Vierecke fallen nicht zur Seite

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Elen stoppte, als sie alle Hiltraut begrüßten. Elens Uroma saß in einem Rollstuhl. Sie wurde von Steffi zum See geschoben. Erol sah, wie ihnen Lena und Ian entgegenkamen. Ihm war es peinlich mit der Familie gesehen zu werden, doch er konnte sich nicht verstecken. Lena bemerkte ihn, aber ihr Blick verriet nicht, ob sie ihm wahrgenommen hatte. Sie hatte so eine Art. So eine kalte Art über Menschen hinwegzuschauen, als wären sie Luft.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Lehrer eure Briefe nicht lesen darf“, sagte Nuri.

„Ja, und genau das ist der Punkt. In der nächsten Geostunde hat sich ein Klassenkamerad, Ian, von ihm mit Absicht erwischen lassen. Ian hatte gebeten, den Brief nicht laut vorzulesen, doch der Lehrer hörte nicht auf ihn.“

„Hätte er es mal lieber gemacht“, schob Erol lachend ein.

„Wieso?“, fragte Gabi.

„Ian hat auf den Zettel geschrieben, dass das was der Lehrer macht, gegen das Briefgeheimnis verstößt und gegen Persönlichkeitsrechte. Mit Paragrafen und dem ganzen Quatsch.“

„Das ist ja ein starkes Stück“, Opa Horst lachte.

Gabi nahm ihre Tochter und ließ sich etwas fallen, sie fragte: „Wie heißt´n dieser Ian mit Nachnamen?“

„Teutschwitz. Wieso?“

„Ich möchte bitte, dass du dich ab sofort von diesem Jungen fernhältst. Ich kenne seinen Vater. Weißt du noch, was ich dir von dem Flüchtlingsheim und den Feuerwochen erzählt habe?“

Was für eine Frage, jeder Nichtbiodeutscher in Paulmander wusste von den Feuerwochen.

„Ja Mama, das habe ich natürlich nicht vergessen. Ich habe auch gar nichts mit ihm zu tun. Der geht nur in meine Klasse. Der kann ja aber auch nichts für seinen Vater.“

Alex gab Ian das Feuer zurück. Er pustete den Qualm seiner Zigarette in die Gesichter der Kinder, die gerade in den U-Bahntunnel hineingingen. Lena rauchte auch. Ian nahm das Feuerzeug und steckte es vorsichtig in seine Hosentasche. Man merkte, dass er sich bedacht bewegte, als würde ihm etwas weh tun oder als rechnete er damit, dass eine falsche Bewegung ihm Schmerzen zufügen könnte. Am Sportunterricht konnte es nicht liegen. Heute hatten sie nicht Fußball gespielt.

Lena hatte die Kippe von Alex bekommen. Alex hatte die Schachtel in einem Supermarkt geklaut. Damals waren noch nicht alle Schachtel hinter den runden Gittern. Das, was Lena und Alex da rauchten, hatte keine Filter. Ein Feuerzeug hatte Alex nicht erbeutet, seine Mutter hatte auch keins zuhause. Nur eine Streichholzschachtel für die Kerzen und es würde ihr auffallen, wenn diese fehlen würde. Ian rauchte zwar nicht, doch er hatte immer ein Feuerzeug dabei.

„Telefonieren wir heute wieder?“, fragte Lena zwischen zwei Backenzügen.

„Wann?“, fragte Ian. Er hatte das Angebot von Alex doch angenommen. Dessen altes Handy lag nun in seiner Hosentasche. Es war Ians erstes Handy. Frau Okowenko, Kalina, hatte für Ian eine Prepaidkarte gekauft und ihm gezeigt, wie man das Guthaben auflädt. Ian hatte versprochen das Geld zurückzuzahlen, aber Kalina hatte das abgewunken. Es sollte nur ein Geheimnis bleiben. Ians Eltern mussten es nicht erfahren.

Lena rief Ian an, so musste er nichts bezahlen, Lena hatte ja eine Flatrate. So richtig wusste Ian immer noch nicht, was das bedeutete. Aber es war auch nur gerecht, dass es Lena war, die bezahlte. Schließlich bestanden Telefonate zwischen den beiden Siebtklässlern zu neunzig Prozent aus Lenas Geschichten und zu zehn Prozent aus Ians zustimmenden, knappen Worten.

