Der Fall - Amos Cappelmeyer

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Aufgewühlt grübelte Audrette über den Fall nach. Der schien irreal wie nur was. Es wurde Zeit, den Übeltätern das Handwerk zu legen. Sie war es leid, mit anzusehen, wie Menschen alles Erdenkliche anstellten, um ihre dubiosen Ziele zu erreichen. Meistens Macht und Geld. Geld und Macht. Welches Ziel hier verfolgt wurde? Audrette hatte eine Ahnung, doch wem konnte sie in dieser Sache trauen? Hinter Annemarie Seeling stand ein fettes Fragezeichen. Ihrer derzeitigen Einschätzung nach war die Frau nur unsagbar einsam und auf der Suche nach einem aufrichtigen Partner.

Audrettes Instinkte hatten ihr bislang gute Dienste geleistet. Diesmal signalisierten sie Verstärkung im großen Maßstab zu organisieren, bestehend aus ehemaligen Mitarbeitern des Service (CIA), der Agency (NSA) und anderen Diensten (MI 5, BND, Heeresnachrichtendienst HNA), die nichts mehr zu verlieren hatten, aber zumindest an das Gute glaubten. Agenten, gewohnt zu improvisieren und in der Lage, eine lückenlose Observierung ohne Aufsehen zu erledigen. Schließlich ging es um eine bedeutende Sache. Audrette hatte vor, sich mit der Stasi anzulegen. Ein Rundruf an die Ex-Kollegen/ - Konkurrenten war von Erfolg gekrönt. Binnen kurzer Zeit standen vierzehn Freiwillige parat, erfreut über eine kleine Abwechslung im Rentnerdasein. Der Begriff war irreführend. Nicht, dass alle das entsprechende Alter erreicht hatten, es gab unterschiedliche Gründe, den Dienst zu quittieren, siehe Audrette als bestes Beispiel. Nur durch eine kleine Flunkerei hatte sie ihre Dienstmarke behalten können, die sie auch heute noch gern einsetzte, wenn es hilfreich erschien. Es handelte sich bei den Kollegen, die ihr zur Seite standen, zu 90% um Männer im besten Alter, die alle, bis auf eine Ausnahme, in Europa weilten, teilweise in Deutschland, Österreich oder der Schweiz, was die Sache ungemein erleichterte. Allgemeiner Treffpunkt: Dresden.

Audrette benachrichtigte Annemarie: »Dein Urlaub. Dresden. Jetzt. Buch ein Doppelzimmer, ich komme bald möglichst nach.« Die packte ihre Arbeitstasche, kritzelte schnell noch etwas auf den Urlaubsantrag und verließ das Haus Kniebrecht, wie es ihr aufgetragen worden war, mit dem dumpfen Gefühl, dass es ein Abschied für immer werden könnte.

Aus den Kollegen Henry James aus den Staaten und Daniel Hufnagel, ein Ex-BND-ler, die beide schon in München eingetroffen waren, bildete Audrette ein Team. Den Männern fiel die Aufgabe zu, das Haus Kniebrecht rund um die Uhr zu überwachen. Jens Kühl´s Auftrag bestand darin, Audrette am Stadtrand Münchens aufzugabeln und nach Dresden zu bringen. Jens war ein Enddreißiger mit schütterem Haar, das er militärisch kurz trug, was ihm aber nicht schlecht stand. Auf der mehrstündigen Fahrt teilte sie ihre Erkenntnisse mit ihrem alten Weggefährten, berichtete vom plötzlichen Tod der geliebten Schwester, dem Vertrag mit Amos Cappelmeyer, von Frau Seeling. Jens nickte verständnisvoll und sein Hirn ratterte los. In diesem Moment rief der Sicherheitsmann aus dem Krankenhaus an. Zwei Personen hätten Erkundigungen über Cappelmeyers Gesundheitszustand einziehen wollen, ohne sich legitimieren zu können, weshalb die Ärzte die Unbefugten rauswarfen.

»Ich werd noch verrückt!« Audrette rieb sich die Augen. Jetzt mussten sie handeln, denn die wussten, wo er ist. »Wie geht es Amos denn?« Der Zustand des Patienten sei den Umständen entsprechend gut, er könne problemlos in ein anderes Krankenhaus verlegt werden.

