb nahm sie die Müslischüssel unter der Spüle. Das Leitungswasser war warm und schmeckte nicht gut. Dann setzte sie sich an ihre Hausaufgaben.

Buch 2 -2-

Freya saß gerade am dritten Deckblatt. Deutsch und Mathe waren leicht gewesen, aber sie hatte sich trotzdem angestrengt, da sie eine Eins bekommen musste. Da klapperte an der Wohnungstür ein Schlüssel. Freya wollte sich, wie eine Turnerin, vom Stuhl schwingen. Dabei holte sie zu viel Schwung, sie rutschte mit ihren dünnen Söckchen aus und knallte gegen die Küchenmöbel.

„Ja sag mal, was is´n hier los“, lachte Ian. Er stand in der Tür. Freya rannte zu ihm. Sie umarmte ihn kurz. Dann setzten sie sich beide an den Küchentisch.

„Musst du viel machen?“, fragte Ian.

„Es geht. Deckblätter für Mathe, Deutsch und Sachkunde. Und wir sollen ein paar Aufgaben lösen. In Mathe. Sachen aus dem letzten Jahr zum Auffrischen“, erzählte Freya. Sie fuhr mit ihrem Finger über die sauber eingetragenen Punkte in ihrem Hausaufgabenheft. Die Fingernägel waren abgeknabbert. Am linken Ringfinger wuchs die Haut über den Nagel.

Ian suchte mit seiner Schwester, aus den Zeitungen von letzter Woche, Bilder für das Deckblatt heraus. Dann holte er aus dem Elternschlafzimmer Bücherumschläge und zog Freyas Ranzen nach oben. Während sie die Matheaufgaben löste, wickelte Ian die Bücher ein. Er schaute auf die Uhr. Es war 14:15 Uhr. In einer Viertelstunde war er mit Alex verabredet. Die Zeit reichte noch aus, um über die Berechnungen zu schauen. Ian erkannte keine Fehler. Dann ging er nach oben.

Ian klopfte, Frau Okowenko öffnete die Tür. Sie stammte aus Krasnodar. Ian kannte den Verein. Deshalb konnte er das zuordnen. Alex´ Mutter sprach Deutsch, aber mit starkem Akzent. Sie begrüßte Ian freundlich und gab ihm ein paar Hausschuhe. Frau Okowenko war stark geschminkt, da sie gleich Einkaufen fahren wollte. Alex saß noch in seinem Zimmer. Er schaute nur kurz hoch, als Ian auf die lockere Diele trat. Auf einem grauen Röhrenfernseher rasten täuschend echt aussehende Boliden über den Nürburgring.

„Hab die Zeit verpasst. Bin gleich fertig. Nur noch das eine Rennen“, sagte Alex, dabei beugte er sich in die Kurven.

Ian hasste es, wenn sich Menschen verspäteten.

Fünf Minuten vor der Zeit ist deutsche Pünktlichkeit.

Aber er hatte sich angewöhnt, sich leise aufzuregen. Denn die meisten seiner Freunde sahen das nicht so eng.

„Ian. Es ist im Kühlschrank noch Essen. Iss!“, sagte Alex´ Mutter. Ian wunderte sich, wie man in seinem kurzen Namen so viele „r“s einbauen konnte. Während Alexander noch mit seinem Videospiel beschäftigt war, ging Ian in die Küche. Die Küche war genauso aufgebaut, wie die der Familie Teutschwitz. Ian brauchte sich nur auf den Stuhl zu setzen. Er schaute Frau Okowenko an. Er sollte sie Kalina nennen. Kalina schöpfte mit einer Kelle Kartoffelsuppe in einen Teller und stellten diesen in die Mikrowelle. Während sich der Teller drehte und der kreisrunde Knopf zum Zeiteinstellen zurückwanderte, grinste Alex´ Mutter Ian an, er musste unweigerlich zurück lächeln. Es „blingte“. Kalina stellte den dampfenden Teller Suppe auf die grün-schwarze Plastiktischdecke, die mit kleinen Bärchenfiguren beschwert war. Sie griff in das Fensterbrett, sie stellte einen Petersilientopf daneben. Während Ian das Essen in sich hinein schaufelte, fragte sie ihn nach den heutigen Plänen.