Anscheinend waren sie jetzt zusammen. Ausgesprochen hatte es niemand. Die Sommerferien waren wohl nur eine überlange Pause gewesen. Es war Freitag. Zwei Wochen, zehn Schultage und achtundfünfzig Unterrichtsstunden waren vergangen. Der Zauber eines neuen Schuljahres war komplett verflogen. Ian genoss die Telefonate mit Lena, auch wenn sie von dem Wind und dem Straßenlärm auf seiner Seite der Leitung genervt war. Lena nervte ihn nicht. Sie fragte nicht, wie es ihm ging oder was er erlebte. Sie erzählte, wie ihr es ging und was sie erlebte. Dazu wollte sie Ians Meinung hören. Sie erzählte, was ihre Eltern ihr gekauft hatten, sie erzählte, wie langweilig Tanias neues Oberteil war und wie toll sie den Kuss fand. In dieser so kleinen Welt eines Siebtklässlers waren sie ineinander verknallt. Am Mittwoch hatten sie sich das zweite Mal geküsst. Am Spielplatz neben dem Schwanenteich. Das war der Tag, an dem Ian zu spät nachhause kam.

Er wusste nie genau, wann er zuhause sein sollte. Vor seinem Vater, das war klar. Aber der kam manchmal um sieben und manchmal um acht. Da sollte das Essen auf dem Tisch stehen und Ian und Freya in ihrem Zimmer sein.

Herr Teutschwitz war ziemlich sauer, als Ian die Haustür aufschloss. Da es schon spät war und Herr Teutschwitz keine Zeit mehr verplempern wollte, schlug er Ian gleich im Flur zusammen. Ian merkte, dass er noch kein Bier getrunken hatte. Nüchtern war sein Vater aktiver. Die Schläge waren okay, klar er hätte auch darauf verzichten können, aber er war daran gewöhnt. Außerdem schlug sein Vater nur mit den Fäusten zu. Die Mutter nahm den Schuhanzieher oder die nassen Wischtücher zu Hilfe. Und danach redete sie immer mit ihm.

„Warum machst du es denn so schwer? Möchtest du dich nicht deiner Schwester zuliebe besser benehmen?“

Die Worte taten meist mehr weh. Dazu kam noch, dass er stärker war als seine Mutter. Der Stärke verprügelt den Schwachen, die Regel konnte Ian akzeptieren. Aber wenn ihn seine Mutter schlug, war das anders. Die Schläge seines Vaters hielt Ian ganz gut aus. Doch an diesem Tag war es sehr schlimm. Ians Vater schlug ihn eigentlich immer gegen den Körper, manchmal gab es zwar Ohrfeigen, aber meist ging es gegen den Körper. Brust, Bauch, Rücken, Schulter. Herr Teutschwitz hielt sich an das, was der Papst gesagt hatte. An diesem Tag traf Herr Teutschwitz Ian an der Leber. Erst merkte Ian nichts. Zwei Sekunden später klappte er wie ein Campingstuhl zusammen, er rutschte an der Haustür runter. So etwas hatte er noch nie gespürt. Da war kein Kampfgeist, keine Widerstandskraft. Sein Körper hatte einfach gesagt „Nup“ und das war´s.

„17:00 Uhr?“, fragte Lena.

Ian überlegte, er wollte heute noch etwas mit Freya machen, dann sagte er: „17:00 Uhr ist okay. Ich kann aber nur eine Viertelstunde.“

Lena merkte zu spät, dass die Gruppe hinter ihnen sich auflöste und ein paar der Leute zu Ian gingen.

„Na, Russe“, sagte Kralle. Alex wurde gleich einen ganzen Kopf kleiner. Auch Lena fühlte sich unwohl. Das lag auch daran, dass Riccardas Schwester Sarah neben Kralle stand. Lena lästerte immer über diese großen Brüste, aber irgendwie machten sie ihr ... ja ... sogar ein bisschen Angst. Sie kratzen an ihrem Selbstbewusstsein und das machte ihr Angst, Sorge wohl eher. Dass sie selbst kleine Brüste hatte, hinderte Kralle nicht daran, voll drauf zu starren. Lena schaute zu Ian. Sie erwartetet alles von ihm. Er sollte machen, dass die Blicke aufhören, er sollte selbst nicht auf Sarahs Brüste schauen und er sollte mit ihnen jetzt gehen. Kralle und Sarah machten ihr Angst. Die beiden waren böse, da war sich Lena sicher. Schlechte Menschen. Jetzt stellte sich auch noch Carlo Schikowski dazu. Doch, bevor der etwas sagen konnte, meinte Ian, dass Alex dazu gehörte und einer von „uns“ sei. Carlo grinste, als Ian das sagte. Kralles Augen blitzen. Ian gab meist einen Fick darauf, ob jemand größer oder älter war. Er hatte ein gutes Gespür, er wusste, wem er widersprechen konnte und wann er sein Maul halten sollte. SS-Sveni war da ganz anders, er war sehr impulsiv. Das handelte ihm eine Menge Ärger mit den Lehrern ein. Das fand Ian nicht so schlimm, Ärger mit Lehren nahm er auch gerne mal mit, das nahm er in Kauf. Aber nur, wenn er im Recht war. Nur wenn das, was der Lehrer machte diesen diffusen deutschen Ehrenkodex mit den überschriebenen Wörtern „Treue, Ehre und Stolz“ widersprach. Nicht um jeden Preis zankte er sich mit den Lehrern. Auch, weil sie meistens zuhause anriefen und seine Eltern das so semigut fanden. Aber SS-Sveni war da anders, er regte sich wegen jedem Scheiß auf, auch wenn er absolut im Unrecht war. Auch deshalb lag er sich mit Kralle oft in den Haaren. Und Kralle war niemand, mit dem man Streit haben wollte.

