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Sari: Edition IGW #6
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1.3Liegt es an der evangelistischen Kultur der Gemeinde?

Über Gemeindekultur, Gemeindephänomene oder auch Gemeindecharakter wurde bislang nur sehr wenig geschrieben. Wie im folgenden Kapitel dargestellt, findet man Hinweise dazu nur am Rande entsprechender Werke zum Thema Gemeinde, Gemeindeaufbau oder Evangelisation der Gemeinde. Diese lassen aber den Verdacht zu, dass einer solchen Kultur doch viel mehr Bedeutung zugemessen werden muss, wenn die Gemeinde evangelistisch aktiv und effektiv werden soll. Hieraus ergibt sich die Forschungsfrage für meine Studie. Ich wende mich bewusst dem Phänomen einer evangelistischen Kultur der Gemeinde, die den Ungläubigen anzieht und zugleich integriert und in den rechten Glauben sozialisiert, zu. Mir geht es damit um Evangelisation als Prozess der Integration des Menschen in das Erleben des Glaubens. Dabei setze ich voraus, dass Evangelisation den Weg des Menschen zu Gott beschreibt. Ein solcher Weg schließt immer alle Lebensbereiche des menschlichen Daseins mit ein und er wird nicht allein durch Worte, sondern ganzheitlich durch Leben, Wort und Tat vermittelt.13

1.4Flexicurity – Herausforderung und Chance

Eine Studie zur Bedeutung der Gemeindekultur für Evangelisation erscheint mir als dringend nötig. Noch nie standen die Chancen für Evangelisation in unserem Land günstiger als heute. Noch nie waren Menschen so orientierungslos und verwirrt wie heute. Noch nie war unsere Gesellschaft so krank wie heute. Noch nie war das Evangelium vom Heil so gefragt wie heute.

Zugleich aber liegt den Menschen die Welt zu Füßen. Die Menschen unserer modernen Gesellschaft sind überaus flexibel und mobil, und die Welt um sie herum ist zunehmend zu einem Dorf geworden, durch das man innerhalb weniger Stunden jettet. Mühelos holt man sich Orientierung und Lebensführung von nebenan. Im Internet kann jede Frage in wenigen Sekunden mit einer Antwort versehen werden. Auch und gerade dann, wenn es um religiöse Orientierung geht. Man könnte annehmen, wir Menschen haben bereits alles, was zu unserem Lebensglück nötig wäre. Mobilmachung galt lange als das Allheilmittel, mit dem man der wachsenden Flexibilität des Lebens und vor allem der Ökonomie zu begegnen suchte. Heute weiß man, dass die dadurch gewonnene Freiheit der Entscheidung wesentlich zur Entwurzelung der Menschen beigetragen hat und in der Konsequenz eine Reihe sozialer Übel mit sich brachte.14 Der Verlust der „Heimat“ resultierte nicht selten im Verlust sozialer Identität – mit all den vorhersehbaren psychosozialen Folgen. Mobilität und Flexibilität förderte und forderte Individualität, doch daraus ist nur zu oft Einsamkeit geworden. Der Mensch, auf sich allein geworfen, weiß bald nichts mehr mit sich selbst anzufangen.

Flexibilität allein scheint daher nicht die erhoffte Antwort auf die Herausforderungen einer mobil gewordenen Welt zu sein. Der Mensch braucht Schutz, Geborgenheit, erschlossene soziale Räume, um gesund leben zu können. Diese Erkenntnisse führten dazu, neben der Flexibilität der Bevölkerung auch nach sozialen Sicherungsmechanismen für die Menschen zu fragen. Der Ruf nach einer „vorsorglichen Sozialpolitik“ ist nicht mehr zu überhören.15 Daraus ist das Modell der Flexicurity entstanden. Flexicurity, zusammengesetzt aus Flexibility und Security, beschreibt einen Lebensraum, der beides leistet – globale Beweglichkeit und lokale Verwurzelung.16 Es ist faszinierend zu sehen, wie man heute bemüht ist, ein solches Konzept städteplanerisch umzusetzen. In Berlin werden zum Beispiel Hochhaussiedlungen nicht nur mit einem dazugehörenden Parkhaus, sondern auch mit einem Gemeinschaftshaus im Hof gebaut. Die Bewohner einer solchen Anlage sollen nicht nur gut wohnen, sondern auch Gemeinschaft haben. Wohnraum in der Stadt soll Dorfcharakter erhalten. Nur auf diese Weise, so die Städteplaner, kann der Vereinsamung und dem sozialen Verfall Einhalt geboten werden.