Ian sagte, dass sie zum Schwanenteich gehen wollten und dann „mal schauen“.

Mit „mal schauen“ war das leerstehende Wohnhaus in der Teutebergstraße gemeint. Aber das konnte er Kalina ja schlecht verraten.

„Du magst keine Petersilie?“, fragte Kalina.

Ian sagte „Nein“, dabei wusste er einfach nicht, wie man Petersilie aß. Musste er die Stängel abrupfen oder nur die Blätter?

Kalina fragte ihn dann nach der Schule aus. Ian erzählte die Geschichte mit dem neuen rattenschwanztragenden Geolehrer, die Frau Okowenko zum Lachen brachte.

„So etwas könnte ich meiner Mutter niemals erzählen“, dachte sich Ian, als Alex in der Tür auftauchte.

„Machen wir los?“

Der Schwanenteich war voller Enten, die von einem Ufer zum nächsten schwammen, um sich füttern zu lassen. Der kleine Tümpel hatte ein Ausmaß von zehn mal zwanzig Metern. Er war umgeben von Weiden, die ihre Äste in das Wasser ditschten. Der Jotta-Liebermann-Park, benannt nach der ehemaligen Bürgermeisterin von Paulmander, die ihn anlegen ließ, war im Süden des Stadtviertels. Hier gab es keine Altbauten mehr. Der Jotta-Liebermann-Park hieß zuerst ganz unkreativ Tuhlmspatzpark und wurde nach dem Tod der Bürgermeisterin 1983 umbenannt. Von dem alten Namen wussten die Kinder nichts, aber da, hier in Paulmander, fast alles nach der Sagengestalt benannt war, hätte sie das nicht großartig überrascht. Ian und Schlagmann lehnten mit dem Rücken an einem blauen, fleckigen Geländer. Sie schauten Alex beim Vorführen seines neuen Handys zu. Es handelte sich um ein Nokiatouchhandy, bei dem man die Rückseite austauschen konnte, da verschiedene Farbstücke mitgeliefert wurden. Ian hatte so etwas noch nie gesehen. Schlagmann hingegen besaß ebenfalls ein Touchhandy, doch bei ihm konnte man dazu eine klassische Tastatur mit Zahlen und kleinen Buchstaben nach unten ziehen. Alex´ Mutter hatte für ihren Sohn einen Vertrag abgeschlossen. Unglaubliche 500 MB Datenvolumen, Ian konnte sich darunter überhaupt nichts vorstellen, so wie hundert Freiminuten und SMS. Schlagmann hatte einmal gehört, dass solche Verträge pure Abzocke wären, aber Alex war sich sicher, dass das eine gute Sache war.

Unter der Brücke, zu der das Geländer gehörte, lag ein Rohr, welches Regenwasser in den Schwanenteich leitete. Gerade schwamm eine Ente hinein, als Alex Ian fragte, ob er denn nicht sein altes Handy haben wollte. Ian lehnte das zügig ab. Er war froh, als Lena und Vivien bei dem Weg auftauchten. Dieses Mal bekam Schlagmann von Vivien eine Umarmung. Er strahlte. Beim Gang zur Teutebergstraße musste er alle paar Meter einen Ausfallschritt machen. Wahrscheinlich klemmte sein Hosenstall.

Die Teutebergstraße führte bis an den Rand des Jotta-Liebermann-Parks. Einen begehbaren Gehweg gab es nur auf einer Seite. Genau wie die Straße, bestand dieser aus einem Steinpflaster. Allerdings hatten sich Erdschichten über den Untergrund gelegt. Der Gehweg auf der anderen Seite, war mit Barken abgesperrt und im Erdreich versunken. Die neuen Rohre reflektierten die Sonnenstrahlen. Die harte Erde sah staubig aus. Ein Bauarbeiter mit einem Hopser verdichtete die Einfahrt zu einem Altersheim. Rechts und links standen Wohnhäuser mit grauen Wänden, an denen eine Menge Graffiti angebracht waren. Die Häuser besaßen alle drei Etagen und ein rotes Dach. Die meisten Briefkästen waren nur noch lose Halterungen an der Wand. Viele Fenster waren gardinenlos. Eine alte Telefonzelle mit zersprungener Tür, bildete einen der wenigen Farbtupfer.

