Vierecke fallen nicht zur Seite

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„Frau Kolter, das waren sie. Sie haben mit dem Kuli drauf gemalt.“

,,Also erstes Marat, man meldet sich, wenn man etwas sagen möchte, zweitens malen wir hier nicht, wir zeichnen und drittens, ist eine der Klassenregeln wie? Marat, wie ist eine der Klassenregeln? Kannst du das lesen? Schau mal zu den Regeln. Dort an der Pinnwand. Marat, was steht da? Genau, wir werden nicht lügen!“

Dann drehte sich die Kunstlehrerin wieder zu Amalie, die mittlerweile die kleinen Tränen wegwischte. Sie sagte: „Ich nehme das mal mit und schaue, ob ich dir nicht doch noch irgendwie helfen kann.“

Danach endete der Kunstunterricht. Doch bevor die Schüler ihre Ethiksachen aus den Ranzen holen konnten, mussten sie ihre Stifte wieder einsammeln. Frau Kolter ging nämlich von Tisch zu Tisch, nahm einen Bleistift von einem Kind und brachte ihn zu einem anderen. „Ist das deiner?“, fragte Neslihan. Freya war gerade zu ihrem Platz zurückgekommen. Neslihan hielt ihr einen gelben Kugelschreiber mit Drehkappe vor die Nase. Neslihan wusste von Freya, dass sie nicht immer die passenden Stifte hatte. Nicht immer die Stifte, die sie benutzen sollten. Sie durften keine Kugelschreiber verwenden, aber Freya hatte manchmal keine Patronen für ihren Füller. Dann blieb ihr nichts anderes übrig. Außerdem zerkratzte ihr Füller das Papier. Egal ob es kariert oder liniert war. Eine Feder war kaputt.

Doch Freya schüttelte den Kopf, sie hatte einen Bleistift benutzt. Doch jetzt im Ethikunterricht bräuchte sie eigentlich einen Kugelschreiber. Obwohl er nicht ihr gehörte, war sie versucht ihn trotzdem zu nehmen. Doch ihr schlechtes Gewissen meldete sich, schließlich vermisste ein Schüler der 3a diesen Stift. Sie konnte ihn nicht einfach nehmen. Hoffentlich war er noch im Raum. Frau Kolter und ein paar andere hatten das Zimmer 205 schon verlassen. Manche gingen in den Religionsraum und andere auf den Hof. Alle mussten auf den Hof, doch manche hatten es eiliger als andere. Neslihan fragte laut, wessen Kuli das sei. Doch niemand rief: „Meiner!“ Deshalb legt Neslihan ihn in das Gummifach des Tisches. Dann gingen sie auf den Hof. Nur ein paar Jungs blieben drin.

Freya, Neslihan und John liefen auf dem Pausenhof herum. Niemand von ihnen war Essenskind. Das hieß, alle drei nahmen Brotbüchsen mit und hatten keine Essensmarken für die Mensa. Patrick hingegen schon. Die Pause war sehr langweilig, schließlich war das Klettergerüst abgesperrt. Es gab einen Plastikball, aber den musste man sich beim Schulleiter abholen. Das traute sich niemand. Außerdem musste man dafür geradestehen, wenn der Ball weg war. Das wollte niemand. So ein Plastikball flog gerne mal weit und unkontrolliert weg, auch über den Zaun. Über den Zaun durfte niemand. Also verging die Hofpause ohne bemerkenswerte Ereignisse. Als es läutete schaute Freya durch die Gitter, sie versuchte Ian auf dem anderen Schulhof zu erspähen, doch da waren zu viele Schüler.

Freya und Neslihan gingen wieder in das Klassenzimmer 205. John musste in einen anderen Raum. Er hatte Religion statt Ethik. Freya wusste nicht genau, wie das funktionierte. Sie hatte Ethik seit der ersten Klasse. Sie wusste noch nicht einmal, dass man sich das aussuchen durfte und wenn, dann hätte das auch nicht viel geändert. Ihre Eltern trafen die Entscheidungen. Es schien allerdings keine Entscheidung zu sein, die in einer Steintafel gemeißelt war, zumindest bei anderen Eltern nicht. Denn die Besetzung der Religionsklasse änderte sich wöchentlich.

Freya sah, dass die anderen Jungs im Raum geblieben waren. Wie hatten sie das angestellt? Es wurde doch immer kontrolliert?

