Der Fall - Amos Cappelmeyer

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Den zweiten Wodka kippte ich in einem Zuge hinunter. Vom Keeper bekam ich ungefragt Salzstangen dazu. Meine Überlegungen suchten verzweifelt Antworten. Der Täter musste sich von hinten genähert haben. Die Zacken boten zwei Optionen: erstens, ein Kampfmesser, zweitens ein Brotmesser.

Also denk nach, Cappelmeyer, denk nach. Wer zum Henker würde eine so schöne Frau töten? Auf ihrer Arbeit! Weshalb wurde sie zum Opfer?

Der Gedanke, warum sie ausgerechnet vor meinem Zimmer lag, ließ mir keine Ruhe, eines jedoch schien von vornherein klar zu sein, der Täter war männlich!

Die maskuline Bedienung hinter dem Tresen zeichnete sich durch eine ausgeprägte Beobachtungsgabe aus, er schenkte unaufgefordert nach. Die brennende Flüssigkeit rann die Kehle hinunter. Ein Genuss. Meine Blicke durchbohrten den attraktiven, jungen Mann, ohne ihn tatsächlich zu sehen. Er fühlte sich unbehaglich, doch ich beschwichtigte mit der Erklärung, dass ich Lösungen suche ...

Zur späten Sunde setzte sich eine elegante, großgewachsene Frau um die vierzig einen Hocker weiter zu meiner Rechten. Sie trug ihr kastanienbraunes Haare offen, war auffällig geschminkt und genoss meine ungeteilte Aufmerksamkeit, so viel stand fest. Genüsslich kippte ich meinen 3-Fachdestillierten. Ihre Blicke musterten mich auf ihren Anspruch hin. Gezupfte Augenbrauen verrieten einiges über einen Menschen und bekundeten Interesse. Außer meiner Wenigkeit war weit und breit kein anderer Mann in Sicht, nur der Jüngling hinter der Bar, was für ein Segen. Ihre langen Beine zappelten nervös umher. Höflich, nach Cappelmeyer-Art, bot ich ihr einen Drink an. Sie wandt sich mir lächelnd zu, rückte einen Stuhl auf. Der Barkeeper stellte ein zweites Glas für die Lady ab. Gentlemanlike füllte ich ihr Trinkgefäß zur Hälfte, doch sie schien eine Harte zu sein.

»Halbe Sachen machen wir nicht.« Sie drückte den Flaschenkopf runter, bis das Gefäß randvoll war. »Prosit.«

Wir ließen die Gläser klirren.

Ein Abend zum Entspannen.

»Du kannst mich Kitty nennen«, bot sie an. Freimütig erzählte sie von ihrem geschiedenen Mann. Der Ex lebte irgendwo im Ausland. Kinder im Alter von fünf und sechzehn Jahren erfüllten ihr Leben nur zum Teil.

»Es muss doch noch mehr geben!«

Ich nickte taktvoll. Die beiden Stammhalter waren beim Vater für die Ferien oder ein langes Wochenende, was auch immer. »Sturmfrei«, nannte sie ihren Zustand. »Eigentlich mache ich mir nichts aus Alkohol.«

»Ich auch nicht«, bekräftigte ich den besonderen Anlass. Der heutige Abend war der ihre. Ihre Hände suchten die Meinen. Ich setzte den nächsten Wodka an die Lippen, – der Wievielte war es? - da passierte es: Sie küsste mich. - Mich alten Sack! Meine Gefühlswelt bestand aus heillosem Chaos. Was verdammt stimmte mit mir nicht? Noch nie in meinem Leben wurde ich so zärtlich geküsst! Ich war siebenundvierzig ...

Ihre Lust auf meine Zunge war erbarmungslos.

Die angebrochene Flasche und die bezaubernde Frau im Schlepptau, was brauchte ein Mann mehr. Undefinierbare Gefühle in der unteren Körperregion breiteten sich aus. Vor der Tür stehend übernahm die schöne Fremde den Zimmerschlüssel, weil ich nicht wusste, in welche der beiden Öffnungen die Karte eingeführt wurde. Die Tür sprang auf, sie betrat staunend meine Wohnlandschaft.

»Sapperlot, so ein Zimmer hätte ich auch gern!« Ihre Kleider verstreute sie auf dem Weg ins Schlafzimmer. Ich dachte, das gibt es nur im Fernsehen. Zuerst die Pumps, dann die Bluse. Die Unbekannte hatte eine echt geile Kiste. Meine Glocken der Glückseligkeit schlugen Alarm. Ich Hengst hatte noch nie eine Stute wie diese. Nur Sekunden später fand ich sie erotisch auf dem Bett drapiert vor. Wiehern hätte ich bei diesem Anblick können. Passend dazu gingen mit meinen Hormonen die Pferde durch.