In der sozialen Arbeit hat man längst erkannt, dass man die soziale Verwurzelung der Menschen am gegebenen Ort nur schafft, wenn man diese zur Partizipation an der Entwicklung sinnvoller Lebensräume ermutigt. Dabei gilt das Prinzip „Teilgabe wächst mit der Teilnahme“.17 Menschen, die am Leben des Gemeinwesens teilnehmen, werden sich letztlich auch bei den Herausforderungen des Gemeinwesens mit einbringen. So entstehen jene inklusiven Netzwerke, die den Einzelnen abholen, wo er ist, und zur Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben vor Ort ermutigen. Jerg und Goeke beschreiben das anschaulich am Beispiel der Integration von Behinderten in Projekte der Gemeinwesenarbeit (GWA).18

Wo sonst, wenn nicht hier, kann und sollte die Gemeinde Jesu ihre Kraft und Energie einsetzen? Als Ekklesia Gottes ist sie die zur Verantwortung für den Ort zusammengerufene Gemeinschaft.19 Sie ist lokal verortet und zugleich global aufgestellt. Wie kein anderes Institut der modernen Gesellschaft verkörpert sie die Flexicurity-Ideale. Hier finden Menschen sowohl soziale Wurzeln wie auch Innovation und Flexibilität des Geistes Gottes. Denn Er weht, wo Er will. Er lässt sich nicht in das Korsett einer menschlichen Kultur und Ideologie fassen. Und die von ihm angeführte Gemeinde (2Kor 3,17) ebenso nicht. Sie kann den Juden ein Jude und den Heiden ein Heide sein, ohne dabei in absoluter Anpassung zu ersticken (1Kor 9,19ff). Ja, noch mehr, sie muss und sie wird, falls sie missionarisch interessiert ist, eine solche Kontextualisierung suchen. Nur so kann sie Menschen zum Glauben führen.

Was aber wäre nötig, um Evangelisation in den Rahmen einer solchen Suche der Menschen nach Heimat und lokaler Verwurzelung zu verorten? Seit Gerhard Schulzes Forschung in den 70er- und 80er-Jahren zur deutschen Erlebnisgesellschaft20, leben wir in unserem Land in einer Welt, die viel Wert auf Freizeit- und Kulturerfahrung jenseits des normalen Alltags legt.21 „Der Erlebnismarkt hat sich zu einem beherrschenden Bereich des täglichen Lebens entwickelt. Er bündelt enorme Mengen an Produktionskapazität, Nachfragepotential, politischer Energie, gedanklicher Aktivität und Lebenszeit. Längst sind Publikum und Erlebnisanbieter aufeinander eingespielt.“22 Wenn Menschen nach Erleben suchen, wie müsste sich da Evangelisation gestalten?

1.5GWA als Grundstruktur des modernen Gemeindebaus

Eine Gemeinde, die sich der Flexicurity-Probleme der Menschen annimmt, die nach Heimat und Lebensorientierung, nach sozialer Verwurzelung und ganzheitlicher Erneuerung des menschlichen Daseins fragt, wird sich bewusst in Gemeinwesenarbeit (GWA) engagieren. Gemeinwesenarbeit stellt heute das Arbeitsprinzip der sozialen Arbeit dar und stammt ursprünglich aus der christlichen Nächstenliebe. Wie kein anderes Modell der Gesellschaftstransformation ist die GWA geeignet, christliche Gemeindearbeit zu fördern.23 Hier kann Evangelisation einen ganzheitlichen Rahmen finden.24