 

Eine alte Frau, die sich aus dem Fenster gelehnt hatte und sich auf einem Kissen mit derbem Stoff abstütze, beobachtete die Kinder, wie sie die Teutebergstraße hochgingen. Buchstäblich hoch, denn das Ende der Straße lag auf einem kleinen Hügel. Hinter dem Hügel befand sich ein Tierheim, zwei Behindertenwerkstätten und ein Ausschusswarenlager. Die Mehrfamilienhäuser nahmen ein Stockwerk ab. Auf der linken Seite gab es einen kleinen Weg. Am Ende stand ein altes Haus. Ian hob die langen Äste der Hecke hoch. Nacheinander schlüpften Vivien, Schlagmann, Alex und Lena durch das Gartentor. Das Schloss war verrostet. Es bröselte auseinander. Ein altes Fahrradschloss war über die Gitter gelegt, jedoch so, dass man eine Schlaufe hinüberschieben konnte. Das Gras im Vorgarten ging selbst Vivien bis zur Hüfte. Als die Halme ihr über die gebräunten Beine strichen, bereute sie, eine kurze Hose angezogen zu haben. Allerdings war es brüllend heiß und Zecken sprangen ihres Wissens eh nur von Bäumen. Der Hauseingang auf der anderen Seite war verschlossen. Schaute man auf die Front des Hauses, hätte man nicht gewusst, dass es leer stand. Zwischen den Paulmander Ringen, standen da ganz andere Unterkünfte.

Von den Kindern war niemand ein professioneller Einbrecher, deshalb hätten sie niemals gewusst, wie sie die Tür öffnen könnten, doch zu ihrem Glück gab es da noch den Hintereingang. Er lag etwas unterhalb der Grasebene. Neben den nach vorn fallenden schmalen Treppenstufen standen Geländer, an denen einmal Schnüre zum Wäscheaufhängen befestigt waren. Jetzt bildeten sich an den Eisenstangen Blasen, die bettelten abgepuhlt zu werden. Das Schloss an der hinteren Holztür war von Schlagmann herausgeschraubt wurden. Er hatte das in einem Buch gelesen. Ein Geschenk seiner Eltern: 100 Dinge, die ein junger Mann wissen muss, oder so ähnlich. An dem Tag, als er der Gruppe diesen tollen Ort beschert hatte, war Matthias der Held und Vivien wollte unbedingt dieses Buch sehen, vielleicht standen da noch mehr nützliche Dinge drin. Doch Schlagmann lief tiefrot an und stammelte: „Ne, dis war a-aaa-alles. Sonst ist da nix drin.“

Vivien gab es auf, ihn gegenüber nett sein zu wollen. Sie wusste nicht, weshalb Ian ihn immer mitschleppte. Aber bei so etwas konnte man nicht mit ihm reden. Nie. Immer das gleiche Gequatsche.

„Er gehört halt dazu.“ So etwas sagte Ian und dachte, das würde irgendetwas erklären. Das konnte Vivien so aufregen. Das mit der Tür war das Coolste, was Schlagmann je gemacht hatte. Und wenn man mit ihm darüber reden wollte, stammelte er.

„Er soll endlich erwachsen werden“, dachte sich Vivien, zumal er ja älter war. Sie schlug vor, dass sie Verstecken spielen sollten.

„Sicherer Hafen“, nannte sie es. Der Hauseingang der neunten Wohnung, die einzige Abgeschlossene, wurde zum sicheren Hafen gekürt. Wenn man die Tür abklatschte, war man gerettet. „Wer ist Jäger?“, fragte Alex. Matthias war der Letzte, der merkte, dass sich alle an die Nasenspitze fassten.