Der Raum 205 war voller Wasser. Sie hatten gerade Kunst gehabt, demnach passte das eigentlich gut zusammen. Doch sie hatten nur Bleistifte und Kugelschreiber benutzt, also keine Wassermalfarben. Auch war Sefa nicht ausgerastet und Lottes Becher war nicht umgefallen. Für das Wasser gab es also zunächst keine Erklärung. Bis Frau Willhelma-Hauff in die Klasse kam. Sie entdeckte schnell, dass die Jungs Bibeln in das Waschbecken gelegt hatten. Eine Seite fungierte als Stöpsel. Es gab einen riesigen Aufschrei. Sogar der Schulleiter wurde gerufen. Bis Freitag hatte Freya Angst, dass auch bei ihr zuhause angerufen werden würde, dabei hatte sie ja gar nichts gemacht. Doch wenn man nah am Feuer war, wurde man meistens mit angezündet. Am Freitag konnte sie durchatmen. Freitage bildeten eine magische Linie, eine Grenze, die keinen Ärger durchließ.

Freitags hatte Freya Sportunterricht, genau wie Ian. Sie machten wieder draußen Unterricht. Die Grundschule hatte keine eigene Sporthalle. Und für eine Stunde Sport lohnte es sich nicht, in die Stadt zu fahren. Die Turnhalle neben der Mycathie-Akihi-Realschule wurde am Freitag von der 7a genutzt. Ians Klasse. Es gab noch zwei weitere siebte Klassen, die hatten zusammen Sport. Im Gegensatz zu Freyas Klasse, wurden die Jungen und Mädchen drüben getrennt. Während sich Ian umzog, fragte er sich, worin der Sinn von Mädchensportunterricht bestand. Die Turnhalle der Akihi-Realschule hatte nur eine nutzbare Umkleide, in die andere regnete es hinein. Die Mädchen mussten sich in einem Klassenraum umziehen. Das taten sie aber selten. Meisten saßen sie da und hörten Frau Gumny zu. Sie war auch die Bio- und Physiklehrerin der Klasse. Vivien und Lena hatten Ian mal den Ablauf so einer Sportstunde erklärt.

Ian war sehr froh, dass Herr Titschner nicht viel von Worten hielt. Herr Titschner war nicht besonders groß, aber auch nicht klein. Seine Haare hatte er abgeschoren. Er trug eine Halbglatze. Wie es für einen Sportlehrer üblich war, schlüpfte er früh am Morgen in einen Jogginganzug und an seinem Hals baumelte eine Trillerpfeife. Die Pfeife musste er allerdings selten benutzen, so gut wie nie eigentlich. Die Jungs hörten auch so auf ihn. Deshalb beeilten sie sich auch so beim Umziehen. Obwohl die Klasse sonst sehr laut war, redete in der Umkleide niemand.

Schlagmann brauchte am längsten, er war total unsicher und wollte sich nicht ausziehen. Dabei war, bis auf ihn und Leroy, jeder mit sich selbst beschäftigt. Schlagmann saß neben Ian. Ian sah im Vergleich zu ihm furchtbar dürr aus. Man merkte, dass ihm etwas mehr Essen guttun würde. Ian hatte noch keinen Bart, das beruhigte Schlagmann. Denn, obwohl er ein Jahr älter war als die meisten, hatte er nicht einen Fussel am Kinn. Deniz, Yusuf und Erol trugen schon einen Bart.

Matthias Schlagmann trödelte weiter herum, als er seine Hose anzog, hatte Ian schon sein T-Shirt drübergezogen. Jetzt konnte man die blauen Flecke auf seinem Rücken nicht mehr sehen. Schlagmann und Leroy Irion waren die letzten, die durch die Tür in die Halle gingen. Nur noch ein paar Jungs standen gebückt vor einem Hefter. Herr Titschner hatte den Hefter mit den Leistungskontrollen auf einen Hocker gelegt. So hielt er den Sportunterricht ab. An einem Tag wurden alle Leistungskontrollen erledigt und die restliche Zeit konnte zum Spielen genutzt werden. Es wurde fast immer Fußball gespielt. Alibimäßig wurde zwar gewählt, aber die Teams standen ohnehin schon fest. Ian Teutschwitz, Adem Aslan und Karim Mansour wählten.

In Ians Team waren er, SS-Sveni, der lange Franz, Alex Okowenko und Schlagmann.

Für Adem spielten Yusuf Dursun, Alparen Erkan, der nette Erol, Mert und Caglar.

Und Karim wählte seinen Landsmann Ahmet, dessen besten Kumpel und Riccardaverehrer Deniz, den anderen Alex, sowie Leroy.

Es waren immer die gleichen Mannschaften.

An eine schwarze, kleine Kreidetafel malte Herr Titschner den Turnierverlauf an. Eigentlich war es eine Liga. Jeder spielte zweimal gegen Jeden.