Unbeholfen streifte ich mir die Sachen ab, um dann entblättert vor ihr zu stehen, mit einem Ständer, der nach Erlösung schrie. Ich krabbelte auf das Bett, konnte den Segen noch nicht fassen. Ihre Brüste hatten gelitten durch das Stillen der Kinder, doch für mich war sie die betörendste Frau in diesem Universum. Unsere Lippen erfreuten sich aneinander, unwillkürlich lebten wir unsere Leidenschaft in vollen Zügen. Sie hatte Kondome dabei. Das Latexteil fand seinen Weg auf meinen Prachtjungen, ich selber wäre dazu nicht in der Lage gewesen.

Wir hatten uns gefunden, nach langer Zeit der Einsamkeit. Immer wieder holten wir uns ab, Liebe zu empfangen, bis wir schweißgebadet nebeneinanderlagen. Küsse des Dankes für die schönen Momente stimmten mich glücklich. In dieser Nacht weilte ich auf einem andern Stern, tief erfüllt schlief ich ein.

Die REM-Schlafphase führte mich zurück zur Asphaltfräsmaschine, die hatte unter dem Licht der Straßenlaterne ein Kreuz in die verbliebenen Teerschichten gefräst. Ich versuchte, schärfer zu sehen. Eine eindeutig weibliche Person war dort eingebettet, vernagelt mit Bügelklammern, unfähig, sich zu bewegen. Ein Mann, dieser Gunar, lachte mich fies an, gab den Wink, die monströse Maschine in Bewegung zu setzten.

»Stopp!« Ich kämpfte mit mir, nicht ins Schreien zu verfallen. Die rotierende Fräswalze bewegte sich träge vorwärts, hatte aber bereits die roten Pumps zerfetzt. Die kleinen Knöchelchen der Füße flogen wie scharfe Nägel umher, bohrten sich dabei in umstehende Verkehrsschilder.

Phalanges, Metatarsalia, Talus.

Ich konnte das Grauen nicht fassen. Kalter Schweiß brach mir aus.

Loses Fleisch wurde förmlich zu Brei verarbeitet. Sie kreischte unter Höllenqualen. Noch.

Tränen der Hilflosigkeit bahnten sich ihren Weg durch meine geschlossenen Lider. Mittlerweile hatten sich die Frässcheiben zu den Knien hochgearbeitet. Die Frau war zäh. Ihre Lider flatterten, doch die Augen wurden leer. Die Aussichtslosigkeit der Situation hatte sich in ihr Hirn gemeißelt. Wie konnte ich helfen? Ich musste doch etwas tun!

Atemnot nahm mich in Besitz. Ich vermochte nicht länger hinzusehen, aber gleichzeitig war ich unfähig, den Blick abzuwenden. Sie fixierte meine Augen, um Erlösung flehend und nun erkannte ich sie: Meine erste sexuelle Erfahrung, die Liebe für einen Abend, doch ich stand der Situation völlig machtlos gegenüber.

Das Becken war zerfetzt ... dann überfuhr die Maschine den leblosen Rest der einst stolzen Frau. Dabei zog die Fräse einen breiten, schmierigen Blutstreifen über den dunklen Asphalt.

Ich schrie wie am Spieß und wachte schweißgebadet gegen vier Uhr morgens auf. Allein. Es brauchte eine geraume Weile, bis ich mich sortiert hatte. Langsam begriff ich, es war nur ein böser Traum gewesen, der mich in diesen Zustand versetzt hatte.

Ich schälte mich aus dem nassen Laken, ließ mich einen Meter weiter am Tisch nieder und goss einen Wodka pur in Zimmertemperatur ein. Im Normalfall würde ich niemals einen Drink ohne Eis zu mir nehmen, aber außergewöhnliche Situationen erforderten Abstriche. Meine Geschmacksknospen empfanden den Alkohol als beruhigend.

»Gott sei Dank«, murmelte ich vor mich hin. »Nur ein Traum.« Der anstrengende Sex, - kein Traum - , verlangte Tribut, ergo legte ich mich wieder aufs Ohr. Der Schlaf riss mich erneut tief hinunter.

Gerädert vom nächtlichen Trauma stand ich um elf Uhr auf. Eine Dusche versprach Entspannung. Ein mittelprächtiger Schriftsteller hatte häufig dämonische Träume und es war mir verhasst, sogar sehr.

Das Gesicht war gerade frisch rasiert, da pochte es an der Tür.