»Super, so machen wir das. Lasst ihn nach Dresden bringen.«

Kurz darauf rief Annemarie an, sie habe im »La Tusch« eingecheckt, Zimmer 412. Audrette klappte die Kinnlade runter, als sie das hörte.

»La Tusch? Holy Shit! Bist du wahnsinnig? Den Schuppen kann ich mir nicht leisten!«

»Keine Panik auf der Titanic. Ich habe meine Kontakte, daher erlaube ich mir, dich einzuladen. – Und natürlich die komplette Mannschaft dazu.«

»Sicher? Ich meine, ...«

»Ich bin sicher. Nenn mir eine Zahl. Wie viele Zimmer brauchst du?«

»Keine Ahnung.« Für den Moment herrschte Sprachlosigkeit. Audrette sendete per SMS die Zahl 18. Achtzehn Leute, nicht achtzehn Zimmer. Eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Ok!«

Audrette brüllte: »Leck mich doch einer am Arsch!« Sie gab die Adresse in das Navi ein, Jens folgte der Route, anerkennend nickend.

»Gefällt mir, deine Freundin.«

Kapitel Sechs
Gejagt

Fast synchron trudelte aus allen Himmelsrichtungen das Team ein. Manche waren auf dem Flughafen Dresden gelandet, andere mit dem Auto angereist. Annemarie hieß jeden persönlich willkommen und verteilte einen Batzen Schlüsselkarten. Zwei Agenten sollten sich ein Zimmer teilen. Nach kurzem Murren fanden sich die passenden Gruppierungen. Sie begrüßte ihre neue Freundin mit einer zärtlichen Umarmung, drückte ihr speziell den Zimmerschlüssel in die Faust. Audrette witterte überall eine Verschwörung.

»Willst du mich damit ärgern?«, zischte sie. »Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.« Annemarie zog sich mit diebischer Freude in den Augen zurück, warf Audrette zur Krönung noch eine Kusshand zu.

»Wir sehen uns, Darling.«

Mittlerweile herrschte reges Treiben vor dem Portal des Luxus-Hotels. Jens hatte einen Schlachtplan ausgetüftelt, wonach vier Ermittler abwechselnd beim Uniklinikum postiert sein würden, vier weitere sollten Amos Haus sowie Grundstück gründlich unter die Lupe nehmen und begaben sich unverzüglich nach Thüringen. Doch Jens war nicht zufrieden.

»Wir haben etwas übersehen. Dreht jeden Heuhaufen zweimal um. Ich will wissen, was da gespielt wird.«

»Ja, Boss. - Schade um das nette Zimmer! Hab` mich so auf den Champagner gefreut!«

»Sehr witzig. Und jetzt Abmarsch! Ich erwarte euren Bericht.« Die Übriggebliebenen durchforsteten das Internet. Schlagworte: Kniebrecht, Floh-Selignthal, Cappelmeyer, SED, Stasi, Partei.

Der neue Schwerpunkt lag auf einer möglichen Stasi-Vergangenheit der Familie Cappelmeyer. Bei ihrer Recherche war Audrette die erschreckende Zahl von inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern bewusst geworden, die sich auf 189.000 belaufen sollte. Zudem hieß es, dass es 111 Kilometer Stasi-Akten aufzuarbeiten galt. Das war eine unvorstellbare Menge Papier. Die Hoffnung lag nun darin, in diesen Unterlagen etwas über die Familie herauszubekommen. Wenn nicht über Amos selbst, was unwahrscheinlich war, denn er schien ein unbeschriebenes Blatt zu sein, dann über seine Eltern oder die Großeltern, von denen er gesprochen hatte. In Dresden gab es praktischerweise eine der BStu-Stellen, die sich mit dem Aktenwust beschäftigte.

»Los an die Arbeit, Männer.« Audrette klatschte in die Hände. Allerdings mit vorgetäuschtem Elan. Sie fühlte sich nach der langen Fahrt unwohl in den verschwitzten Klamotten und entschuldigte sich. »Bin gleich wieder da.« Sie eilte in das ausladende Gebäude - und war prompt überfordert. Welche Zimmernummer hatte Annemarie ihr noch gleich ins Ohr geflüstert? Es wollte ihr nicht einfallen. Sie stürmte mit der Schlüsselkarte zur Rezeption und notierte dort die Nummer 412. Richtig, jetzt kam die Erinnerung zurück.