GWA-Projekte stehen immer vor der Herausforderung, beides in den Blick zu bekommen – die Bedürfnisse und Notlagen der Einzelnen und die der Gemeinschaft als Ganzes. Ohne die Personalisierung der sozialraumorientierten Gemeindearbeit, verliert diese ihren Anschluss an den Einzelnen und damit auch den Kontakt zum Ganzen, stellt doch das Gemeinwesen immer auch die Gemeinschaft im Lebensraum lebenden Individuen dar. Auf der anderen Seite kann es unmöglich nur um die Belange des Individuums gehen, weil diese nicht selten unterschiedlich sind und die exklusive Konzentration auf die Bedürfnisse des Einzelnen letztlich die Gemeinschaft als Ganzes infrage stellt. Sozialraumorientierte Gemeindearbeit wird daher nicht ohne bewusste Sozialisierung in ihren GWA-Projekten auskommen.25 Imke Niediek schlägt vor, die Brücke zwischen den beiden Orientierungen in der Institutionalisierung der GWA-Projekte zu suchen.26

Eine solche Institutionalisierung kann im Rahmen der lokalen christlichen Gemeinde erfolgen. Damit würde die lokale Gemeinde sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft als Ganzes dienen. Freilich setzt die Entscheidung, die Gemeinde im sozialen Raum zu verankern und im Sinne einer GWA aufzubauen, eine Reihe von wichtigen theologischen Vorbedingungen voraus. Ein solches Konzept verlangt nach einem distinktiven gesellschaftstransformativen Gemeindebegriff, der in die Missio Dei eingebunden ist. Zum anderen wird in einer solchen Gemeinde Mission und Evangelisation ganzheitlich verstanden. Das Evangelium wird hier in Wort und Tat verkündigt und meint immer den Aufbau des Reiches Gottes mit seiner Konzentration auf eine Kultur der Liebe, Annahme und Partizipation. Einer solchen Gemeindekultur widmen wir uns nun im weiteren Verlauf der Studie.


2 Evangelisation – die ganze Gemeinde für den ganzen Menschen

2.1Auf das rechte Verständnis kommt es an

Wer sich anschickt zu evangelisieren sollte wissen, was man da tut. Einig sind sich die Christen in dieser Frage jedenfalls nicht. Während die einen an die verbale Verkündigung mit dem Ziel der Überzeugung des Nichtgläubigen denken, sehen andere eine ganzheitliche Veränderung des Menschen in das von Gott gedachte Bild, die sowohl verbale als auch tatkräftige Verkündigung meint.27 Alle Christen sind sich auf jeden Fall einig, dass die Evangelisation mit der Vermittlung des Evangeliums, der guten Nachricht vom Heil in Jesus Christus, zu tun hat. Damit geht es in der Evangelisation um das Evangelium und die Art und Weise, wie dieses Evangelium zu den Menschen gebracht wird.

 

2.2Das Evangelium – Gute Nachricht vom Leben in der Kraft Gottes

Evangelisation macht das Evangelium bekannt, jene, wie George Peters sie nannte, „außergewöhnliche Botschaft“28, die Leben schaffen und verändern will. Es ist Gottes Vorstellung und Gottes Angebot des Lebens unter seiner Herrschaft. Und dieses Angebot ist uns Menschen durch Jesus Christus formuliert worden. In Ihm allein ist Heil (Apg 4,12). Er ist es, der Leben vermittelt. Jesus selbst spricht: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh 14,6). Leben aus der Hand Gottes gibt es demnach nur in Christus. Wer in Christus ist, der ist „eine neue Kreatur“ (2Kor 5,17). Im Wort von ihm ist Gottes Kraft zum Leben (1Kor 1,18). Und dieses Leben schließt alle Lebensbereiche ein. Der Mensch ist immer ganz gemeint. Das Evangelium von Jesus Christus ist ein Evangelium vom Reich, vom Leben unter der Königsherrschaft Gottes (Mt 4,15). Es verbietet sich, es theologisch zu verengen.29 Wer evangelisiert, der wird den ganzen Ratschluss Gottes, sein Lebensangebot in Wort und Tat weitergeben. Der wird Gott, seine Herrschaft und seinen Willen für den konkreten Augenblick verkündigen.30