»Moment!«

Wie sollte es anders sein, die Polizei, die immer paarweise anrückte. Entzückend.

»Herr ... Kappelmeier

»Das bin ich.«

»Hauptkommissar Vogt. Wäre nett, wenn wir uns kurz unterhalten könnten«, sagte der Kräftigere des Pärchens.

»Bitte kommen Sie herein.« Ich wies auf die Wohnlandschaft und bemerkte, dass der Zweite die Nase rümpfte. Müssten die mir nicht eigentlich aus der Hand fressen?

»Herr Cappelmeyer, bitte nehmen Sie platz.«

Das verhieß selten Gutes. Mein Gehirn spielte mir Streiche, vor meinem inneren Auge malte ich mir das Schlimmste aus, doch es sollte noch ärger kommen. Zu allem Übel hatte ich bisher keine Silbe, kein einziges Wort für den Roman geschrieben. Unerfreulicher noch, ich hatte nicht den geringsten Schimmer, worüber ich schreiben sollte, dabei hing meine Zukunft davon ab. Ich begann zu verzweifeln.

»Herr Cappelmeyer, haben Sie mir zugehört? Nein? Na fein. Sie wurden gesehen, wie Sie gestern Nacht mit einer Dame die hauseigene Bar verlassen haben ...«

»Das ist richtig.«

»Kannten Sie die Frau gut?«

»Kann ich nicht behaupten.« Faktisch wusste ich rein gar nichts über sie, nur dass sie die zärtlichste Frau war, die mir je begegnet war, doch mit dieser Information würden die Polizeibeamten herzlich wenig anfangen können.

»Dachte ich mir. – Waren Sie beide den ganzen Abend zusammen?«

Ich nickte heftig.

»Bis zum Einschlafen. Als ich aufwachte, war sie allerdings fort.«

»So so. Wissen Sie, Herr Cappelmeyer, in der Nacht ...«

Der Jammerlaut, der nun folgte, übertraf alles, was je meiner Kehle entsprungen war. In dem Moment, wo der Beamte von der Caterpillar erzählte, war es um meinen Geist geschehen. Nie zuvor fühlte ich mich leerer. Sie war eine Frau, die mich mit ihrer bezaubernden Art absolut eingefangen hatte, auf der Suche nach einem Mann, so simpel war das. Die Polizei hatte Mühe, noch ein vernünftiges Wort aus mir heraus zubekommen und trat unzufrieden den Rückzug an.

»Halten Sie sich bereit. Möglich, dass wir mit weiteren Fragen auf Sie zurückkommen müssen.«

»Klar, ich bin hier.«

»Sollte Ihnen noch etwas einfallen ist hier meine Karte.« Ich nahm die billige, weiße Visitenkarte entgegen und ließ sie auf das Tischchen fallen, weil ich sie eh nicht brauchen würde. Dann setzte ich den Wodka an, trank bis zur Neige. Sogleich bestellte ich eine weitere Flasche und befasste mich mit der Frage, wer in der Lage war, auf diese abartige Weise zu morden? Ich begriff den Sinn dieser Tat nicht. Mein Zerwürfnis mit der Welt hatte einen entscheidenden Wendepunkt erreicht. Im Hier und Jetzt zählte nur die Betäubung.

 

Irgendwann fiel ich volltrunken um. Im Geiste erschien mir die schöne Unbekannte, verabschiedete sich mit zarten Worten:

»Amos Cappelmeyer, vergiss mich nicht, bitte!« Dann Stille, nichts als Stille, die mir Frieden brachte.

Verkatert wachte ich am frühen Nachmittag, auf der Bettkante sitzend auf, was sehr eigenartig war, und fuhr zusammen. Mit verklebtem Mund und aufgedunsener Zunge entschlüpfte es mir:

»Du meine Güte, haben Sie mich ärschreckt! Aber verdammt, was suchen Sie in meinem Zimmer?«

»Wir haben noch einige Fragen an Sie. Dazu müssten Sie mich allerdings aufs Revier begleiten«, entgegnete der höfliche Polizist neutral.

»Kommt nicht in Frage. Bin doch nicht wahnsinnig.« Ich hatte eine reine Weste, war nur noch zu alkoholisiert, um überhaupt etwas zu sagen, geschweige zu schreiben.