Matthias Schlagmann lehnte sich an den Hauseingang. Er schloss die Augen. Er zählte laut bis fünfzig. Er hatte gehört wie zwei nach oben gegangen waren. Er entschied sich zunächst ihnen zu folgen. Aber als er die erste Stufe erklomm, sausten hinter ihm schon Alex und Vivien an die Tür.

Sie riefen laut: „Gerettet.“

Dann mussten Lena und Ian oben sein. Es ging nicht anders. Schlagmann hatte die Schritte gehört. Er linste um die Ecke. Er sah, dass der Fußabtreter umgeknickt dalag. So leise, wie er konnte, lief er zu der leeren Wohnung. Sie hatte nur ein Zimmer und er ...

Da kam schon wieder der Ruf: „Gerettet.“

Das konnte doch nicht sein. Verdammt, dachte Matthias. Er hatte Lenas Stimme erkannt. Das hieß, Ian war noch hier. Ian musste hier in dieser Wohnung sein. Wenn er ausgerechnet den Klassenking erwischen würden, wäre das genauso gut wie ein voller Sieg. Da würden seine Mädels aber blöd gucken.

„Ian!“, rief er, vor Anspannung und Anstrengung außer Atem, „Ich weiß das du hier bist.“

Wie in Erwartung eines plötzlich auftauchenden Horrorfilmmonsters schlich Schlagmann achtsam nur auf den Zehenspitzen an dem Bad vorbei. Die komplette Keramik fehlte. Dann stand er in dem Zimmer. Es gab keine Küche, nur Anschlüsse. Das war das einzige Zimmer. Ian musste doch hier sein. Schlagmann ging zu den offenstehenden Fenstern und dann sauste er herum, rannte aus der Wohnung und stolperte über den Fußabtreter.

Von Unten kam: „Gerettet.“

Die Dachpappe fühlte sich klebrig an. Schlagmann pulte einen kleinen Stein von seinen haarlosen Beinen. Innerlich schüttelte er immer noch den Kopf. Es war 17:05 Uhr. Die Sonne meldete schon langsam an, dass sie die anderen wecken musste. Matthias konnte nicht glauben, dass Ian für so ein blödes Spiel aus dem Fenster geklettert war.

„Deutsche sind tapfer“, hatte er gesagt.

Nun saßen sie alle auf einem Vordach, rechts von ihnen erstreckte sich Nichts als weites Feld. Weites, stoppeliges Feld. Ganz da hinten lag irgendwo einen Graben, in dem die Bahnschienen lagen. Wenn sie nach vorn schauten, konnten sie den Aussichtsturm auf dem Bokettoberg sehen. Die Hochhäuser waren größtenteils von der Hauswand verborgen. Das war allerdings nicht schlimm. Nur Alex und Matthias ließen ihren Blick noch in die Ferne schweifen. Alex´ Füße baumelten von der Kante hinunter. Ihn konnte man von der Teutebergstraße aus sehen. Lena und Ian lehnten auf der anderen Seite an der Ziegelwand. Lena hatte ihm etwas auf ihrem Handy gezeigt. Nun kritzelte Ian mit einem Dachpappenfetzen etwas auf die weiße Schuhsohle von Lena.

Vivien hatten sich lang gemacht und in die Sonne gelegt. Zunächst hatte sie in ihr T-Shirt einen Knoten gedreht und sich auf den Rücken gelegt, doch dann merkte sie schnell, dass der Zopf am Hinterkopf drückte und sich kleine Steinchen in den Haaren verhedderten. Deshalb lag sie nun auf dem Bauch. Den Kopf auf den Händen abgestützt und nach links gedreht, schaute sie auf das Feld. In ihrem gesamten Blickfeld gab es nicht eine einzige Landstraße. Kein einziges Auto fuhr über die Feldhügel, an deren Spitze eine Baumgruppe stand. Die Sonne kitzelte ihr an der Nase. Vivien genoss das Gefühl. Es war, als ob sie kurz davor war zu niesen. Nur kurz davor. Es kribbelte, aber nicht zu stark. Ein kleiner Schweißtropfen floss von ihrer Stirn. Sie schloss das Auge. Nur noch das Sonnenlicht sehend, verlor sie sich in Raum und Zeit und dachte an den Urlaub zurück. Für ihre Eltern war Kragujevac Heimat. Doch wie dachte sie darüber? Für Menschen wie Ian, für Menschen wie ihre Eltern, war Heimat ein so großer bedeutungsschwangerer Begriff.