Was Erol über Ian dachte, traf auf Kralle zu hundert Prozent zu. Aber Ian konnte Alex nicht beleidigen lassen. Alex war einer seiner Freunde. Seine Freunde ließ er nie im Stich.

Deutsch sein, heißt treu sein.

Lena und Alex verabschiedeten sich so schnell wie es ging. Kralle wollte dem „Russen“ noch einen Spruch drücken, doch Ian fiel ihm ins Wort. Das tat er nicht leichtfertig. Kralle könnte ihn ziemlich zu Klump hauen. Dazu war sein großer Bruder auch noch in der Partei. Kralle war in allem extremer. Wenn es nach ihm ging, sollte man nur reindeutsche Freunde haben.

Freya freute sich sehr. Sie hatte nur vier Stunden gehabt. Keine Hausaufgaben. Sie schaute auf die Uhr. Sie wusste, wann Ian freitags sonst nach nachhause kam. Freya war erkältet. Die Zeit verging langsam.

„Na, wo ist mein kleines Nießmonster?“, rief Ian, als er die Haustür aufschloss.

„Ey, du steckst mich ja noch an“, scherzte er, als Freya ihn umarmte.

Er ging schnell in Bad und aß danach mit Freya Toast. Getoastetes Toast. Das war ihr Geheimnis, das mussten die Eltern nicht erfahren.

Es war ein besonderer Tag und der Toaster blieb intakt. Alhamdulillah

Freya protestierte, doch Ian bestand darauf. Sie sollte sich eine Strickjacke anziehen und ein Halstuch. „Wenn es zu warm wird, kannst du das ja immer noch ausziehen.“

Vom Kleinhauerweg, bis zum Schwanenteich, bis zur Teutebergstraße, war es nicht weit. Die Teutschwitzkinder waren es gewohnt zu laufen. Aber ähnlich wie Ridvan und Dilan, verzögerte auch Freya das Vorankommen. Sie war sehr neugierig, sehr aufgeweckt. Sie ließ ihre Augen von einem Haus zum anderen, von einem Auto zu einem Passanten rasen. Sie stellte Ian viele Fragen. Nicht auf alle hatte er eine Antwort. Er hielt Freya für sehr schlau, schlauer als sich selbst. Sie hatte ihre Schulbücher, die Schulbücher von Ian und den Atlas zweimal gelesen. Sie las sehr gerne, das wusste Ian. Deshalb gingen sie auch in die Teutebergstraße. Dort hatte er nämlich etwas entdeckt.

 

In ein paar Wochen konnte Ian für Freya Bücher aus dem Bücherraum klauen. Er verstand nicht so ganz, weshalb es ihr Freude machte Goethe, Schiller und Willhelm-Hauff zu lesen, aber das war ja nicht sein Bier, nicht sein Brot, nicht sein Toast. Ihr sollte es Spaß machen. Wenn sie sich freute, freute er sich mit. Aber es würde eben noch ein paar Wochen dauern. Nach den Ferien wurde der Raum noch zu oft benutzt. Es wurden noch Bücher ausgetauscht, denn viele Eltern waren nicht damit einverstanden, dass ihr Kind Schimmel auf dem Mathebuch hatte. Außerdem wurden die ersten Pflichtlektüren verteilt. Ian würde in diesem Jahr nur ein Buch lesen. Lessings Nathan der Weise. Ansonsten würden sie nur Grammatik behandeln. Frau Lärmer-Nilmarch war in den Genitiv und in Partizippronomen verliebt.

Freya hatte Lessing schon gelesen. Sie erzählte Ian, um was es ging.

Als sie in der Teutebergstraße ankamen, zeigte Ian ihr, was er entdeckt hatte. Die Telefonzelle war umgestaltet worden. Holzbretter waren angeschraubt. Auf dem Boden standen Pappkisten. Die Tür zierte ein Schild mit der Aufschrift „Nimm ein Buch, gib ein Buch“.