»Sie weigern sich also?« Mühsam zwang ich meine Stimmbänder, mir zu gehorchen, und formulierte folgenden Ausspruch:

»Ich will nicht unhöflich sein, doch ich gehe nirgends hin. Ich habe mir gestern die Kante gegeben, nachdem die Bolizei mir unterbreitet hatte, wer die Tote war. Ein chinesisches Sprichwort besagt: »Das Leben meistert man lächelnd oder überhaupt nicht«, und jetzt verzieh dich aus meinem Zimmer, du Lutscher

Seine Höflichkeit fand ein jähes Ende. Ich hätte gewarnt sein müssen.

Seine Faust prallte ungebremst in meine Visage, Blut spritzte. Ich sank zu Boden. Bevor ich Gelegenheit bekam, die Auslegeware voll zu bluten, zerrte der Befehlsempfänger mich auf die Bettkante. Mir dröhnte der Schädel. Auch das Anbrüllen meiner Person von Angesicht zu Angesicht brachte keine Lösung. Ich durfte nur seinen üblen Atem riechen. Irgendwas mit Zwiebeln und Knoblauch, was für ein Gestank. Mir wurde noch elender. Überheblichkeit, verbunden mit einer Portion Frechheit, sollte den Tag rasch enden lassen, indem ich mit der Hand vor meinem Riechorgan herumwedelte.

Meine Liebste war bereits gestorben, warum nicht ihr folgen! Mein ausgestreckter Mittelfinger rief bei dem Kiberer das Rote im Auge hervor. Sein Gesicht verzog sich zu einer aggressiven Fratze. Eingeschüchtert war ich keinesfalls, bis erneut eine Faust Kontakt zu meinem linken Auge aufnahm. Mein Ich verabschiedete sich in die Dunkelheit ... Knock-out in der zweiten Runde, dabei sackte ich zu Boden. Der Polizist hatte ein neues Hobby gefunden, nämlich meine Fresse zu polieren. Mittlerweile war ihm der Teppich egal. Später verließ er den Raum, mit einem Gruß von Alfred.

Hä? Hatte ich richtig gehört? Wer zum Geier war dieser ominöse Alfred?

Konnte nicht einmal etwas halbwegs glatt laufen in meinem Leben?

Dann versank ich im Land der Finsternis.

Wie lange war ich weg gewesen?

Ich erwachte und ein Geräusch ertönte, das ich nicht zuordnen konnte. Krampfhaft versuchte ich, mich zu konzentrieren. Was war das nur? Gnädigerweise legten meine Gehirnzellen schließlich die Lösung parat:

Das Zimmertelefon schrillte bis zum Erbrechen. Unter brutalen Schmerzen, mit letzter Kraft hievte ich mich so weit hoch, dass ich nach dem Hörer langen konnte:

»Wer stört?«

»Herr Cappelmeyer? Frau Seeling, vom Verlagshaus Kniebrecht in München«, flötete eine weibliche Stimme. »Wir wollten uns erkundigen, wie Sie vorankommen mit Ihrem Werk. Es bleibt schließlich nicht mehr viel Zeit übrig. Können Sie uns eventuell schon etwas dazu berichten?« Ganz mieses Timing, schrie ich innerlich gequält, antwortete jedoch gewohnt optimistisch, direkt raus:

»Frau Seller, Schätzchen, pass mal gut auf: Mein Abgabetermin ist in fünf Tagen, wenn ich nicht irre? Also, warum nerven Sie derweil nicht einen anderen Autor, Sie Nymphe? Und rufen Sie bloß nicht wieder an!«

»Ich darf ja wohl sehr bitten! - Weder heiße ich Seller noch bin ich Ihr Schätzchen, Sie schmieriger alter Sack! Was bilden Sie sich ein?«

Jetzt hatte sie sich bestimmt ins Höschen gemacht, ihre überdrehte, schrille Stimme verriet sie. Aber, ob es mir nun gefiel, oder nicht, war es ein Weckruf, endlich mit meiner Arbeit loszulegen. Nur worüber schreiben? Noch immer hatte ich kein Thema gefunden. Ideen waren bei mir auf der Flucht, oder sollte ich sagen, es hing ein Fluch über mir.

Wie auch immer, ich brauchte eine Dusche. Im Spiegel erkannte ich mich selbst nicht mehr. Das Wasser hämmerte auf meine mit Blutergüssen übersäte Haut. Am übelsten war mein linkes Auge zugerichtet. Damit konnte ich kaum etwas sehen, nur durch einen schmalen Schlitz und auch nur verschwommen.

Der Schweißgeruch war abgewaschen, das Blut der vergangenen Stunden den Abfluss hinuntergespült. Nur zwei jämmerliche Sätze frische Wäsche füllten meine Reisetasche? Ich streifte mir die Sachen über, ein quietschbuntes Hawaiihemd und eine Kaufhallen-Niethose, der Hut durfte auf keinen Fall fehlen. Jetzt sah ich endgültig wie ein verwegener Gangster aus, fehlte nur noch ein adäquates Schießeisen im Hosenbund. Heute lastete die alte Jacke unendlich schwer auf meinen Schultern, was ich mir durch die Prügelmale erklärte.