Sie spürte, wie sich eine Fliege auf ihre linke Pobacke setzte. Vivien streckte die Hand nach hinten, um sie zu verscheuchen. Von der Bewegung merkte nur Schlagmann etwas. Lena und Ian redeten über das Tierheim. Matthias sah, wie Viviens Finger die Fliege verscheuchten. Dabei verrückten sie die kurze Hose. Er fand sie so schön. Er dachte an die Dinge, die in diesem Buch standen. Er musste sich nur trauen, etwas kitzelte ihn, nur trauen, dann ...

Alex zog an Schlagmanns ausgeleierten Ärmel.

„Waaa“, sagte der erst laut. Dann bemerkte er die Schweigegeste. Das „S“ blieb stumm. Alex hielt den Finger auf den Lippen, mit der anderen Hand zeigte er nach unten. Schlagmann blickte in die Richtung, hinein in seinen Schritt. Vor Schreck wäre er fast aufgesprungen. Seine Stoffhose war ausgebeult. Alex griff an Schlagmanns Schulter und verhinderte damit ein panisches Aufspringen.

„Mach was“, flüsterte Alexander.

„Was denn?“, fragte Matthias. Er weinte dabei fast.

Alex öffnete den Mund, als unten die Holztür knallte.

Vivien sprang ruckartig auf. Deswegen hatte sie keinerlei Augen für Matthias kleinen Schlagmann. Sie schauten alle ängstlich Ian an. Sie wussten nicht, ob sie hier sein durften. Bestimmt nicht. Das Haus gehörte irgendwen. Man darf doch nicht einfach so in Häuser gehen. Was sollten sie machen? Sie schauten Ian an und Ian blieb ruhig.

„Das werden auch nur Jugendliche sein“, sagte er.

Schlagmann, der ohne Ian in der Klasse ziemlich gehänselt werden würde, beruhigte das überhaupt nicht.

„Und was, wenn´s der ist, dem das Haus gehört?“, fiepste Lena.

„Der wird ja wohl kaum die Hintertür aufknallen.“

Ian krabbelte schon durch das Fenster, welches auf das Vordach führte. Erst half er Lena, dann Vivien.

„Und wenn es die Polizei ist?“, auch Viviens Stimme bebte.

„Glaub´ ich nicht“, winkte Ian ab und ging zur Treppe. Von unten kamen jugendliche Stimmen, die nicht Deutsch sprachen. Ians Füße standen schon auf der ersten Stufe, als Schlagmann durch den Fensterrahmen plumpste. An der geschlossenen Wohnungstür stand ein kleiner Junge, der laut rufend zu seinen Freunden rannte, als er Ian sah. Etwa zehn Jugendliche, verschiedenen Alters, standen im Flur. Sie schauten zu Ian, der selbstsicher die Treppe hinunterging. Er erkannte Adem aus seiner Klasse. Um ihn herum standen dessen Brüder und Cousins. Da Ian diese Leute, er würde ein ganz anderes Wort benutzen, allerdings eh nicht auseinanderhalten wollte, fiel ihm die tatsächliche Ähnlichkeit zwischen ihnen nicht auf. Adem war der Drittgrößte der Gruppe. Angeblich trainierte er in einem Kampfsportverein, doch Ian glaubte das nicht. Schließlich behauptete das, hier in Paulmander, jeder zweite Junge von sich. Mittlerweile standen Vivien, Lena, Alex und Schlagmann auf den Stufen hinter ihm. Sie hatten die höhere Position.

„Schönes Haus habt ihr hier. Euer?“, grinste Adem.

„Wir gehen schon. Ihr könnt es haben“, sagte Ian zähneknirschend. Während er sprach, ging er schon in die Gruppe hinein, die ihn eigentlich den Weg versperren wollte.