Zuerst Team Ian gegen Team Adem. Herr Titschner übergab den Ball, einer dieser gelben, mit Stoffummantelung. Caglar saß als Auswechselspieler neben Karim. Am Anfang der Doppelsportstunde konnte man noch von einem relativ gesitteten Spiel reden. Adems Team führte nach zwei Minuten mit drei Toren. Kleine Tore, letzter Mann hält. Letzter Mann bei Ian war natürlich Schlagmann. Darüber war dieser auch ganz froh, er orientierte sich immer an Ians Befehlen. An Ians Seiten standen Alex und Franz, vorne spielte Sveni. Technisch und körperlich waren Adems Jungs teilweise weit überlegen. Aber Ian versuchte das wettzumachen. Er organisierte seine Mannschaft. Adem, Yusuf, Alparen und Mert standen sich häufig regelrecht auf den Füßen. Bis auf Erol spielte auch niemand ab. Sie dribbelten sich fest.

Ian rief, je nach Seite, die Mitte gehörte ihm, zu Franz oder Alex: „Stellen! Stellen!“

Er wollte nicht, dass sie ran gingen. Er wusste, dass sie ausgedribbelt werden würden. Bei Franz war es leichter, ihn zu tunneln, als an ihm vorbeizuspielen. Der Typ konnte noch überhaupt nichts mit seinem Körper anfangen, wenn er rannte, schwangen die langen Arme wie Windmühlen an seinen Schultern. Alex war da besser, aber konditionell eine Niete. Das kam von den ganzen Kippen.

Ian wollte einfach nur, dass die beiden vor Yusuf oder Adem stehen blieben, den Weg sollten sie abschneiden. Dann rannte Ian von links nach rechts und gab sein Bestes, um den Ball zu erobern. Wenn er ihn hatte, spielte er ihn immer auf die gegenüberliegende Seite, rannte in den Raum in der Mitte, hoffte einen halbwegs geraden Pass zu bekommen. Ian nahm den Ball an und spielte zu Sveni, der ab und zu das Tor traf. Allerdings waren die anderen einfach zu gut. Zumal Schlagmann auch wirklich nur zufällig Bälle hielt. Irgendwie schaffte er es, bei Bällen, die direkt auf ihn zu kamen, noch auszuweichen. Er lief schon wieder rot an, teilweise aus Scham, aber auch wegen körperlicher Anstrengung. Als er mal einen Ball abprallen ließ, festhalten konnte er ihn nicht, kam Ian zu ihm, klatschte ihn auf den Rücken und lobte ihn. Das baute Matthias auf. Sie verloren trotzdem.

Das zweite Spiel, Ian gegen Karim verlief ähnlich dem ersten. Karim und Co waren individuell wieder besser als Ians Truppe, aber lang nicht so gut wie Adems Jungs. Doch dafür waren sie genauso ein Hühnerhaufen. Sie dribbelten sich andauernd fest, drehten ab, wenn es nicht weiter ging, niemand kam zur Unterstützung. Wenn sie mal den Ball eroberten, wusste niemand wo der andere war und deshalb liefen sie einfach los. Sie zogen einen Schnickser dem Pass und einen Hackentrick dem Schuss vor. Erol schien von den anderen der einzige zu sein, der verstand, dass man beim Fußball abspielen musste.

 

Wenn er Deutscher gewesen wäre, hätte Ian ihn gerne in seinem Team gehabt.

Karims Mannschaft hatte keinen Erol, deshalb verloren sie. Sie langen schon hoch zurück, als die Nicklichkeiten begannen. Und ab diesem Punkt hatte auch Sven Spaß.

Man musste aufpassen, denn Herr Titschner ließ zwar vieles laufen, aber nicht alles. Beleidigungen waren verboten, Spucken tabu und bei Fouls, musste der gelbe Ball zumindest in der Nähe sein. Aber alles andere war erlaubt. Ian und Sven liebten es, einen Mann zu doppeln und dann beide in ihn hineinzurennen. Wenn sie ausgedribbelt wurden, ließen sie das Bein stehen. Bei Zweikämpfen ging man mit angelegtem Arm rein und drückte den Gegner dann weg. Man versuchte, so oft wie es ging, auf den Spann zu treten. Nach jedem Schuss, nach jedem Pass musste trotzdem noch in den Mann gegangen werden und Pressschläge mussten um jeden Preis provoziert werden. Wer zurückzog verlor.