Freya strahlte, bis sie realisierte, dass sie gar kein Buch dabeihatten. Aus einem der Fenster der Mehrfamilienhäuser schaute wieder die Oma. Ian zog ein Fußballheft aus seiner Hosentasche hervor. Es hatte nur A5-Format und lag mal irgendwo bei. 300.000 € hatte der Rechtsverteidiger gekostet. Wie viele Bücher man davon hätte kaufen können. Locker genug, um Freya für ein Jahr zu beschäftigen.

Ian hatte kein Gefühl für so viel Geld. 300.000 € waren für ihn so viel wie eine Million. Unerreichbar. Er hatte schon keine Ahnung, wie er Kalina die fünfzehn Euro für die Prepaidkarte zurückzahlen sollte. Die Jungs, die auf dem Schulhof das Gras und das andere Zeug vertickten, die hatten bestimmt genug für ein ganzes Handy. Das war ihm aber zu heikel. Außerdem gehörte alles was mit Drogen zu tun hatte den Türken.

Für Ian war das klar. Das waren alles Türken, egal was auf ihren Pass stand.

Und mit den Clans wollte er nichts zu tun haben. Mit Türken wollte er nichts zu tun haben. Mit Drogen wollte er erst recht nichts zu tun haben.

Denn Deutsche nehmen keine Drogen. Kralles Worte.

„Such dir ein Buch aus“, sagte Ian und Freya zog sofort eins heraus. Es handelte sich um ein Jugendbuch.

„Theodor Tatze reist an den Nordpol“ von Lars Dietjes.

Freya war noch ein Kind. Das sah Ian wieder. Er war froh, dass es so war. Er war froh, dass sie viel zuhause saß und Bücher las. Die Eltern waren ja eh nicht da. Ian wollte nicht, dass sie wie er draußen herumturnte. Nicht, weil er dachte, dass Mädchen nicht draußen sein sollten, sondern weil er wusste, wie sie draußen behandelt wurden. Er hatte die Blicke von Kralle gesehen. Er wusste, wie er über Mädchen sprach. Er hatte auch Lenas Blicke gesehen. Doch er hatte nicht aufs Sarahs Brüste geschaut. Und selbst wenn er das getan hätte, dann hätte er sie nicht wahrgenommen. Sie wären Luft für ihn gewesen, denn er war mit Lena zusammen. Auch wenn es niemand ausgesprochen hat. Und er war verknallt in sie.

Und Deutsch sein, heißt treu sein.

… Theodor Tatze schnurrte zustimmend. Was Willibert der Wal sagte, ergab Sinn. Er bräuchte eine Jacke und er bräuchte Handschuhe für seine Pfoten. Am Nordpol würde es bitterkalt werden. Theodor Tatze fror leicht. Er war kein Streuner. Deshalb wollte er an den Nordpol. Er wollte sich selbst etwas beweisen. Und er hatte es versprochen. Und Versprechen muss man halten. Versprochen ist versprochen und wird nie gebrochen. Theodor Tatze hatte es seiner Freundin Hanna versprochen. Hanna war eine Streunerin. Sie hatte ihm gezeigt, wie man fliegen lernt …

Freya mochte es, ihrem Bruder vorzulesen. Am Anfang war sie ganz aufgeregt. Schließlich brach man nicht aller Tage in ein Haus ein. Doch nachdem Ian ihr durch das Fenster geholfen hatte und ihr Versprechen abnahm, sich immer an ihm festzuhalten, während sie auf dem Dach hockten, entspannte sie sich. Das leerstehende Haus war verlassen. Adem und seine Cousins waren nicht da. Das Haus war aus der Zeit gefallen. Es würde noch stehen, wenn Glasbüros Felder zu Häuserschluchten machen. Herberge zweier, die vom ersten bis zum letzten Namenstag vergiftet waren. Als Freya die ersten Zeilen las, war sie voll in der Welt des Theodors. Sie vergaß auch ihre Enttäuschung. Ian und sie waren zu dem Tierheim über den Hügel gegangen. Sie hatten nicht damit gerechnet, einen Hund streicheln zu dürfen. Sie wollten nur schauen, doch trotzdem wurden sie verjagt. Freya vergaß, dass sie heute noch in die Wohnung zurückmussten. Hier oben auf dem Dach, mit dem Blick auf die Felder und die Baumgruppe schien Paulmander ein schöner Ort zu sein. Ian hörte ihr zu. Er vergaß nichts. Auch nicht, dass er 16:55 Uhr sein Handy rausholen musste. Er hatte es Lena schließlich versprochen.