Diese Heilsbotschaft gilt allen, weil Gott will, dass alle „zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1Tim 3,16) und Versöhnung erfahren (2Kor 5,18–20). Wo immer das Evangelium gelebt und gepredigt wird, da wird die Versöhnung zwischen Gott und Mensch und zwischen Mensch und Mensch sichtbar und hörbar. Und damit die Botschaft vom Kreuz, dem Leidenstod Christi, der den Weg zur Versöhnung weit aufgemacht hat. Kein anderes Symbol beschreibt das Evangelium so treffend wie das des Kreuzes. Dem Kreuz gebührt die zentrale Stellung in unserer Theologie der Evangelisation.31 Die Evangelisation der Gemeinde kommt vom Kreuz und führt zum Kreuz. Hier macht sie den Ort fest, an dem Lebensveränderung möglich wird. Und es ist ein Ort, an dem der Mensch seine absolute Ohnmacht zur Versöhnung mit Gott und der Selbstbefreiung aus dem Netz der Sünde zugibt, zugleich aber sich vor Gott beugt, der ihm in Christus die Gnade erweist und Beistand leistet. Wo immer das Evangelium nun gelebt und gepredigt wird, wird es auch um Versöhnung zwischen Mensch und Gott und Mensch und Mensch gehen.

Damit erweist sich die evangelistische Botschaft als Rede von Gott, seinem Willen und Liebe, seinem Gericht und Gnade und seinem exklusiven und die ganze Existenz des Menschen umfassenden Heilsangebot in Jesus Christus.

Menschen, die dieses Angebot verstanden und angenommen haben, werden sich an Gottes Werten orientieren. Der Apostel Johannes schreibt: „Daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind“ (1Joh 2,3–5). Evangelisation schließt die Nachfolge Jesu mit ein und die Nachfolge Jesu stellt einen Prozess der Transformation des Menschen in das von Gott gewollte und gedachte Ideal dar (Eph 4,12ff).

2.3Gemeinde Jesu – Gottes erwählter Evangelist

Das Evangelium kommt zu den Menschen durch Botschafter des Evangeliums. Es bedarf eines Evangelisten. Die „Präsenz“ des Evangeliums setzt die „Präsenz“ eines Evangelisten voraus.32 Nur wo ein solcher Botschafter ist, findet die Botschaft ihren Adressaten. Doch wer ist dieser Botschafter? Traditionell sah man besonders begabte Verkündiger als Träger der Evangelisation. Und sicher ist das nicht falsch.

Aber auf den begabten Prediger allein kommt es nicht an. Philip W. Keevil schreibt in seiner Untersuchung der Predigt in Zeiten amerikanischer Erweckungen: „Wenn die Predigt ein Teil der Bewegung des Geistes in den Gemeinden ist, die geistliche Vitalität verursacht und in supranaturalen Effekten resultiert, dann kann man Erweckung beobachten.“33 Der Geist Gottes wirkt also in der Gemeinde und er wirkt auch durch die Predigt, aber nicht nur. Das ganze Gemeindeleben ist hier gefragt. Leben und Wort gehören zusammen.

Gott ist der eigentliche Agent der Evangelisation in der Welt. Und die Gemeinde ist sein wichtigster Botschafter. Sie ist „die Übersetzerin und Verständlich-Macherin des Evangeliums.“34 Die Gemeinde ist der wichtigste Agent, durch den Gott in der Welt evangelisiert.35 Und Evangelisation ist „Herz und Leben der Gemeinde“, wie Hans Kasdorf es so treffend ausdrückte.36 Ihr Arbeitsplatz ist Evangelisation.37 Sie sollte deshalb immer von ihrem missionarischen Auftrag her gedacht und gebaut werden.38 So gesehen kann sie nur als missionale Gemeinde, eine Gemeinde, die von ihrem Wesen her missionarisch ist, geglaubt und gelebt werden. Als solche wird sie nicht einfach zu sich rufen, sondern zu den Menschen gehen, die Gott noch nicht kennen. Sie existiert in der „Geh- und nicht in der Komm-Struktur“39 Damit ist alles, was sie ausmacht, evangelistisch bestimmt. Wenn man will, hat das Evangelium in der Gemeinde seine Gestalt gefunden. Und zwar immer jene lokale Gestalt, die Gottes Wort Fleisch werden lässt und so den Menschen verständlich wird. Eine solche Gemeinde wird immer als gesellschaftliche Alternative, aber nie als Fremdelement40 wahrgenommen werden.