Der Fahrstuhl ließ auf sich warten. Audrette zappelte von einem Fuß auf den anderen, zählte ungeduldig. Endlich, der Lift. Jetzt könnten die verdammten Türen aufgehen!

Drei Kerle drängelten sich an ihr vorbei, quetschten sich in die Kabine.

Na toll. Was für Hohlbirnen. Die Luft in der kleinen Kabine war geschwängert von einem aufdringlichen Aftershave, das in der Nase kribbelte. Widerstrebend gesellte sie sich dazu, stellte sich aber vermeintlich so, dass sie nicht, oder am wenigsten, angegafft werden konnte, und verdrehte genervt die Augen. Die Sicherheit, in der sie sich wog, war trügerisch. Einer der Herren nahm sich die Freiheit, die Festigkeit ihrer Kehrseite zu prüfen, der Andere wollte seinem Kumpel nicht nachstehen, doch bevor er auch nur zu blinzeln vermochte, hatte der Grapscher einen Damenschuh in der Fresse, der Erste wiederum den Ellbogen auf dem Kehlkopf und der Dritte nässte sich vor Angst ein.

Gelockert von der kleinen Trainingseinheit stolzierte Frau Miller hüftschwingend zu Zimmer 412 am Ende des Korriors. Sie öffnete ahnungslos die Tür, fand sich in der Admiralssuite, einer sogenannten Triplex-Suite wieder, opulent eingerichtet, mit allem, was schnöder Mammon nur kaufen konnte.

»Hey, na endlich! Das hat ja gedauert.« Um die Gefährtin vom Alltagsstress runter zu holen, verpasste Annemarie ihr einen Kuss und offerierte ein Glas kühles Prickelwasser. »Entspann dich, Süße.«

»Leichter gesagt als getan.« Audrette stürzte den Champagner runter. »Lecker. - Da hast du es ja ordentlich krachen lassen«, und meinte das feudale Ambiente.

»Nur das Beste für mein Herzblatt.« Annemarie entkleidete die protestierende Audrette und führte sie unter die Luxus-Dusche.

»Ich sollte eigentlich bei meinen Jungs sein. Ich wollte mich nur rasch umziehen.«

»Ja, ja. Ich weiß was du brauchst. Entspann dich.« Audrette verlor zunehmend die Kontrolle, als der Seifenschaum mit einer goldenen Handbrause abgespült wurde. Annemarie hatte ihre Flasche Spezial-Öl dabei und salbte sie ein.

Helles Sonnenlicht drang durch die Gardine, deren Maschen die Strahlen um ein Vielfaches spalteten. Audrette rekelte sich, fragte sich irritiert, wo sie sich befand.

Ach, richtig ... Amos hatte ihr versprochen, beim nächsten Sex alles zu geben. Sie sehnte diesen Augenblick herbei, als sie unter der Dusche die geschickten Hände ihres Abenteuers auf der Haut spürte.

Das Mobiltelefon klingelte unermüdlich, verlangte Auskunft, wo sie steckt. Nicht der erste Anruf. Leider auch nicht der Zweite. Auf der Liste der entgangenen Gespräche stand eine zweistellige Zahl, vom Abend bis heute früh. So ein Mist. Antworten in diesem Zustand, während Annemarie ihren Körper von allem befreite, was nur aussah wie Wassertropfen? Undenkbar. Das Handy plärrte unentwegt, fast genervt.

 

»Sorry, ich muss da ran gehen. Das sind meine Leute. – Hallo?«

»Na endlich! Meine Finger sind schon wund vom Wählen. Dachte, du bist im Jacuzzi ertrunken!« So amüsant, wie Jens es darstellte, fand er die Situation gar nicht. Doch was half es, mit der Amerikanerin zu streiten?