Und Versprechen hält man ein. Es gehört sich so.

Buch 1 -3-

„Is´was mit dir? Bist du sauer?“

Lena streichelte dabei mit der Hand über ihren Arm. Sie hatte den Ärmel des kornblumenblauen V-Ausschnittpullovers nach oben gekrempelt, da sie ihn nicht mit Farbe beschmieren wollte. Sie spürte eine Gänsehaut, weniger wegen Ians schlechter Laune, sondern vielmehr, weil es verdammt kalt im Raum 204 war. Draußen war es stockdunkel, dabei war es 11:50 Uhr. Doch die Sonne hatte sich dazu entschieden, an diesem Spätherbsttag im Bett zu bleiben. Ähnlich wie Frau Szchemanek, ihre Englisch- und WTH-Lehrerin war nämlich krank, doch der Unterricht der 7a fiel nichts aus. Stattdessen hatten sie, statt nur einer Stunde Kunst, davor noch eine zweite. Frau Müller war damit einverstanden gewesen, für Kunst musste man nicht viel vorbereiten.

„Ja, Frau Müller hat mich vor der Stunde zusammengefaltet.“

Ian war auf die Lehrertoilette gegangen, schlimmer Fehler. Lehrer ließen viel durchgehen, man konnte Klassenkameraden schlagen, Mitschüler mobben, Hefter stehlen und anzünden, aber wehe man ging auf die Lehrertoilette. Wenn es ihnen so wichtig war, hätten sie sie ja einfach abschließen können. Doch das taten sie nicht. Die weiße Tür stand offen und so nutze Ian seine Chance. Die Jungstoilette im zweiten Stock war nämlich furchtbar. Das WC war ein quadratischer Raum mit einer Pissrinne am Boden. Es gab keine Trennwände und man konnte vom Flur aus, einen großen Teil sehen. Ian konnte da einfach nicht. Er verstand ja, dass man Kinder nicht wie echte Menschen behandeln musste, aber das ging ihm einfach zu weit. Frau Müller teilte seine Auffassung nicht. Dementsprechend griesgrämig saß er neben Lena.

„Ah, okay. Was hast du denn gemacht?“

Lena war erleichtert. Seit Ian selbst ein Handy hatte, konnte sie ihn nicht einfach so ihres in die Hand legen. Er wusste jetzt, wie es funktionierte. Sie wollte nicht, dass er sich Nachrichten anschaute, die ihn nichts angingen. Wenn sie ihn nun etwas zeigen wollte, behielt sie das Gerät in ihrer Hand. Das musste ihm aufgefallen sein. Sie hätte gedacht, dass er deswegen sauer war. Erleichterter konnte sie sich nun wieder ihrem Bild widmen. Ian und sie teilten sich einen Wasserbehälter. Deshalb musste sie manchmal warten. Sie hatten nur einen Wasserbecher, weil es ihm Raum 204 keinen Abfluss gab. Zumindest keinen funktionstüchtigen. An den Seiten der Tische gab es verkleisterte Waschbecken, mit ausziehbaren, grauen Hähnen. Die haben ihren Geist aber schon vor Ewigkeiten aufgegeben. Ungefähr an dem Tag, an dem das Wasserohr brach. Große Flecken konnte man an der Decke sehen. Man roch sie auch. Deshalb waren an Herbsttagen die Fenster geöffnet. Am schlimmsten waren die Schüler dran, die am Montag ihre erste Stunde im Raum 204 hatten. Wenn zwei Tage lang nicht gelüftet wurde, stank es schlimm nach Schimmel.

„Bringst du es dann weg?“

„Das Wasser?“

„Ja, bitte.“

„Klar, kann ich machen.“

Da der Raum 204 keinen eigenen Abfluss hatte, mussten die Schüler die Wasserreste in den unteren Kunstraum bringen. Da war es schon häufig zu Unfällen gekommen.

„Wollen wir heute Nachmittag etwas machen?“

„Geht nicht, hab einen Arzttermin“, antwortete Lena.