In den Liedern, die SS-Sveni und Ian hörten, wurde ihnen weiß gemacht, dass sie hart wie Stahl und zäh wie Leder wären. Dem versuchten sie gerecht zu werden. Im vorletzten Spiel bekam Ian dazu die Chance. Er lief nach einem Pass von Sveni auf das Tor zu. Es war einer seiner seltenen Ausflüge an die Front. Er schoss und in dem Moment knallte Adem ihn von hinten in die Beine. Herr Titschner pfiff zum ersten Mal. Die Schüler wurden ermahnt, doch es dauerte keine zwei Minuten bis zum nächsten Zusammenprall.

Erol versprang an der Seitenlinie der Ball, weit weg vom Tor. Trotzdem gingen Adem und Ian mit Schaum vor dem Mund rein. Und nun hatten sich die Provokationen ausgezahlt; Pressschlag vom Feinsten. Adem kullerte schreiend auf dem Boden. Herr Titschner pfiff und Ian grinste.

Erol packte ihn an der Schulter und riss ihn herum.

„Ian, du bist wahnsinnig.“

Erol war mit jedem in der Klasse cool. Erol war nett und schien sich einfach mit allen zu verstehen. Bis auf Ian. Für ihn war Ian nur ein dummer Rassist.

Sicherlich sagten Adem und die anderen auch viele rassistische Sachen. Aber Ian war absolut wahnsinnig. Adem stand wieder auf und flüsterte Ian zu, dass er das zurückbekommen würde. „Wallah, ich schwör!“

Erol sah dann, wie Caglar für Adem reinkam, aber da war das Spiel dann auch fast vorbei. Sie spielten noch gegen Karims Team und gewannen dieses Spiel. Sie belegten den ersten Platz. In der Umkleide beeilte sich Erol. Er war sich nicht sicher, ob es Ärger geben würde und wenn, dann wollte er damit nichts zu tun haben. Adem redete zwar laut, aber er ging nicht zu Ian rüber. Erol wusste gar nicht mehr, weshalb die beiden sich so sehr hassten. Es war nicht so, dass es sich um einen Machtkampf handelte. Bei Ian konnte man schon von einem Klassenking reden. Das lag auch daran, dass er bei den Mädchen sehr beliebt war. So etwas brachte immer Pluspunkte. Außerdem machten Alex, Schlagmann, Franz und Sveni alles was er sagte. Aber Adem? Der hatte nun wirklich nicht den großen Rückhalt. Wenn Erol Adems Stellung mit seinem Fußballmanagerspiel vergleichen sollte, würde er sagen, dass Adem ein einflussreicher Schüler war. Ian war ein Anführer. Nicht direkt für ihn, nicht für die Nichtdeutschen, wie Ian selbst sagen würde. Doch die Mädchen mochten ihn wirklich sehr, Erol wusste, dass das allein schon Ansehen bedeutete. Adem und Ian konnten sich also wirklich nicht um einen imaginären Thron streiten. Vielleicht lag es an Lena. Erol wusste, dass Adem Lena hübsch fand. Aber wer tat das nicht? Trotzdem dachte Erol nicht, dass das ein Grund wäre. Für Jungs wie Erol und Adem war Lena unerreichbar. Lena war eines der Mädchen, die ein eigenes Zimmer hatten, sogar mit eigenem Schlüssel. Wenn ihr Vater erfahren würde, dass Lena etwas mit einem Ausländer anfangen würde, dann wäre er auf hundertachtzig. Selbst für Erol, der bis auf die schwarzen Haare und dem Bart, nichts mit dem stereotypischen „Kanak“ zu tun hatte, war klar, dass sich Lena in einer ganz anderen Liga befand. Wenn er seinen Fußballmanager als Maßstab nahm, würde er sagen Europapokalfinale und Vorausscheid Toto-Cup. Das waren einfach zwei Welten, die nur im Klassenraum aneinander kratzten. Als Erol sah, wie Adem wartete, dass Ian aus der Umkleide ging, musste er sich ein Grinsen verkneifen. Denn erst danach beleidigte er ihn. Adem war vor Kurzem aus dem „Schneiders MMA-Gym“ geflogen. Dass war ein Paulmanderer Kampfsportverein, der ein sehr hohes Ansehen genoss, da er sich für die Flüchtlingshilfe, für Obdachlose und andere soziale Projekte einsetzte. Dem Besitzer war ein soziales Miteinander extrem wichtig. Lange vor Erols Zeit, da gehörte Paulmander noch gar nicht zu Schaldstätten, war der Besitzer ein überregional bekannter Boxer gewesen. Seine verstorbene Frau hatte mit ihm das Gym aufgemacht. Adem behauptete er sei freiwillig gegangen, da das alles Nieten seien. Erol wusste allerdings, dass Adem rausgeflogen war, weil er immer nur auf Kopfjagd ging und das, obwohl Dreizehnjährige natürlich nur mit Schutzausrüstung sparren, wenn sie überhaupt Sparring machten. Außerdem hatte er sich an keinerlei Regeln gehalten. In dem Dorf, in dem Erol wohnte, arbeitete jemand in dem Gym, daher wusste er das.