Er behauptete von sich, ein guter, feinfühliger Beobachter zu sein, deshalb war er ziemlich sicher, dass Audrette etwas mit einer Zielperson am Laufen hatte. Ein No-Go. Erwartet hätte er diesen Regelverstoß ausgerechnet von ihr nicht. Er kannte die Texanerin relativ lange, sie war stets integer. Unbestreitbar war sie eine scharfsinnige und vorausschauende Frau, ausgestattet mit einer exzellenten Kombinationsgabe. Erkenntnisse über den Fall Cappelmeyer teilte sie jedoch mit niemanden, vermutete einen bedeutsamen Skandal hinter den Angelegenheiten ihres Zukünftigen. In den übrigen Fällen lieferte sie konsequent tadellose Resultate.

Zu guter Letzt meinte Jens:

»Dann in einer Stunde vor dem Hotel.« Er legte verstimmt auf, weil er glaubte, dass sie eh nicht bei der Sache war.

»Wir haben 60 Minuten«, flüsterte Annemarie, setzte Audrette auf den kleinen Tisch und erinnerte sich schmerzvoll, dass die Ermittlerin vergeben war. Sie ertappte sich dabei, innige Gefühle für die Texanerin zu hegen. So streichelte sie nur durch die verbotene Zone und genoss das Ablutschen des Saftes an ihrem Finger umso mehr. Lippen berührten sich sinnlich, Zungen fochten den Akt der Hingabe aus.

»Ich hau mich wieder aufs Ohr.« Annemarie tapste zurück ins Bett. Audrette konnte sich diesen Luxus nicht leisten, sie machte sich fertig für die Ermittlungsarbeit. Zum Abschied bedachte sie den Knackarsch ihrer Freundin mit einem Kuss.

»Mach`s gut, Honey. Ich fühl mich total ausgelaugt. Schlaf `ne Runde für mich mit! Wir sehen uns.« Sie eilte nach unten, ohne gefrühstückt zu haben. In der Lobby tigerte Jens voller Ungeduld im Kreis. »Guten Morgen, Jens.«

Nach einem gebrummten Gruß hatte er Neuigkeiten.

»Amos ist aus frühzeitig aus dem Koma geholt worden.«

»Was? Das ist wunderbar! Ich bin so glücklich.« Die Halsschlagader der ansonsten coolen Agentin hämmerte einerseits aus Freude, andererseits aus einer gehörigen Portion Scham. Selbst bei geöffnetem Seitenfenster hatte sie den Eindruck, es würde immer heißer werden. Jens zog besorgt die Stirn in Falten.

Kapitel Sieben
Wieder da

»Hey Darling«, krächzte ich. Einen langen Schönheitsschlaf habe ich gehalten, hatte die nette Krankenschwester mir heute verkündet, aber gutgetan hatte der mir nicht, stattdessen fühlte ich mich am kompletten Leib wund. Meine Zukünftige hingegen mutete wie das strahlende Leben an, - geplagt von Gewissensbissen, schätze ich, so wie sie mit gesenktem Blick das Krankenzimmer betrat.

»Hallo Amos. Schön, dich zu sehen.« Audrettes Blicke blieben weiter auf den Boden geheftet. Beinahe hatte ich ihre Anmut vergessen. Wie sie die Haare offen trug, stand ihr viel besser, ließ sie noch femininer wirken.

»Komm zu mir.« Ich streckte die Hand aus, zog sie nah an mich heran, damit ich in ihr Ohr flüstern konnte: »Du weißt, was dir blüht, wenn ich wieder bei Kräften bin?« Statt zu lächeln, schluchzte Audrette los. »Weine nicht, mein Engel. Alles wird gut. Sobald ich hier raus bin, vögel ich dich ins Nirwana, meine schöne Ehefrau.«

Sie schniefte.

»Werde du erst mal richtig gesund.« Allerdings straften ihre Taten den Worten Lüge. Eine warme Hand legte sich fest um meine Kronjuwelen, presste sie zusammen, doch es schüchterte mich überhaupt nicht ein. Ihre geröteten Rehkitzaugen sprachen für sich selbst. Ein überwältigender Moment, der hoffentlich nie ein Ende fand.

Doch es klopfte an der Tür und beraubte mich meiner Illusion, schneller als ich Oh sagen konnte. So spielte das wahre Leben.

»Herein«, bat ich verdrossen. Eine Frau spazierte in den Raum, erfüllte ihn sogleich mit ihrem Karma. Sie stellte sich als Annemarie Seeling vor und überreichte mir einen bunten Floristenstrauß.