Das war Ians Laune nicht gerade zuträglich. Aber er war auch einfach drüber, müde und dauerhungrig. Ihn nervten diese lauten, dreckigen Räume. Ian nervte das schlechte Wetter, denn es bedeutete, dass er am Wochenende zuhause sein würde. Eigentlich waren diese zwei Tage das Highlight der Woche. Jeder Wochentag war gleich öde. Ian fragte sich wirklich, weshalb er den Scheiß hier machte. Er wollte nicht malen, er konnte nicht malen und er bezweifelte ganz stark, dass ein Picasso mal gesagt hatte: „Zum Glück hatte ich Kunstunterricht. Das hat mich echt weitergebracht. Knorke Sache.“

Die traurige Straße auf seinem A3-Blatt deprimierte ihn. Sie sollten etwas zum Thema Perspektiven malen. Ian malte einfach das Bild aus dem Lehrbuch ab. Er hatte nicht den Hauch von Kreativität in sich. Eine halbe Stunde lang konnte er sich auf die Malerei konzentrieren, doch dann verlor er die Lust daran. Er sah in diesen Mühen einfach keinen Sinn. Ian schaute auf die Uhr neben der Tafel. Es waren noch zehn Minuten. Er schnaubte und Lena schaute auf. Ihr Blumenbeet vor einem Fluss sah niedlich aus. Ian würde gerne einmal aufs Land. Raus aus dieser lauten Großstadt. Raus aus dieser kleinen Wohnung. Weg von diesem Essenstisch, an dem nur geschwiegen oder geschrien wurde. Raus aus diesen alten, schimmligen Räumen. Ian wollte raus. Dort wo man sich in ein echtes Blumenbeet legen konnte. Dort, wo die Wolken nicht von Flugzeugen und Hochhäusern zerrissen waren. Er wollte sich das Summen von Bienen anhören. Und er wollte nicht nach seiner Meinung gefragt werden, er wollte keine Entscheidungen treffen. Er wollte einfach seine Ruhe haben.

Ian schaute auf die Uhr; noch neun Minuten. Die Zeit ging einfach nicht vorbei. Ian kippelte mit dem Stuhl, um aus dem Fenster zuschauen. Auf der ehemaligen Freifläche wurde jetzt gebaut. Man konnte schon die Stahlgerüste des Hochhauses sehen. Die Warnwesten der Bauarbeiter leuchteten unter der dunklen, geschlossenen Wolkendecke. Der Wind zog stark an ihnen. Es flogen auch ein paar wenige Blätter vorbei. Es gab ja nicht mehr viel Bäume in Paulmander. Ian schaute wieder auf die Uhr; noch zehn Minuten. Oar, es kotze ihn einfach alles an. Wie konnte das denn sein?

Als es endlich klingelte schaute er in Lenas Ranzen. Meist aß sie ihre Brote nicht auf. Gefühlt aß sie sogar weniger als Freya, doch ausgerechnet heute lag in der blauen Dose nur noch eine kleine Möhre. Dafür war der Ranzen voll mit diesen Zeitschriften. Lena ging ein ziemlich hohes Risiko ein, denn wenn ein Lehrer sie gefunden hätte, würde es garantiert Ärger geben. Sie lag Ian nun schon seit mehreren Wochen mit dieser Sache in den Ohren. Doch Ian hatte irgendwie Angst. Fühlte sich nicht bereit. Doch das konnte er natürlich nicht zugeben, schließlich war er der Mann. Also musste er es ja wollen. Er wollte ja auch. Doch jetzt noch nicht. Doch umso länger er es hinauszögerte, desto mehr redete Lena davon.

Ian ging rüber zu Schlagmann, viele Schüler waren schon auf dem Hof. Es war zwar eisig und windig und, dass es blitze, schien nur eine Frage der Zeit zu sein, doch es hatte noch nicht abgeklingelt.

„Ey, Schlagi, hast du zufällig noch etwas zu Essen für mich?“

Matthias zog eine Brotbüchse aus seinem Ranzen, größer als Freyas Malbox, er hielt sie Ian hin. Darin lag eine Vollkornschnitte, mit Frischkäse und ein Schnitzelbrötchen mit Salat. Matthias griff nach dem Butterbrotpapier, er hielt Ian das Brötchen vor die Nase. Doch der winkte ab.

„Ne, lass. Ich ess´ die Stulle. Danke dir, Tiger.“

Ian drehte sich mit dem Essen um. Er wollte eigentlich zum Jackenhaken gehen. Dabei stolperte er und ließ beinahe das Brot fallen. Schlimmer als das Fallen war, dass er sich das T-Shirt versaute. Er rutschte mit dem Ärmel nämlich an dem Waschbecken ab und blaue, weiße und gelbe Farbflecken blieben am Stoff kleben. Das war wirklich ein ernsthaftes Problem. Denn alle Sachen, die Ian nicht mehr passten, bekam seine kleine Schwester Freya. Da war es egal, wie sie aussahen. Ian hatte einmal, kurz bevor er wirklich nicht mehr in die Jeans gepasst hatte, ein Loch in seine Hose gerissen. Er hatte gehofft und geglaubt, dass Freya nun eine neue bekommen würde. Doch da hatte er die Rechnung ohne seine Mutter gemacht. Freya fand es jedenfalls nicht amüsant, mit so einer Hose in die Schule zu müssen. Nun würde sie noch so ein schmutziges Shirt bekommen, die Farben gingen ja nicht raus. Ian, der ohnehin schon bedient war, trat aus Wut gegen das Waschbecken und eine Fließe brach entzwei. Dann schaute er, worüber er eigentlich gestolpert war.