Ich verließ das Zimmer, mein Bedarf an Dresche war gedeckt. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, suchte ich die Flucht aus dem Hotel. Doch kurz vor dem Ausgang wurde ich aufgehalten.

»Herr Cappelmeyer, nicht so hurtig! Hier ist eine Nachricht für Sie.« Im Eingang überreichte der Concierge mir einen schmierigen Zettel, der unbedarft in die Innentasche der Jacke wanderte.

»Danke«, murmelte ich zwischen geschlossenen Lippen.

Die Sonne brachte alles an Licht hervor, sodass ich für einen Moment nur wenig von meiner Welt zu sehen in der Lage war. Vergeblich probierte ich, die Hutkrempe noch tiefer zu ziehen. Ich hatte einen Plan: Einfach geradeauslaufend, suchte ich die nächstbeste Konditorei, ein Konzept, das in jeder Stadt früher oder später zum Erfolg führte. Mich dürstete nach einer gepflegten Tasse Bohnenkaffee. Die Menschen, die mir entgegenkamen, rümpften die Nase und schlugen weite Bögen um mich. Mir war eh nicht nach Reden, besonders nicht, nach den letzten Stunden.

Kapitel Drei
Erbarmen

Den ohne Wurzeln wird der Wind davontragen. (Unbekannt)

Die Frau im Café trug Trauer und haderte mit sich selbst, dabei starrte sie in ihren Latte Macchiato mit Sojamilch. Sie saß zurückgezogen in der hintersten Ecke bei den Toiletten, was nicht bedeutete, dass sie nicht mitbekam, was um sie herum vorging.

Beobachten gehörte zu ihrer Natur.

Da war diese junge Kellnerin, die Zoff mit ihrem Macker hatte, einem äußerst unangenehmen Typ, der aus seinen Eifersüchteleien keinen Hehl machte. Sie fragte sich, wie verkommen die Welt war. Als Vorgesetzte hätte sie den Störenfried längst nach draußen befördert.

Sie rührte noch einmal in ihrem allenfalls lauwarmen Getränk. Wie hatte sie hier landen können?

Eine rhetorische Frage, auf die sie die Antwort nur zu gut kannte. Sie war nach Wien gereist, um Abschied von ihrer großen Schwester zu nehmen. Die Geschwister hatten sich nicht sonderlich nahe gestanden, nicht wie es Schwestern sollten. Zwar telefonierten sie regelmäßig, aber die Distanz war einfach zu groß. Die Frauen lebten in verschiedenen Zeitzonen. Aber sie erschien als Letzte in der Anruferliste der Verstorbenen, der Grund, warum sie jetzt in Österreich war und nicht zu Hause oder wenigstens in einer pulsierenden Metropole wie Berlin oder Hamburg. Sie musste Hellen die letzte Ehre erweisen.

Aktuell betrat ein Mann das Café und bewegte sich zielstrebig auf die WCs zu. Mit dem hatte es Gott, oder wer auch immer dafür die Verantwortung trug, nicht gut gemeint. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut und war bemühte, nicht aufzufallen, was völlig unmöglich war, denn allein seine Erscheinung mutete wie aus einer anderen Zeit an. Das Auffälligste am ihm war ein altertümlicher Hut, ein Stetson, wie sie als Amerikanerin wusste, den er tief ins Gesicht gezogen trug und auch nicht abzusetzen gedachte, als er am Nachbartisch platz nahm, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Zum Glück. Sie wollte nicht reden.

Ein merkwürdiger Kauz. Irgendetwas stimmte mit seinem Gesicht nicht. Deshalb wahrscheinlich der Hut. Er blickte auf, um die Bestellung bei der genervten Bedienung aufzugeben, und sie sah Blutergüsse und Schwellungen. Wie ein Preisboxer wirkte der Mann nicht, auch die besten Jahre lagen schon hinter ihm. Aber als er sprach, fiel ihr die angenehme Stimme auf, auch wenn er leicht gereizt klang.

»Was darf`s sein?« Die grellrot gefärbte Servierkraft trug ihre Nase ziemlich weit oben, als sie mich das fragte.