Und obwohl Adem dieses Aggressionspotenzial besaß, legte er sich nicht mit Ian an. Zwar hatte in dieser Umkleide beinahe jeder mindestens zehn Cousins und Brüder, doch von Ian wusste man, dass er ein paar ominöse Gestalten kannte. In dem albernen Mikrokosmos eines Siebtklässlers, war Ian jemand, mit dem man sich nicht anlegen sollte. Zumal Paulmander auch einer der Stadtteile war, in denen Deutsche in der Mehrheit waren. Erol wollte damit wirklich nichts zu tun haben.

Vor der Tür der Turnhalle wartete Elen Civelek auf Erol. Die beiden Zwillinge standen neben ihr. Sie waren Nachbarn. Ridvan und Dilan hatten zwar schon vor einer Stunde Schluss gehabt, doch der Zug fuhr nur aller zwei Stunden. Zu viert gingen sie runter in die U-Bahnstation „Paulmander Ring“.

„Frau Gumny hat heute schon wieder die Balkongeschichte erzählt“, berichtete Elen, als sie die lange Rolltreppe runterfuhren. Obwohl Paulmander so weit draußen lag, war die U-Bahnlinie so weit unten, dass einem beim Hinabschauen fast schwindelig wurde.

Die Zwillinge fragten nach der Geschichte und Elen erzählte sie erneut, genauso, wie Frau Gumny Geschichten mehrere Male erzählte. Frau Gumnys Art Sport zu Lehren war Elen ganz recht. So wie den meisten anderen Mädchen auch. Elen mochte keinen Sport und viele Mädchen ersparten sich so die Diskussionen mit ihren Eltern, da sie keinen Sport machen durften.

In der U-Bahn saßen die Zwillinge nebeneinander. Elen saß neben Erol. Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie kontrolliert wurden. Es war nicht so, dass sie mittlerweile daran gewöhnt waren. Es war schon immer so gewesen. Sie kannten es nicht anders.

Du bist Ausländer? Na, dann zeig mal deine Fahrkarte. Keine Bitte. Ist die Karte gefälscht? Bist du das wirklich auf dem Bild? Ihr seht doch alle gleich aus. Hier Manfred, komm mal her. Zügig, zack, zack.

Mit Deutsch, Englisch und Geschichte hatten Elen und Erol wenig Schulzeug in ihren Ranzen. Elen nahm ihn an ihre Brust, verdeckte damit ein bisschen den Bauch. In letzter Zeit war sie unsicherer geworden. Erol fand nicht, dass sie dick war. Sie war nett, das war das Problem. Es gab in der Klasse dickere Mädchen, doch die waren nicht so nett, sie hatten Selbstvertrauen und stachen lieber zu als auszuweichen. Erol war auch nett, aber schlank. Er wurde nicht geärgert. Es gab nur einen Nachteil für ihn; die Mädchen mochten keine netten Kerle.

Erol mochte Lena und die mochte Ian, welcher bekanntermaßen ein Arschloch aller erster Güte war. Bei Ian nervte ihn am meisten die Tatsache, dass er trotz seiner beschissenen Art so gute Noten schrieb. Erol lernte viel, deshalb fand er es im Moment auch nicht so schlimm, dass er für die meisten Mädchen nur ein sehr guter Freund war, denn er hätte gar keine Zeit für eine Beziehung gehabt. Seine Worte. Und obwohl Erol viel lernte, waren seine Noten nur marginal besser als Ians. Zum Kotzen war das alles.

Daran dachte er, während er für eine ältere Dame Platz machte, die gerade einstieg. Am „Bokettoberg“ stiegen viele Menschen aus und ein. Aber nicht um diese Uhrzeit. Es war auch noch genug Platz in der Bahn. Aber Erol hatte gelernt, dass deutsche Omas nur darauf warteten kleine Ausländer anzuschnauzen. Er wollte ihr keine Gelegenheit dazu geben. Die Oma bedankte sich nur mit einem ganz kurzen Nicken. Wahrscheinlich wähnte sie sich im Recht und hielt es für eine generöse Geste ihrerseits.