„Ohne deine Nazifreunde hast du nicht so´n großes Maul, oder?“, lachte Adem, dann schaute er zu Matthias. Mit dem Finger zeigte er auf dessen Stoffhose.

„Sag mal Schlagmann, hast du dich eingepisst?“

Matthias und zu seinem Leidwesen auch alle anderen, einschließlich Vivien, schauten an ihm hinunter. Ähnlich wie sein T-Shirt, war auch sein Dreiecksschlüpfer nicht mehr neu. Ein kleiner nasser Fleck hatte sich in seinem Schoß gebildet.

„Ne, wir waren auf dem Dach und in der Regenrinne war noch altes Wasser“, sagte Alex schnell und laut, bevor alle lachen konnten. Dann zog er Matthias durch die Gruppe.

„Chayas, ihr könnt hier bei uns bleiben, wenn ihr wollt. Dann könnt ihr das Haus noch weiter nutzen“, schlug Adem gönnerhaft vor.

Vivien ging so schnell wie möglich raus zu Ian, aber Lena zögerte.

Auf dem Nachhauseweg rechtfertigte sie sich: „Ich hatte halt Angst. Ich dachte, es wäre klüger sie nicht weiter zu reizen.“

Ihre Wege trennten sich. Alex schloss die Tür im Kleinhauerweg 42 auf, da war es schon halb sieben.

Freya hörte nun zum dritten Mal die Schlüssel. Ihre Mutter war vor einer Stunde heimgekommen. Seitdem saßen sie vor dem Fernseher und schauten ein Promiformat. Es trug einen Namen, der in die Richtung „Feurig“ oder „Explizit“ oder „Uiuiui“ ging. Freya hielt das für den inhaltsleersten Scheibenkleister aller Zeiten. Diese Sendungen waren immer gleich aufgebaut. Aufmacher: Prinz Firlefanz und Prinzessin Lächleblöd sind schwanger. Werden es Zwillinge?

(der dicke Bauch spricht dafür)

Dann stellen vier Promis ihren neuen Film, ihre neue CD oder ihr neues Buch vor.

Zwei Adelsexperten unterhalten sich mit einer Modeexpertin darüber, wie unvorteilhaft das schlichte 3000,00 € Kleid geschnitten ist und dass Prinzessin Lächleblöd damit ein Statement setzen wollte.

Eine Schauspielerin spricht darüber wie sie dem Alkohol verfallen und wieder clean geworden ist. War ihr Vater schuld?

Es werden erste Zweifel gestreut. Sind die Drillinge gar nicht vom Prinzen?

Der achte Werbeblock wird mit einer Abnehmpille beendet, die die Moderatorin weiterempfehlen kann.

Ein weiblicher Fan wird vor den Toren des Palastes zu den Untreuevorwürfen befragt. Die blonde Frau ist vollbeladen mit Merchandisingartikeln. Ein hoher Hut, mit dem Konterfei des Prinzen, wippt auf ihrem gefärbten Haupthaar, als sie sagt, dass: „Sie zu Prinz Firlefanz steht und das von der Schlampe schon immer erwartet hätte.“

 

Frau Teutschwitz nickte zustimmend. Danach folgte die Auflösung des Gewinnspiels. Frau Gabi Müller-Spirat aus Ludwigsfelde wusste zwar, dass man den liebsten Freund des Mannes Hund und nicht Stirnlappenbasilisken nennt, bei der Folgefrage musste sie jedoch passen. Keine Ahnung wie viel die Hündin Laika wog, als sie am weitesten von der Erde entfernt war? Vier?

Dann klapperte der Schlüssel und Freya sprang auf. Dass die Moderatorin gerade verlautbarte, dass weder Prinzessin Lächleblöd, noch Prinz Firlefanz schwanger waren, bekamen weder Mutter, noch Tochter mit.