»Eine Tasse Kaffee und ein Stück Apfelkuchen mit Sahne, bitte.«

»Also, ein Schümli und ein Apfelschlangerl mit Obers. Na, Sie könn`s noch vertragen«, und ging von dannen, die blöde Kuh. Sie entsprach so gar nicht meinem Typus Frau. Obwohl, ich war selbst kein Frauenschwarm. Bei diesem Gedanken legte sich ein leichtes Grinsen über mein lädiertes Gesicht. Die Kellnerin, die daheim einen Namen wie Chantalle, Mandy oder Jaqueline tragen würde, hieß Solveig und stellte den Pott Kaffee und meinen geliebten Apfelkuchen mit Sahne auf den Tisch, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

»Bitt`schö. Haben`s auch Geld dabei?«

Es stand ergo noch böser um mich, wie befürchtet. Ich war gewappnet: Triumphierend wedelte mein letzter Hunderter Barvermögen unter ihrer Nase und meine Schlagfertigkeit holte zum Finale aus.

»Ach, und Schätzchen, keine Sorge, dich könnte ich auch bezahlen!« Die Gesichtsfarbe ihrer Haarpracht angepasst, knallte sie mir das Wechselgeld von 91,55€ auf den Tisch und verschwand schnaubend. Schlürfend genoss ich den dampfenden Kaffee, verfeinerte ihn mit Sahne vom Teller. Der Kuchen war ausgezeichnet.

»Wo ist der Dämlack?« Ein Schrank von einem Mann stürmte das Café, fegte die Stühle in seinem Weg an die Seite, wie Streichhölzer. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, die Sicht auf ihn versperrte meine Hutkrempe. Eine weibliche Reibeisenstimme vom Nachbartisch stellte unmissverständlich klar, sollte er Hand an mich legen, würde Mr. Gipskopf sich tot auf dem Boden liegend wiederfinden.

»War`n Missverständnis«, murmelte der Koloss handzahm und trat den Rückzug an. Was wurde hier gespielt?

»Vielen Dank, aber das hätte ich locker allein geschafft«, behauptete ich, dann voller Wehmut: »Für mich hat sich noch nie jemand eingesetzt!«

»Doch, ich soeben. Das würde ich auch wieder tun, seien Sie gewiss!«, erwiderte die Dame vom Nebentisch mit einem leichten Akzent, während sie in ihrem Latte Macchiato herumrührte und den Löffel abschleckte. »Es sei denn, Sie erweisen sich als Arschloch.«

Nun wollte ich sehen, wer da eine starke Etikette vertrat. Als ich den Kopf hob, dachte ich zu träumen; eine zierliche Frau, wie ein Engel, mit langen kastanienbraunen Haaren, die sie zu einem strengen Dutt trug, in konservativen Schwarz gekleidet. So ein Persönchen hatte den Neandertaler in seine Schranken verwiesen? Ein schiefes Lachen huschte über mein geschundenes Gesicht. Kopfschütteln. Doch das Schießeisen, das sich hart in meine Eier schob, rückte mein Weltbild wieder zurecht. Natürlich hatte ich keine Angst, sie hatte die gleichen Augen wie meine schöne Unbekannte. Kitty? Ein alter Sack saß einer traumhaften Frau gegenüber, die mit ihrem Schießeisen genau auf seine Kronjuwelen zielte. Meine Aufmerksamkeit war ihr zu 100 Prozent gewiss, so viel stand fest.

Sie berichtete mir vom Verlust ihrer geliebten Schwester, dabei kullerten der harten Lady Tränen der Trauer über das makellose Gesicht. Im Roman käme jetzt mein Einsatz, doch ich trug nur selten Taschentücher mit mir herum. Sollte ich ihr erzählen, dass ich möglicherweise ihre Schwester gepimpert hatte? Ich hörte lieber weiter geduldig zu. Zu meiner Beruhigung wanderte ihre Knarre in die geräumige Marken-Handtasche. Meine Eier hätten ihr auf der Stelle huldigen können. Sie setzte sich um, links neben mich, lehnte sich an meine Schulter. Sie erzählte mir, ihre Schwester habe sie in der fraglichen Nacht noch angerufen und berichtet, dass sie endlich den Mann gefunden habe, der sie so mochte, wie sie war.

 

»Was habe ich mich gefreut für meine Schwester! Sie müssen wissen, seit ihrer Scheidung überkam sie nach und nach die Einsamkeit. In der Nacht klang sie glücklich, wie ewig nicht mehr. Sie hat zwei Kinder ... Ach, entschuldigen Sie bitte, ich heule Ihnen die Ohren voll und habe mich noch nicht vorgestellt, wie unhöflich von mir. Mein Name ist Audrette Miller.«

»Audrette? Was für ein hübscher Name. Ausgefallen. Ich bin Amos Cappelmeyer aus Thüringen, aus der verträumten Gemeinde Floh-Seligental.«

»Hocherfreut, Herr Cappelmeyer aus Floh-was?«

»Floh-Seligental. Keine Sorge, das kennt kaum jemand. Sind Sie eine echte Amerikanerin? Ich meine nur, Sie sprechen hervorragend Deutsch.« Ihr Schmunzeln ließ mir das Herz aufgehen.