Erol regte sich nicht darüber auf. Nicht mehr. Nett sein ersparte viel Ärger. Er stand an der Tür und schaute raus. Die Haltestelle löste sich auf. Die Bahn fuhr in den Tunnel. Die Fliesen, Bänke, Informationstafeln und der Kiosk verschwanden. „Bokettoberg“ war eine Baustelle. Die silberne Isolierfolie ließ den Bahnsteig spacig und futuristisch aussehen. Erol fand es toll, sah gut aus, hätte man so lassen können. Doch er wusste, dass eine Künstlerin den Bahnhof umgestaltete. Seiner Meinung nach würden es nur grüne Striche werden. Er kannte den Entwurf. An den kleinen Bildschirmen in der U-Bahn wurde er schon oft gezeigt. Die grünen Striche bildeten ein Kunstwerk, das hier in Schaldstätten ausgezeichnet wurde. Der Bürgermeister hatte es von der Künstlerin ersteigert. Der weibliche Künstler hatte den Erlös einem gemeinnützigen Verein gespendet, der Fixerräume am Hauptbahnhof organisierte. Das fand Erol nett von der Künstlerin.

Die U6 hielt gerade in „Paulmander Nord“, Endstation, lag nicht so tief wie der „Paulmander Ring“. Die Sonne schien durch die Treppenschächte auf den Bahnsteig. Beim Hochlaufen rutschte Ridvan der Ranzen von der linken Schulter. Erol zog die Schlaufe wieder fest. Sie mussten nun noch fünf Minuten bis zum Nordbahnhof laufen. Dort fuhr ihr Zug.

Was Erol blöd fand, war, dass der Bürgermeister Sahin für 300.000 € ein Gemälde ersteigert hatte, um es in seinem Büro aufzuhängen. Weil die Künstlerin in Schaldstätten unbeliebt war, hatten ihm das viele Wähler übelgenommen. Westlich des großen Flusses, noch hinter Weselsheim und dem Stadtzentrum, irgendwo an einer Haltestelle der U1 In Kleinsbeck, hatte die Künstlerin schon einmal eine U-Bahnstation designt. Zusammen mit dem örtlichen Fußballverein, der nur in der Regionalliga spielte, was für eine Millionenstadt wie Schaldstätten eine Blamage sondergleichen war, gab es eine große Eröffnungszeremonie. Der Verein veröffentlichte sein neues Trikot, welches er zur nächsten Saison tragen wollte. Über die Brust zog sich jenes Muster, welches die Künstlerin entworfen hatte und auch an den Wänden der U1-Station zu sehen war. Allerdings hatte sie nur bedingt die Nutzung erlaubt. Es gab einen Rechtsstreit, den die Künstlerin gewann. Der Verein musste ihr 300.000 € zahlen. Deshalb waren sie gezwungen ihren Rechtsverteidiger zu verkaufen. Damals 21 Jahre alt, beidfüßig und kam aus der eigenen Jugend. Er spielte später in der 2. Liga. Sehr variabel einsetzbar. Klassisch in der Viererkette oder als Schienenspieler in einem 3-5-2-System. Bei einer Dreierkette konnte er zur Not auch den rechten Innenverteidiger mimen. Der Verkauf des letzten echten Schaldstätteners hatte ziemlich weh getan.

Seit dem Verkauf des Stadions spielt der Verein noch nicht einmal mehr im Stadtgebiet, sondern an der südwestlichen Grenze. Ob er eine Lizenz für die nächste Saison bekommen würde, war jetzt schon fraglich, sie mussten unbedingt aufsteigen. Während Erol, Elen und die Zwillinge in den Zug einstiegen und aus der nördlichsten Grenze fuhren, dachten sie daran, dass es bis dorthin eine halbe Weltreise sein müsste.