 

„So ein Scheiß!“, rief er laut.

Ahmet, Adem, Lena und Schlagmann waren noch im Raum und schauten zu Ian.

Es war ziemlich sicher Ahmet, der den Vorschlag gemacht hatte.

„Lass mal alle rausziehen“, hatte er gesagt und so hatten sie es auch gemacht.

Der gesamte Fußboden des Kunstraumes bestand aus Holzklötzen. Bei Ians Stolperfalle hatte sich ein Klotz nach oben gedrückt. Man konnte ihn herausziehen. In Windeseile arbeiteten sich die vier Schüler (Schlagmann stand an der Tür Schmiere) durch den Raum. Die Klötze hatten sie, zusammen mit der zerstörten Fliese, in die Waschbecken geschmissen.

Adem wollte, dass sie im Raum blieben. Er wollte die ersten Reaktionen sehen.

„Das ist dumm. Dann wüssten sie gleich, dass wir es waren.“

Als würde auf der Mycathie-Akihi-Realschule jemand etwas auf Beweise geben.

Adem wollte nicht auf Ian hören. Schlagmann witterte Stress. Er war sowieso schon überrascht gewesen, dass die beiden gemeinsame Sache machten. Aus eigenem Sicherheitswunsch hatte er die Tür bewacht. Von Streithähnen hielt man sich besser fern. Er, Lena und Ahmet waren jedoch Ians Argumenten zugetan und verschwanden aus dem Kunstraum. Wenige Sekunden später kam Adem auch.

Das runde Glas nahm fast die Hälfte des Tresens ein. Der Inhalt sah aus, wie etwas, das der Tuhlmspatz ausgeschissen hatte. Aber Ian war sich ziemlich sicher, dass es sich um Kekse handelte. Oft genug war er im Sekretariat gewesen. Frau Müller hatte ihn hierhergeschickt. Stinksauer war sie gewesen. Ihn, Adem und Deniz hatte sie herausgepickt. Natürlich wusste sie nicht, wer es war, aber irgendjemand musste zum Rektor. Dass sie mit Adem den Richtigen erwischt hatte, war purer Zufall, Deniz hatte laut gelacht und Ian wurde immer ausgewählt, um die Kartoffelquote zu erfüllen. So viele Alternativen gab es in der 7a nicht. Lena hatte sich keine Sorgen machen müssen. Fairerweise musste man Frau Müller zugestehen, dass Schülerinnen selten ganze Räume zerstörten. Außerdem hatte sie zwei Drittel der Schuldigen erraten, so schlecht konnte ihr Bauchgefühl nicht sein.

Ian war nicht sauer, dass Lena ungeschoren davonkam. Sie war halt ein Mädchen, er hoffte einfach, dass Freya ähnliche Privilegien bekam. Er fand es auch nicht unfair. Schließlich hatte sie wohl nur mitgemacht, um Eindruck zu schinden. Was er unfair fand, war die Sache mit den Kompetenznoten. Lena hatte selten ein Buch mit und statt Hefter nur Blöcke, trotzdem bekam sie immer eine Eins in Ordnung. Außer in Englisch hatte sie sich noch nie gemeldet; Fleiß: Eins. Das hätte ihn alles nicht interessiert, wenn es bei den Kopfnoten geblieben wäre. Aber auf der Akihi-Realschule bekamen sie auch sogenannte Kompetenznoten. Die zählten als richtige Noten und konnten einem den Schnitt versauen oder aufhübschen. Da Ian relativ häufig im Sekretariat saß, traf bei ihm nicht das Letzte zu.

„Du sollst jetzt rein“, sagte Deniz, der gerade aus Frau Giebenraths Büro kam. Adem war als erster drin gewesen. Jetzt lief Ian durch das Büro der stellvertretenden Schulleiterin, die Tür des Rektors Herr Mähnel stand offen. Immer, sie war nämlich gar nicht mehr da.

„Hallo Ian, kannst du bitte zurück gehen und anklopfen. Das gehört sich so.“

Herr Mähnel hatte stets ein scheißfreundliches Auftreten.