»In der Tat besitze ich die amerikanische Staatsbürgerschaft. Liegt daran, dass ich im Alter von elf Jahren mit meinem Vater in die Staaten gegangen bin. Meine Schwester blieb bei unserer Mutter.«

»Interessant. Dürfte ich nach dem Namen Ihrer werten Schwester fragen?«

»Meine Schwester hieß Hellen, Hellen van Dijk. Wieso?«

Der Tränenfluss war nicht mehr zu bremsen, wie ein alter Köter heulte ich das Lokal zusammen. Schließlich hatte sie doch noch einen echten Namen bekommen.

Das Schießeisen bohrte sich zum zweiten Mal unerbittlich in meine Eier. Jetzt war ich geliefert.

»Was soll der Bullshit?« Ihr Blick wurde eiskalt, hasserfüllt.

»Oh nein, das ist ein Missverständnis! Hören Sie ...« Es gab nur den einen Ausweg, nämlich ihr alles anzuvertrauen. Ich begann mit den Ereignissen im Verlag. Dass ich ein drittklassiger Autor war, einen packenden Roman innerhalb von sieben Tagen abzuliefern hätte und dafür eine stattliche Summe einstreichen konnte. Im Falle meines Scheiterns, verlöre ich mein Haus im Grünen. Sie legte nachdenklich den Zeigefinger an ihre Nasenspitze.

»Was ist das für ein Quatsch? Warum dein Haus? Verstehe ich nicht.«

»Was weiß ich. War mir egal, habe nur die verdammten Euros gesehen.«

»Na schön. Aber soll das ein Zufall sein? Von einem solchen Vertrag habe ich noch nie gehört. Ist was Besonderes an deinem Haus, Cappelmeyer?«

»Nein, ganz und gar nicht. Es ist alt. Ich habe ein nettes Grundstück, die Luft ist sauber, mehr nicht.«

»Klingt aufregend«, grinste Audrette. »Schön blöd, in einer Woche einen kompletten Roman schreiben zu wollen.«

»Finde ich nicht. Na ja, also ...«, stotterte ich betreten. »Der schon wieder.« Der Hüne kreuzte erneut auf, mit hochrotem Schädel, hatte sich wohl am Kiosk um die Ecke Mut angetrunken.

»Der nervt.« Audrette spannt den Hahn ihrer Knarre. Sie war es leid, von dem hirntoten Mammut unhöflich von der Seite angequatscht zu werden, und richtete den Lauf auf seinen rasierten Schädel.

»Sehen Sie nicht, dass hier zwei kultivierte Erwachsene ernsthafte Gespräche führen?« Mit gewichtiger Stimme forderte sie den Neandertaler auf, lieber seine Alte anständig zu vögeln, dann würde die auch keine alten Säcke derart herablassend behandeln.

Bravo. Meine Meinung. - Bis auf den Teil mit den alten Säcken ...

Der Koloss brüllte zur Abwechslung sein Mädchen an. Es endete mit einer schallenden Ohrfeige, welche die Bedauernswerte gegen die nächste Wand beförderte. Da platze meiner neuen Bekanntschaft der Kragen.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Sie platzierte ihre Waffe neben der Kaffeetasse, winkte Mr. Schrankwand zu sich, der aufs Wort gehorchte und antrabte, nur um von Audrette einen ordentlichen Tritt in die Kronjuwelen verpasst zu bekommen. Alleine das Zusehen schmerzte. Der zweite Tritt mit den Highheels quer durch die Hackfresse bescherte ihm ein breites Joker-Grinsen, dann sackte er zu Boden, wie ein gefällter Baum. Audrettes Gesicht spiegelte keinerlei Emotionen. Sie zupfte an ihrem Kleid rum und setzte sich wieder neben mich, als wäre es das Normalste der Welt.