Vier Stationen mussten die Schüler mit dem Zug fahren. Zunächst fuhr dieser wieder nach Süden und hielt am Bahnhof „Bokettoberg“, nicht zu verwechseln, mit der gleichnamigen U-Bahnstation, dann fuhren sie durch die Kleingartenanlage „Vogelshausen“, Haltestation: „Naherholung Vogelshausen“. Jetzt verließen sie endgültig das Stadtgebiet. Die Schienen lagen in einem grünen Graben und teilten ein Feld. „Nordbahnhof“, „Bokettoberg“ und „Naherholung Vogelshausen“ waren in fünf Minuten abgefahren. Nach weiteren fünf Minuten hielt der Zug in „Gabelum“. Die Gleise lagen genau in der Mitte des Dorfes. Die nächste Station war ein Bedarfshalt. Erol drückte die rote Taste. Der Zug hielt in „Tuhlmskirch“. Alle vier steigen aus. Der Zug fuhr wieder los und sie waren allein. Gefühlt mitten im Nirgendwo. Eine Straße führte über die Gleise. Die Halbschranken öffneten sich und die Kinder gingen zu den Häusern. Hinter ihnen führte die Straße ewig lang geradeaus. Pappeln standen links, Apfelbäume rechts. Sonst war da nur Feld. Es gab keinen Mittelspursteifen, keine Seitenmarkierungen und keinen Fuß- oder Radweg. Nur vom Raps umgefärbte Pinguine machten einen offiziellen Eindruck. Hinter der Apfelbaumseite lag ein Graben, das Wasser floss durch ein Rohr unter den Schienen durch. Die Kinder liefen auf der Straße, gingen in das Dorf hinein. Zunächst standen nur ein paar Häuser an der Seite. Dort, wo der Graben lag, war immer noch nur Feld. Die Straße kreuzte sich mit der Hauptstraße des Dorfes. Diese führte kurvenreich zur Kirche, welche das Zentrum des Dorfes bildete. Vor der Kirche gab es einen kleinen Ententeich, um den Holzbänke standen. In der Mitte schwamm, wenn man vom Schwimmen sprechen konnte, schließlich hielt ein Stein das Gebilde an Ort und Stelle, ein Entenhaus. So waren sie vor Füchsen geschützt. Die Meyers hatten einen Hund, der lief stets ohne Leine durch das Dorf. Vor ihm brauchten die Enten keine Angst haben, obwohl er die Wasserdistanz ohne Schwierigkeiten überbrücken könnte.

 

Der Friedhof und das Kirchhaus waren von einer kleinen Steinmauer umgeben. Neben dem Eingangstor stand eine Skulptur des Tuhlmspatzen auf einem Sockel.

Tuhlmskirch gehörte zu einer Gemeinde, deren Bürgermeister sich für die Wiederbelebung der Dörfer einsetzte. Umso größer Schaldstätten wurde, umso beliebter wurden auch die umliegenden Ortschaften, der Donuteffekt hatte aber zunächst nur Auswirkungen auf die Dörfer im Westen und im Süden von Schaldstätten. Mit Paulmander war im Nordosten schon die nächstgrößere Stadt eingemeindet worden, niemand glaubte, dass Schaldstätten in diese Richtung weiterwachsen würde. Zumindest nicht in den nächsten drei Jahrzehnten.

Im Süden gab es noch eine schöne Kleinstadt, sie profitierte von den Laubwäldern und den Baggerseen. Die Neuen zogen dorthin, die Reichen zogen dorthin. Die Leute in den nördlichen Dörfern schauten, ob sie sich eine der freiwerdenden Wohnungen im Stadtgebiet leisten konnten. Doch mit jedem Auszug wurden sie nur teurer. Um die Dörfler hier zu behalten, hatte der Bürgermeister ein paar Projekte gestartet. In jedem Dorf gab es eine Post und, was noch viel besser war, einen Dorfladen. Es war kein Tante-Emma-Laden. Man arbeitete mit einer großen Firma zusammen.

Aber irgendwie war es schön dort einkaufen gehen zu können, wo man wohnte. Nicht nur für die Älteren. Zugleich gab es auch so etwas, wie einen Treffpunkt mitten im Dorf. Und da Tuhlmskirch einen Bahnhof hatte, benötigte man noch nicht einmal ein Auto. Erol wollte hier trotzdem weg. Der lange Schulweg schlauchte ziemlich. Elen gefiel es hier, sie könnte sich vorstellen zu bleiben.

Am Sonnabendfrüh waren Elen und Erol schon um 8:00 Uhr wach. Dabei ging es gestern lang. Sicherlich bis nachts um zwei. Vierzig wurde man schließlich nicht aller Tage. Elen und ihre Geschwister hatten ihrer Tante Steffi ein Badeset geschenkt, mit Schwämmen, Schaumbädern und Badekugeln. Ihre Mutter Gabi hatte das vorgeschlagen, schließlich kannte sie ihre Schwester am besten und am längsten. Sie saßen im Garten des Dreiseitenhofes. Ursprünglich gehörte er Horst Silmer, den Opa von Elen, und seiner Frau Anke. Dann hatte er ihn allerdings an Nuri Civelek, Elens Vater verkauft und für sich und seine Frau lebenslanges Wohnrecht im Grundbuch eintragen lassen. Die beiden Rentner brauchten den vielen Platz nicht für sich allein und pflegen konnten sie das Haus ohnehin nicht mehr. Sie waren froh ihre Tochter Gabi und die Enkel wieder bei sich zu haben. Es gab auch mit Nuri keine Probleme. Auch nicht, als Nuris Arbeitskollege Alper Yilmaz mit seiner Familie in den leerstehenden Flügel einzog. Alper und Nuris Väter waren in der Türkei und in Deutschland Arbeitskollegen gewesen. Dort, wo jetzt Leute in Baggerseen badeten. Der Hof war also wieder voll. Und bei so einem Geburtstag noch mehr als sonst. Steffi Silmar hatte ihren Freund und das neugeborene Kind mitgebracht. Außerdem hatte Gülsah, die Mutter von Erol und Frau von Alper, die Kinder ihrer zweitältesten Schwester eingeladen.