Herr Teutschwitz kam gegen sieben. Er war früh dran. Zum Glück hatten Freya und Ian das Essen trotzdem schon vorbereitet. Wie jeden Wochentag gab es Schnitten. Etwas hatte den Vater bei der Arbeit aufgeregt. Er schnaufte noch mehr als sonst. Er war so sehr auf seine Wut konzentriert, dass er vergaß sein Bier zu trinken. Das war für die Kinder ziemlich blöd, denn nüchtern war er unangenehmer. Während des Abendbrotes schnaufte und schmatzte er laut. Das Radio blieb stumm. Freya bekam kaum einen Bissen hinunter. Die Essgeräusche widerten sie an. Sie schaute zu ihrem Bruder und wunderte sich, wie er einfach so seine Salamibemme und das Frischkäsebrot essen konnte.

„Hol mir bitte noch ein Bier“, sagte ihr Vater. Freya musste sich aus der Ecke herausquetschen, um Ian und den Küchentisch herumlaufen. Sie ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür vorsichtig. Ihr Vater hatte sich herumgedreht. Sie merkte seine Blicke. Er beobachtete sie kritisch. Jeder Kubikzentimeter des mittleren Faches, war mit Bier zugestellt. Die Flasche fand sie schwer. Sie hatte Angst, dass sie ihr aus den Händen gleiten würde. Freya stellte das Bier auf den Tisch. Dann holte sie aus der Besteckschublade den Bieröffner. Sie zitterte, da sie wusste: „Diese Flasche werde ich nicht aufbekommen.“ Ihr Vater bestand aber darauf, dass Freya sie öffnete.

Mit zeithinauszögernden Schritten ging sie auf ihren Vater zu, doch als sie die Tischkante spürte, beugte sich Ian nach der Flasche und löste den Öffner aus Freyas glitschiger Hand. Es ploppte. Ian räumte den Flaschenöffner wieder in die Schublade. Jetzt sah sein Vater endgültig wie ein kochender Krebs aus.

Die Kinder waren fertig und warteten bis die Eltern aufgegessen hatten. Beim Abräumen fiel Freya ein Messer hinunter.

„Das kostet alles Geld. Ist das dein Geld? Freya? Nein, oder? Wer bezahlt das?“, meinte Frau Teutschwitz enttäuscht.

„Sie hat das doch nicht mit Absicht gemacht.“

„DU REDEST NICHT MIT MIR IN DIESEM TON!“

„Was denn für´n Ton?“

Pflatsch! machte es. Obwohl das nicht ganz stimmte, es machte viel mehr Pflaaaaaatttsssccchh?!

Denn, obwohl der Ballon unter Herr Teutschwitz Kurzarmhemd nicht mit der Menge an heißer Luft aus den kommenden Jahren gefüllt war, hatte Ian es hier nicht mit einem athletischen Schläger zu tun. Das Blöde für den Siebtklässler war nur, dass der lange Mittelfingernagel an seinem Auge kratzte. Während ihm die Tränen kamen, wollte Freya türmen, doch ihr Gewissen hielt sie an der Tür zurück.

„Ach, jetzt heult der Große wohl? Was sind wir? Ne dreckige Zigeunerin, die keine Rose verkaufen konnte? Jetzt kommt nichts mehr, du ...“

Ian hörte sich die Tirade an. Eigentlich wollte er seine Eltern nach einem Handy fragen. Das konnte er sich jetzt wohl abschminken.

Freya lag schon im Bett als Ian in das Zimmer kam. Auf ihre schüchterne Nachfrage hin, holte er liniertes Papier aus seinem Deutschhefter und legte es Freya in den Ranzen. Ian setzte sich an seine Hausaufgaben. Er machte alle, von denen er wusste. Freya spürte, wie das Bett wackelte, als er sich hineinlegte. Nach fünf Minuten flüsterte sie: „Ian?“

Doch er schlief schon. Freya hatte die ganze Zeit Angst wieder ins Bett zu machen. Bis zum Weckerklingen, verlor sie sie nicht.