»Also, wo waren wir eben stehengeblieben?« Trocken antwortete ich:

»Kleines, du hattest deine Knarre in meine Eier gebohrt, wolltest den Verdacht ausschließen, dass ich der Mörder deiner geliebten Schwester bin.«

»Richtig.« Der Hahn rastete zwar ein, was als Erfolg gewertet werden mochte, doch sie fixierte mich weiter mit ihren Blicken. Kein Wimpernzucken, nichts ... Das rief mir folgendes chinesische Sprichwort ins Bewusstsein: »Frauen tragen die Hälfte des Himmels.« Bei Audrette konnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen. Plötzlich lächelte sie wie ein Honigkuchenpferd:

»Du stehst auf chinesische Sprichwörter?«

Ich nickte. Im Stillen keimte die Frage auf, ob diese Person mein Gegenstück sein sollte? Der Kaffee war längst erkaltet, meine Augen klebten an der Amerikanerin. Schwermütig meinte sie:

»Ein Weg entsteht erst, wenn man ihn geht.« In dieser Sekunde stand für mich fest, sie war mein YIN. Audrette, so zierlich und zerbrechlich sie wirkte, war in Wahrheit ein Vulkan. Sie wünschte sich von mir, sie zu der Beerdigung ihrer Schwester zu begleiten.

»Ist doch eine Frage der Ehre!«

»Die Leiche ist freigegeben und wird Morgen zur Mittagszeit beigesetzt. Allerdings gibt es ein kleines Problem. Ich habe versäumt, für heute Nacht ein Zimmer zu buchen. So was Blödes.« Ich zuckte die Achseln.

»Also, ich sehe da kein Problem. In meiner Unterkunft sind gewiss noch Zimmer frei. Wenn du keinen Wert auf Luxus legst, meine ich.«

»Du hast nicht zufällig ein Doppelzimmer? Ich dachte bloß, das würde Zeit und Geld sparen. - Bilde dir nichts darauf ein. Ich bin praktisch veranlagt.«

»Das bin ich auch.« Ungläubig deutete ich in Richtung meiner Unterkunft. »Sind nur ein paar Gehminuten.«

»Na dann, worauf wartest du noch?« Wir plauderten angeregt über das eine Thema, das uns verband, Hellen, auch als wir längst vor dem Hotel standen. Es war eine meiner unlogischsten Entscheidungen. Einerseits liebte ich ihre Schwester Hellen, – ein merkwürdiges Wort in Bezug auf eine Frau, die ich nur einige Stunden kannte, – doch andererseits fühlte ich mich von Beginn an zu Audrette hingezogen. Dennoch blieb da dieses Unbehagen in meiner Magengegend. Alldieweil hätte ich eine Person an meiner Seite, die in der Lage wäre, mich zu beschützen. Mich beschlich dumpf das Gefühl, dass dieser Faktor nicht ganz unerheblich sein würde.

»Wollen wir reingehen?« Ich ergriff ihre Hand und stolzierte mit ihr an meiner Seite ins Foyer. Kurz meldete ich meine Eroberung an. Der Rezeptionist trug Frau Miller vorschriftsmäßig in den Computer ein.

»Gerne, der Herr. Ich setzte den zweiten Gast auf die Rechnung.«

»So soll es sein.« War das etwa Ungläubigkeit in seiner Mine? Ich nahm den Zweitschlüssel in Empfang, tippte mir an den Hut, dann erklommen wir die abgewetzten Stufen zur dritten Etage.

»Kein Aufzug?«, kam die unweigerliche Frage. Doch schon waren wir im passenden Flur. »Ist das nicht dein Zimmer da vorne links, die Nummer 6?«

»In der Tat.« Die Zimmertür stand einen Spalt weit offen. Ich könnte Stein und Bein schwören, das ich die Türe fest zugezogen hatte, und zuckte die Schultern. Kein Licht. »Da ist doch was faul!« Audrette hielt mich am Arm zurück, den Zeigefinger an die Lippen gelegt, dann kramte sie ihre Bleispritze aus den Tiefen der Tasche hervor und stöckelte selbstsicher voran. Zuerst knipste sie das Licht an.

»Damn, ich hab`s gewusst.« Eine Verwüstung meiner Wohnlandschaft konnte nicht übersehen werden, doch für Audrette legte sich im Chaos ein Muster dar, welches sie mit dem Smartphone fototechnisch dokumentierte.

»Oh nein! Nicht der Computer!«, entfuhr es mir beim Anblick der auf dem Boden entleerten Notebooktasche, dabei glich der tragbare Computer einem gefalteten Buch.

»Das ist zu nichts mehr zu gebrauchen«, diagnostizierte meine Begleiterin. Ja, das zu erkennen bedurfte keines Genies. Wie sollte ich jetzt auf die Schnelle ein Buch schreiben? Mit der Hand, auf die alte Art? Lachhaft. Panik keimte in mir auf, alles Blut sackte in meine Füße.