In dieser evangelistischen Gemeinschaft haben Menschen von Gott die besondere Begabung eines Evangelisten erhalten (Eph 4,11). Diese sollen „die Heiligen zurüsten zum Werk ihres Dienstes“ (Eph 4,12). Damit leiten sie die Evangelisation der Gemeinde im jeweiligen Kontext. Wichtig ist, dass es nicht um die Evangelisation einzelner Evangelisten in der Welt geht. Die Evangelisten sind eingebunden in das evangelistische Gesamtwerk der Gemeinde. Und jede selbstständige Gemeinde ist laut Henry Venn und Rufus Anderson eine selbst-proklamierende41 und damit selbst-evangelisierende Gemeinde. Sie wird sich zwar auch der Hilfe von außen erfreuen, bedarf dieser jedoch nicht direkt. Ein Gastevangelist oder auch Evangelisationswerk sind Hilfsinstrumente der Evangelisation – der Hauptakteur in der Evangelisation ist jedoch die Gemeinde. Hilfsinstrumente können nur in einzelnen evangelistischen Veranstaltungen, nicht aber in der Evangelisation der Gemeinde an sich eingesetzt werden. Und da Evangelisation weit mehr ist als Veranstaltung,42 ist auch der Einsatz solcher Hilfsinstrumente begrenzt.

Dabei ist es wesentlich, dass alle Glieder der Gemeinde mit allen ihnen gegebenen Gaben des Heiligen Geistes in den Prozess der Evangelisation hineingenommen sind. Wie der Körper des Menschen sich nur dann unbeschwert voranbewegen kann, wenn alle seine Glieder intakt und gesund sind und „mitgehen“, so auch der Leib Christi, die Gemeinde. Sie wird evangelistisch erfolgreich, wenn sich alle ihre Glieder für Evangelisation einsetzen. Die Koordination aller Gaben auf das eine missionarisch-evangelistische Ziel bewirkt Multiplikation.43 Evangelisation wird somit zu einem „Wagnis für alle“.44 Man kann diesen Team-Einsatz in der missionarischen Arbeit der Urkirche deutlich beobachten, wie Gottfried Schille in seiner Darstellung der Mission der apostolischen Gemeinden plausibel macht. Er spricht sogar von der „urchristlichen Kollegialmission“.45

Die evangelistische Gemeinde steht im Auftrag Gottes, folgt der Methode Christi und wird vom Heiligen Geist geleitet. Aus der trinitarischen Theologie der Evangelisation ergeben sich die wichtigsten Setzungen für den evangelistischen Alltag der Gemeinde.46

2.4Kultur der Hingabe

Gemeinde-Evangelisation folgt dem Beispiel Jesu. Sie, die Gemeinde, ist gesandt, wie er gesandt wurde (Joh 20,21). In seiner Evangelisation findet sie ihren Meister und das Vorbild. Jesus beginnt seinen evangelistischen Einsatz auf der Erde, indem er den Menschen, die er zum Leben führen will, gleich wird. Er, das ewige Wort Gottes, Gott in Person, wurde Mensch, lebte unter den Menschen – und dann haben Menschen in ihm die Herrlichkeit Gottes erkannt (Joh 1,1–12). Freilich kostete das unseren Herrn alles, sogar sein Leben (Phil 2,6ff). Doch ermöglichte seine Hingabe erst Evangelisation.

So wie der Meister taten es auch seine Jünger. Paulus, der große Missionar und Evangelist der Urkirche, war bereit, den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu werden, damit er diese für den Glauben an Jesus gewinne (1Kor 9,19ff). Seine Identifikation mit den Heiden handelte ihm großen Ärger bei den Juden ein und schließlich lieferten diese ihn den römischen Behörden als Aufrührer aus. Gefängnis und schließlich Tod waren die Folgen. Identifikation mit den Menschen, die man für Jesus gewinnen möchte, ist nicht ohne Opfer zu haben. Jesus benutzt daher auch für seine Nachfolger die Bezeichnung Zeuge, griechisch martys (Apg 1,8), ein Begriff, dem wir das deutsche Wort Martyrium entlehnt haben.