Ah, Blumen. Eine Schachtel Kondome hätte ich bevorzugt. Ich legte das Gestrüpp auf die Konsole in Ermangelung eines Gefäßes.

»Was tust du denn hier?«, wisperte Audrette erbost.

»Entschuldigung, kennen wir uns?« Ich war verwirrt. Der Name sagte mir nichts.

»Ich bin gekommen, um Sie persönlich um Verzeihung zu bitten. Wir hatten gewiss nicht den besten Start am Telefon. Aber Audrette spricht nur in den höchsten Tönen von Ihnen.«

Telefon? Jetzt dämmerte es mir.

»Soso, die berüchtigte Frau Seeling. Was für eine Überraschung.« Sie war entschieden jugendlicher, als in meiner Vorstellung und sah eigentlich verdammt gut aus, wie sie an der Seite von Audrette stand. Verstohlene Blicke wurden getauscht. »Frau Seeling, danke für die Blumen. Sie sehen völlig anders aus, wie ich erwartet habe, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben dürfte.«

»Gewiss, das höre ich des Öfteren. Sie entsprechen aber auch nicht dem Bild, das ich erwartet habe, Herr Cappelmeyer.«

»Was Sie nicht sagen. Ist das gut oder weniger gut für mich?« Ich zwinkerte verschmitzt. Ihre Augen wanderten zu Audrette, doch deren Handy brüllte um Gehör.

»Verflucht, nicht jetzt. Ja, hallo? - Was? Moment, ich komme runter.« Audrette verabschiedete sich mit einem zärtlichen Kuss von mir, dann streifte sie dezent mit der Hand über den athletischen Körper der Freundin. »Die Pflicht ruft. Ich kann euch zwei doch alleine lassen?« Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, wollte Annemarie wissen, ob ich wahrhaftig über die sagenumwobenen Kräfte verfüge. Ich zeigte mich verwundert über ihre Andeutung.

Plötzlich Geräusche, die klangen wie Salven aus einem Gewehr, Schreie auf dem Flur verbreiteten Angst und Schrecken. Annemaries Augen weiteten sich.

»Sind das etwa Schüsse?« Zeitgleich schrillte ihr Handy los, sie konnte gar nicht fix genug rangehen, zitterte regelrecht vor Aufregung. »Audrette! Was ist passiert? Es klingt wie ...«

»... unter Beschuss. Macht, dass ihr da wegkommt! Pass auf Amos auf!«, drang Audrettes Stimme aus dem Lautsprecher.

»Sicher, aber ...« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und schwang beherzt meine Beine über die Bettkante. Mist, keine Schuhe! »Hoppla. Nicht so hastig, Cappelmeyer.« Annemarie unterstützte mich nach Kräften, da ich meinen physischen Status eindeutig überschätzt hatte. »Gemeinsam schaffen wir das.«

Als ich schließlich auf meinen Beinen stand, ging es halbwegs.

»Wo sind meine Schuhe?«

Frau Seeling spähte aus dem Zimmer. Noch immer schwirrten Kugeln umher. Dem Geräusch nach handelte es sich um ein halbautomatisches Gewähr, wenn ich mir diese Einschätzung erlauben durfte. Wie gesagt, meine Kenntnisse beruhten auf Fernsehserien. Putz flog - nur zu real - von den Wänden.

»Ich glaube nicht, das jetzt der richtige Zeitpunkt ist, danach zu suchen! Los komm jetzt. Ich kann einen Notausgang sehen. Ist nicht weit.«

»Vielleicht nicht, aber du wurdest auch nicht angeschossen.«

Annemarie zerrte mich hinter sich her.

»Für Audrette, Amos.« Für Audrette, ein Fuß vor den Nächsten. »Das machst du prima.« Was blieb mir für eine andere Wahl, um diesen dunklen Mächten zu entfliehen? So schlichen wir das Treppenhaus eines Nebenausgangs hinunter und versicherten uns, dass hier draußen keine Gefahr drohte.

»Hoffentlich ist Audrette nichts passiert.«

»Oh, das hoffe ich auch inständig.«

Aus unerfindlichen Gründen gelang es mir, uns zielsicher zu einem Taxistand zu navigieren, wo Fahrzeuge in einer Reihe warteten, vermutlich um ihre Pause zu absolvieren.