„Soll ich links oder rechts am Türrahmen klopfen? Rechts, oder? Rechts ist immer besser.“

Herr Mähnel war ein Rassist durch und durch. Das wusste jeder. Er war ganz dicke mit dem „Heimatlehrer“ befreundet. Ein ehemaliger Sachkundelehrer der Tuhlmspatz-Grundschule. Heute war der nicht mehr Lehrer, sondern betrieb eine Internetseite, mit allerlei Verschwörungstheorien. Sobald in Schaldstätten eine Versammlung stattfand, war er beteiligt und sobald der Bürgermeister Özer Sahin etwas sagte, war er dagegen. Der „Heimatlehrer“ war kein vorwärts gerichteter Mensch. Das gefiel Ian nicht. Manchmal hatte er mit ihm gesprochen. Wenn die Partei die CDs austeilte. Herr Mähnel hielt allerdings nichts von Parteiarbeit. Er sah aus wie ein Maulwurf. Herr Mähnel sah so sehr wie ein Maulwurf aus, dass alle Menschen, die jemals so bezeichnete wurden, aufatmen konnten. Und Herr Mähnel war auch ein einer. Ian hatte als Deutscher nichts von ihm zu befürchten.

„Sag mal Ian, kannst du mir verraten, wer das mit dem Raum war? Der Mohammed meinte, du wärst es gewesen.“

Herr Mähnel gab sich nie Mühe beim Merken bestimmter Namen. Ian wusste aber auch, dass weder Adem noch Deniz ihn verraten hatten. Jedes Haar an seinem Körper, noch hatte er ja nicht viele, dementsprechend vorsichtig musste man diese Aussage verstehen, sträubte sich. Aber Ian musste zugeben, dass diese Typen, die er nun wirklich überhaupt nicht abkonnte, ihren Mund immer hielten. Herr Mähnel versuchte seine Schüler gegeneinander auszuspielen. Seine zweitliebste Beschäftigung, nach dem Einbestellen von muslimischen Müttern, die vor ihn saßen und weinten, weil Herr Mähnel mit dem Jugendamt drohte, war das Bespitzeln von Schülern.

„Du kannst mir alles sagen.“

Der Typ hatte zu viele Filme geschaut. Ian hielt ihn für eine Snitch, keinen echten Deutschen.

Er vertrat die falschen Werte und dachte es wären die richtigen.

Herr Mähnel hätte gut zur Stasi gepasst. Der Schulleiter der Akihi-Realschule versuchte sich ein Netz von Spionen aufzubauen, lockte mit Versprechungen, wollte auch wissen, was die Kinder privat so trieben. Er redete weiter auf Ian ein, aber der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er war anderen Psychoterror gewohnt.

„Warum machst du es denn so schwer? Kannst du dich nicht Freya zuliebe benehmen?“

Ian wusste, hier würde nichts mehr passieren. Das Ding war einfach zu groß. Wenn man ein Bild oder eine Skulptur kaputt gemacht hatte, brauchten die Lehrer keine Beweise. Da konnten sie einfach einen rauspicken und der war es dann. Aber bei so etwas Großen würden sie Beweise brauchen und die gab es nicht, vorausgesetzt jeder hielt seinen Mund.

Ian wurde entlassen und ging aus dem Schulgebäude heraus. Vor der U-Bahnstation wartete Adem auf ihn. Seinen Bus hatte er wegen des Verhörs verpasst.

„Ich habe nichts gesagt. Gar nichts“, versuchte er Ian zu überzeugen.

„Ich auch nicht.“

Ian ging an ihm vorbei und runter in den Tunnel.

Frau Lärmer-Nilmarch hasste Stuhlkreise. Doch als Klassenlehrerin gehörte dies nun einmal zu ihren Aufgaben. Irgendwie mussten die Schuldigen ausgemacht werden. Sie ahnte zwar, wer es war, denn meist handelte es sich um dieselben drei, vier Pappenheimer, doch sie konnte es nicht beweisen. Sie versuchte mit den Schülern über das Problem zu reden. Aber es war so laut. Immer war es in dieser Klasse so laut. Es ging ihr tierisch auf die Eierstöcke. Sie konnte auch nicht schreien, denn da war ja die Sache mit ihrer Piepsstimme. Solange es nicht die eigene Mutter ist, gibt es wenig unangsteinflößendere Geräusche, als Frauengebrüll, würde der gemeine Chauvinist sagen. Dann sollte er allerdings mal Schneiders MMA-Gym in Paulmander besuchen. Da gab es zwar nicht viele Frauen, aber selbst Melissa, die dreizehnjährige Tochter des Inhabers, schrie wie William Wallace. Blöd für Frau Lärmer war, dass sie nicht im Gym trainierte und auch den Film nicht kannte. Noch blöder war, dass sie die neue Technik, welche sie auf der Fortbildung gelernt hatte, anwendete.

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