Eine evangelisierende Gemeinde, wollte sie dem Vorbild Jesu treu bleiben, begibt sich in die Lebenswelt der Menschen, die sie für Gott gewinnen will. Sie wird sich in ihre Kultur hineindenken und sich dieser bewusst anpassen. Sie wird den „Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche“, den Deutschen ein Deutscher und den Russen ein Russe werden. Evangelisation setzt grundsätzlich ein solches bewusstes Hingehen voraus. Theologisch gesprochen, reden wir an dieser Stelle von der Inkarnation und Inkulturation des Evangelisten in die Lebenswelt der Menschen.47 Wo die stattfindet, da wird der Evangelist sprachfähig und das Evangelium verständlich.

Eine solche Hingabe an die Menschen und ihre Kultur ist freilich nicht einfach. Sie erfordert die Bereitschaft, sich sowohl dem Fremden zu nähern als auch die liebgewonnene eigen Kultur aufzugeben. Ohne der „Hilfe von oben“ scheint der Prozess nicht zu gelingen. Jesus traute es seinen Jüngern nur zu, wenn diese den Heiligen Geist empfingen. „Ihr werden die Kraft des Heiligen Geistes empfangen“, sagte er, „und dann werdet ihr meine Zeugen sein in Jerusalem, in Judäa, Samarien und bis an das Ende der Welt“ (Apg 1,8). Man kann eine solche Hingabe an den fremden Kontext, an die fremde Lebenswelt nicht aus sich selbst heraus produzieren. Sie würde nicht lange durchhalten und sich bei den ersten Schwierigkeiten totlaufen. Es bedarf keines geringeren Beistandes als des Heiligen Geistes selbst, um sich so für die Menschen hinzugeben.48 Nur eine Gemeinde, die unter der Führung des Heiligen Geistes steht, wird letztendlich auch eine den Menschen zugewandte und hingegebene Gemeinde sein.

Die Hingabe an die Menschen, die man mit dem Evangelium vom Reich Gottes bekanntmachen will, setzt also voraus, dass man sich mit ihnen identifiziert. Und Identifikation verlangt nach ganz bestimmten Einstellungen, ohne die keine wirkliche Identifikation stattfinden kann. L. Lutzbetak, der sich eingehend mit der Identifikation des Missionars mit seinen Hörern beschäftigt hat, nennt drei solche Einstellungen:

1. Empathie, oder die Fähigkeit, sich der Gefühlswelt seines Adressaten zu nähern;

2. Anpassung des Inhalts und der Methode der Vermittlung der Guten Nachricht an lokal-kulturellen Setzungen, wo das ethisch und religiös verantwortbar ist;

3. Integration in die von der lokalen Kultur gesetzte Lebensweise. 49

Wer Menschen mit dem Evangelium erreichen will, der wird es demnach nur dann erfolgreich können, wenn er sich in ihre Kultur hineindenken und -fühlen kann und Wege und Mittel findet, die Botschaft des Evangeliums verständlich, als „einer von ihnen“ weiterzugeben. Gourdet schreibt dazu: „… Identifikation kann nur durch realistische Anteilnahme am Leben der Leute erreicht werden; nicht indem man für sie arbeitet, sondern mit ihnen.“50 So gesehen wird man sich als Evangelist nur dann den Menschen wirklich effektiv nähern können, wenn man bereit ist, sich ganz auf die Menschen und ihr Leben einzulassen51 und von und mit ihnen zu lernen. Ohne einen solchen unbedingten Lernwillen kann wahre Identifikation nicht werden.52

 

Identifikation mit dem anderen kann allerdings nicht meinen, dass man mit dem anderen völlig identisch wird. Das war auch Jesus nie. Er blieb wahrer Gott. „Er (…) hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein“ (Phil 2,6) und identifizierte sich bewusst mit Gott, dem Vater. Wie er, so sind auch wir Christen in der Welt, jedoch nicht mehr von dieser Welt (Joh 17,11ff). Als Jünger Jesu bleiben die Christen bei aller Identifikation mit ihren Hörern anders. Die Gemeinde Jesu ist eine Kontrastgesellschaft zur Welt. Sie wird sich niemals in der Welt auflösen, es sei denn die Welt stellt sich ganz und gar unter die Herrschaft Gottes. Sie ist Zeichen und Gestalt des Reiches Gottes! Sie ist zwar in der Welt, aber doch niemals von der Welt! Dieses Anderssein gibt der Gemeinde das Recht und die Kraft, in der Welt zu evangelisieren.