»Kennst du dich hier etwa aus?«, fragte meine Begleitung irritiert.

»Nein. Ja. Egal. Komm.« Wir kletterten in das erstbeste Taxi. Im Rückspiegel traf mich der belustigte Blick des Fahrers, ob unserer recht zwielichtigen Erscheinung, doch als Profi hatte er in den Jahren einiges gesehen, da war ein Kerl im Nachthemd ohne Schuhe nur eine weitere amüsante Anekdote in der Pokerrunde.

»Wo soll`s denn hingehen, die Herrschaften?«

Die Frage aller Fragen ...

»Ich weiß wohin«, flüsterte Annemarie geheimnisvoll.

»So?«

»Zur ...«, als sie den Zielort nennen wollte, zerbarst die Frontscheibe in einer Implosion. Das Gehirn des Fahrers verteilte sich über uns. Na gut, hauptsächlich auf Annemarie, die hinter ihm saß. Sie kreischte hysterisch, verängstigt wie ein kleines Mädchen in der Geisterbahn. Das Geschoss blieb in der Kopfstütze direkt vor ihrer Nasenspitze stecken. Welch ein Glück.

»Du musst still sein!« Ohne nachzudenken, zerrte ich die würgende Frau aus dem Taxi in ein Gebüsch, angeborenen Urinstinkten folgend, schloss sie kurz in meine Arme und streichelte beruhigend ihren Rücken. Woher ich meine Ruhe nahm, blieb mir ein Rätsel. Aus der Ferne rückten Martinshörner an. Nicht lange und die Kavallerie würde das Krankenhaus stürmen. Endlich.

Direkt hier gab es einen Park mit einem See, erinnerte ich mich, überprüfte, ob wir allein waren und zog die zitternde Annemarie aus, die abwesend alles über sich ergehen ließ.

»Pst, ganz ruhig. Das muss sein.« Ich wusch sie, tupfte ihr Gesicht mit dem befeuchteten Unterhemd ab. Die Lufttemperatur erreichte knapp den zweistelligen Bereich, das Wasser war bestialisch kalt, aber es nützte nichts. Jetzt erhielt ich Gewissheit, wie makellos meine zitternde Begleiterin war. Falscher Zeitpunkt, tadelte ich mich selbst. Just in dem Moment, als ich mich unter Schmerzen hinkniete, um unsere Sachen ins eisige Nass zu tauchen, passierte es.

Zwei Schüsse. Einer ging ins Leere und verschwand in der Botanik, ohne Schaden anzurichten, eine Kugel streifte Annemaries Hüfte. Doch sie gab keinen Mucks von sich, im Gegenteil, sie stellte sich schützend vor mich und trieb mich ins Wasser.

»Tauchen, so tief und weit, wie du nur kannst, alter Mann!« Ja, tauchen konnte ich Nicht-Sportskanone, Großvater Luitpolt sei dank. Er hatte mich und meine Cousins spielerisch an das Nass herangeführt. Nur die Temperatur ließ zu wünschen übrig. Meine Zähne schlugen bibbernd aufeinander. Wenigstens spürte ich die kaputte Rippe nicht. Durch die Eiseskälte zeigte sich der kleine See klar wie ein Kristall, mit einer Länge von gut 150 Metern, die es zu überwinden galt. Gräser und alte Fahrräder dienten als neues Zuhause von Aalen. Ich fröstelte. Mit meinen auf Miniaturgröße zusammengeschrumpften Entlein konnte ich keine Frau beeindrucken. Mein Körper fühlte sich unvertraut an, doch Annemarie spornte mich zur Höchstleistung an. Sie kniff mir in den verlängerten Rücken. Beeil dich, winkte sie energisch, ihre Kreditkarte klemmte zwischen den Zähnen. Eine eiskalte Strömung durchkreuzte unsere Bahn. Die Haut, die mein Skelett überzog, vermittelte mir das Gefühl, nicht zu mir zu gehören.

Endlich erreichten wir das rettende Ufer. Durchgefroren, am Rande der Erschöpfung, rubbelten wir uns gegenseitig trocken. Für Außenstehende gaben wir das Bild von zwei Perverslingen, die es bitternötig hatten.