Dementsprechend lange rieb sie sich am Dienstag den Schlaf aus den Augen. Während Frau Rhemberg die Sachkundedeckblätter kontrollierte, kämpfte Freya gegen ein Gähnen an. Sie dachte mit Mitleid an die Kinder mit viel weiteren Schulweg. Von den Civelekzwillingen, Dilan und Ridvan, die im August schon Neun geworden waren, wusste sie, dass sie einen ewig langen Schulweg hatten. Freya kannte den Stadtteil, den sie einmal erwähnten, gar nicht. Nach dem Klingeln war das Hausaufgabenheft schon wieder gut gefüllt. Auf dem Pausenhof entdeckten die Schüler zum Schreck aller, dass das Klettergerüst abgesperrt war. Freya verabredete sich deshalb zum Ausgleich mit Patrick. Am Nachmittag wollten sie Verstecken spielen. Doch bis dahin würde es noch seine Zeit dauern, selbst wenn man die Hausaufgaben nicht mitrechnete. Denn am Dienstag hatte Freyas 3a sechs Stunden, Unterricht bis 13:25 Uhr. Freya wollte sich gar nicht ausmalen, wann die Civelekzwillinge da zuhause sein würde.

Um 12:15 Uhr, fünf Minuten vor Ende der Kunststunde, wollte sie Ridvan danach fragen. Sie brachten gerade ihre Graphiken vor an den Lehrertisch. Dort standen sie in einer Reihe, mussten sie, sollten sie. Es war eine bananige Reihe. Freya tippte Ridvan auf die Schulter, als Frau Kolter laut rief: „Was ist denn das?“

Sie zeigte mit ihrem verhüllten Finger, Frau Kolter bestand, bis auf den Kopf, quasi nur aus Tüchern unterschiedlicher Farbe und Größe, man konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass etwas davon eine Hose war, auf das Blatt von Amalie.

Freya fand, dass Amalie den schönsten Namen der ganzen Klasse hatte. Amalie La Pureté. Amalie konnte Französisch und Deutsch. Ihre Eltern kamen aus Frankreich, genauer Strasbourg. Ian hatte ihr das in dem alten Atlas gezeigt, den er aus dem Bücherraum geholt hatte. Ian kannte sehr viele Städte. Freya hatte sich dann auch den Atlas durchgelesen. Sie hatte nicht so viele Bücher Zuhause, da nahm sie einfach, was sie in die Hand bekam. Ian kannte die Städte vom Fußball. Letztes Jahr hatten sie die europäischen Hauptstädte durchgenommen. Das war für ihn am einfachsten gewesen. Schließlich hatte, mit Ausnahme von Deutschland, jedes Land ein großes Hauptstadtteam. In der siebten Klasse standen die Länder Süd- und Nordamerikas auf dem Lehrplan. Südamerika würde ganz leicht für Ian werden. Aber Frau Kolter schimpfte mit Amalie nicht wegen mangelnder Geographiekenntnisse, sondern weil sie auf ihrer Graphik einen Kugelschreiber verwendet hatte.

Frau Kolter meinte: „Dass ich dir dafür eigentlich eine Sechs geben muss.“

Eine Sechs; für so viele Jahre würden die kleinen Schüler Angst vor dieser Zahl haben. Eine Sechs reihte sich neben dem schwarzen Mann, Spinnen und Stromschläge durch das Drachensteigenlassen ein.

Amalie wollte keine Sechs, sie weinte, stotterte, die Kinder hinter ihr wussten nicht so recht, was sie machen sollten. Marat meldete sich.

„Ich bin der Meinung, dass ich das auch ganz klar gesagt habe. Klipp und klar. Bei einer Graphik benutzt man nur Bleistifte. Ich weiß nicht, wie ich das hier bewerten soll.“

Marat meldete sich immer noch. Leider konnte Amalies Banknachbar nicht schnipsen.

„Amalie, sagst du mir, wie ich das bewerten soll? Du hast ja offensichtlich die Aufgabe nicht erfüllt. Was meinst du dazu, Amalie?“

Freya kannte das von ihrer Mutter. Sie fragte auch immer nach, obwohl man gar keine Antwort hatte. Weil die Fragen auch wie Perlen einer Kette aneinandergereiht wurden (eine ziemlich lange Kette), wusste man nie, was man antworten sollte, man hatte noch nicht einmal Zeit zum Nachdenken.

Marat trat vor zum Lehrertisch.

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