Erol brachte seinen Cousins gerade Brötchen, als Horst und Anke zum Tisch kamen. Für Erol waren diese beiden, wie eigene Großeltern. Dementsprechend war Elen für ihn, wie eine Schwester, das zählte auch für die Zwillinge. Elen hatte auch noch einen Bruder, der war aber viel älter und als die Familie Yilmaz aus Schaldstätten raus und nach Tuhlmskirch reingezogen war, machte Marius schon sein Abitur. Da war Erol vier Jahre alt gewesen. Bis weit in den Mittag rein frühstückten sie. Das Mittagessen an sich viel aus. Es stand noch ein Ausflug auf dem Programm. Die ganze Bande, nur Steffis Freund blieb mit den ganz jungen Kindern zuhause, fuhr in die Stadt. Es war ein heißer Frühherbsttag. Die Familien nutzten die gute Anbindung und fuhren mit dem Zug zum „Bokettoberg“. Von der Haltestelle zum See, war es nur ein kurzer Fußweg. Es dauerte trotzdem lange, da Anke nicht mehr so gut zu Fuß war und Ridvan und Dilan viel herumtollten. Der See war brechend voll. An den Wochenenden kamen die Studenten aus dem Stadtzentrum hier her. Die Familien aus den Dörfern spazierten unter den gepflegten Schwarzerlen.

Um den See und um den Berg herum, sah Paulmander am schönsten aus. Die Einkaufpassagen und die Einkaufscenter luden zum Flanieren ein. Vom See konnte man über den Tuhlm mit einem Boot, bis zum Hafen kommen. Es roch nach gegrilltem Fleisch, es roch nach Eis und es roch nach griechischen Joghurt. Auf der Tuhlmspatzbrücke, die, wie sollte es auch anders sein, über den Tuhlm führte, stand ein Straßenmusiker. Ridvan sah, wie Patrick Schmidt Münzen in den Becher schmiss. Ridvan kannte den Jungen aus seiner Klasse. Er winkte ihn zu, aber erst nachdem Patricks Mutter ihn darauf aufmerksam machte, winkte er zurück.

„Wer war denn das?“, fragte Gabi ihren Sohn.

„Patrick, der geht in meine Klasse.“

„ ,Der´ sagt man nicht. Und ist er nett?“

„Ja schon. Er redet nicht viel. Wenn wir mit Amber Zettel schreiben, und der zu weit fliegt, dann hebt er ihn immer auf.“

„Ihr sollt doch im Unterricht keine Zettel schreiben“, regte sich Gabi auf.

Opa Horst dreht sich um, mit ihm Anke, die bei ihm eingehakt war. „Ach, lass sie“, sagte er, „solange sie der Pauker nicht erwischt, ist doch alles gut.“ dann zwinkerte er, wie nur ein Opa zwinkern konnte.

Elen und Erol grinsten vielsagend. Gabi fiel das auf, sie fragte nach dem Grund.

Elen erzählte: „Letztes Jahr hatten wir einen Geolehrer, den haben wir jetzt nicht mehr. Aber der war immer darauf aus, die Zettel zu erwischen. Da mussten wir immer ganz genau aufpassen, dass wir nicht geschnappt werden und das heimlich machen.“

Sie überschritten die Brücke und gingen durch das Tor eines Altersheimes. Der Weg war asphaltiert, Spatzen badeten in kleinen Springbrunnen. Vor dem Seiteneingang stand ein Bushalteschild. Opa Horst ging hinein. Elen erzählte weiter: „Aber der Lehrer hat sich nicht damit begnügt, die Briefchen nur einzusammeln. Und einmal, da hat er von Tania … doch Mama, die kennst du, das Mädchen, das wie Schneewittchen aussieht, die ist mit Dilan in der Buch-AG, von der hat er einen Zettel genommen. Das war ein Gespräch zwischen ihr und Adem, da saß der noch hinten in der letzten Reihe. Und Adem hat ihr geschrieben, dass er sie hübsch findet und in sie verliebt ist. Was total komisch war, da er sie nach ihrem ,Nein´, welches der Lehrer auch laut vorgelesen hatte, richtig oft geärgert hat, dass sie hässlich sei und so. Das macht er noch heute.“

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