Erfreulicherweise hatte meine Wunde nicht erneut zu bluten begonnen. Den durchweichten Verband riss ich vorsorglich herunter. Glückwunsch: Verfolgt, unter Beschuss, keine Kleider mehr am Leib, einziger Pluspunkt blieb eine Kreditkarte. Annemarie war stets auf der Hut und erklärte mir, dass wir diese vermutlich nur ein einziges Mal benutzen könnten. »Na toll. Auch zu viel fernsehen geschaut, was?«

Durch das Gebüsch war die offen stehende Tür eines Gebäudes auszumachen. Annemarie erkor diese zu unserem Ziel, griff nach meiner Hand und rannte los, wie eine Hochleistungssprinterin, dabei geriet sie nicht einmal aus der Puste. An der Tür angekommen, duftete es nach frischen Backwaren. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Essen! Wie lange hatte ich keine feste Nahrung zu mir genommen?

Mit einem Griff um den Türrahmen ergatterte sie zwei Hosen sowie eine Arbeitsjacke. Anstandshalber wollte ich die Jacke ihr über lassen, doch Annemarie blieb konsequent. Ich war lediglich schuhlos, sie hingegen nur von der viel zu großen Hose bedeckt. Ihre Brüste massierten mir die Augen, was ich als nette Ablenkung akzeptierte.

 

Annemarie hatte das Geldinstitut um die Ecke dafür auserkoren, eine stattliche Summe Bargeld abzuheben. Über verschlungene Wege erreichten wir unser Ziel.

»Die Bank International, meine Hausbank. Was für ein Zufall.«

»Ja, aber du willst nicht so da rein gehen, oder?« Letztlich war sie dann doch bereit, für den Bankbesuch die Jacke anzunehmen. Es half ja nichts, wenn sie gleich von den Wachleuten als Flitzerin verhaftet wurde. Ich wartete oberkörperfrei in der Kälte, quetschte mich aus zweierlei Gründen so tief wie möglich in einen Hauseingang. Als Raucher wäre jetzt der Moment, in dem ich mir eine Kippe herbeisehnen würde.

Nicht lange bis Annemarie mit einem breiten Grinsen und einer Tüte aus der Filiale trat. An der Hand führte sie mich in den geschützten Personaleingang der Bank, wo sie strahlend die Tüte aufriss.

»Tara! Sieh mal, was ich hier habe. Ist für dich.« Ein Schlipsträger hatte dafür herhalten müssen. Was manche Menschen für Geld nicht alles zu tun bereit waren, war für mich nicht nachvollziehbar, aber ich zollte Annemarie Respekt dafür. Der Spaß hatte meine Wunderfee schlappe tausend Euro gekostet. Das konnte ich kaum kommentarlos im Raum stehen lassen.

»Tausend Euro? Bist du irre?«

»Nein, ich sehe das als Investition in die Zukunft. Ich glaube, das Geld ist gut angelegt. Außerdem darfst du es bei mir abarbeiten!« Der geforderte Tribut wäre für mich ein Leichtes, wenn nicht meine zukünftige Gemahlin Treue verdient hätte. Annemarie zwinkerte wissend. »Audrette wird es dir nachsehen.«

Wie auch immer. Meine temporäre Begleiterin steckte voller Überraschungen.

So hatte sich eine Dame aus der Kreditabteilung erbarmt und Annemarie ein komplettes Business-Outfit gestellt.

»Du bist unglaublich. Wie hast du das hinbekommen?«

»Frauengeheimnis.« Wo sie nun die unförmigen Bäckersachen abstreifte, meldete sich postwendend mein Fahnenmast zu Wort. Schlimmer als bei der Army heute. Flagge hissen und einholen.

Nachdem wir uns beide in Schale geworfen und die geklaute Arbeitsmontur in der Tragetasche verstaut hatten, war ich bereit zum Aufbruch.

»Wir können gleich gehen. Ich muss mich nur kurz verabschieden.«

Ich kniff irritiert die Augen zusammen.

»Wie jetzt? Du hast doch schon bezahlt.«

»Schon gut. Dauert nur eine Minute.« Annemarie schaffte mich auf den Gehweg, um sich anständig auf ihre Art und Weise zu bedanken, indem sie die Spenderin am Hinterausgang küsste, als kenne man sich schon eine halbe Ewigkeit. Die Bänkerin schmolz dahin, wie ein Toffee in der Mittagssonne und winkte uns schüchtern. »Wiedersehen«, formte ihr Mund die Worte.

»Ich fasse es nicht«, stöhnte ich. »Was ist das für eine Welt?«

»Das meinst du nicht ernst, alter Mann, oder?« Ich setzte zu Protest an, fühlte mich dann aber der Konsequenz nicht gewachsen, und beschloss, meinen Einspruch zu vertagen. »Ein paar Häuser weiter befindet sich ein Autoverleiher. Da müssen wir hin.« Der verfügte über Fahrzeuge, die nicht gelistet waren, wusste meine Begleiterin, als wandelnde Quelle des Wissens und der Inspiration. »Auch Prominente wollen ein ungestörtes Shoppingvergnügen, egal ob auf der Kö oder dem Kuhdamm!«

»Wenn du es sagst.« Von Außen war der Verleiher völlig unscheinbar, nur ein Schild und ein kleines Büro, das eher abschreckend auf mich wirkte, doch der Schein trügt oft, hatte die Erfahrung mich gelehrt. Nach eigener Aussage verfügte der gut aussehende, frisch rasierte Mann über die besten Luxuskarossen der Stadt.

Annemarie wählte den auffälligsten Wagen aus dem Katalog, eine burgunderrote Raubkatze, mit heller Leder-Vollausstattung. Die einzige Chance, den Verfolgern für ein paar Stunden zu entkommen, behauptete sie. So sollte es sein. War schließlich ihr Geld. Und ich hätte ordentlich zu schuften. »Du fährst!«, kam das Kommando.

»Warum?« Zweifelnd starrte ich den klobigen Fahrzeugschlüssel in meiner Hand an, der keinerlei Ähnlichkeit zu meiner Definition von Schlüssel aufwies und mir die Tür zu diesem Wunderwerk der Ingenieurskunst öffnen sollte.

Ich quetschte mich hinters Steuer und stöhnte vor Schmerzen auf, als mich der weiche Sitz verschluckte. Wow, da konnte sich mein altes Sofa eine Scheibe von abschneiden. So weit, so gut. Bin drin. Die zweite Frage, die mich beschäftigte: Wie lange war ich schon nicht mehr Auto gefahren, geschweige so ein Gefährt? Zu keiner Zeit war die Antwort. Ich besaß eine Fahrerlaubnis, richtig, selber hatte ich es allerdings nie über den Motorroller hinaus geschafft. Das Cockpit des Wagens mutete futuristisch an. Die Bedeutung der scheinbar wahllos angebrachten Knöpfe und Schalter erschloss sich mir nicht auf Anhieb. Ich bestaunte die glänzenden Oberflächen und hätte sicher noch einen halben Tag mit Staunen zugebracht, wenn da nicht diese Stimme gewesen wäre ...

»Was ist denn los? Musst du erst die Bedienungsanleitung lesen, oder kann es jetzt losgehen?«

Den inneren Schweinehund besiegen und aufs Ganze gehen, mein Motto. Was sollte schon groß passieren?

Mehr schlecht als recht startete ich Richtung Heimat, um mich zu sortieren. Wohin könnten wir auch sonst? Kein Gedanke war klar zu fassen, ich schaute immer wieder nach Annemarie, die auf dem Beifahrersitz längst friedlich schlummerte. Ihre Schenkel schaukelten im Rhythmus der Schlaglöcher, ihr Schoß zeichnete sich appetitlich durch die zu enge Hose ab. Ich streichelte die Schenkel, die an ihrem Schoß endeten. Okay, ich war geil, wollte mich abreagieren, Frust und Fluch entfliehen. Immer wieder holten mich Erinnerungsfetzen von Hellen ein, malträtierten mich wie elektrische Schläge. Sie war an jenem Abend perfekt für mich gewesen und die Trauer würde ich mit mir tragen, solange ich atme. Hellen trug Güte in sich, sie sah in mir den Mann ihres Lebens, einen Familienmenschen. Hoffentlich hatte sie sich nicht geirrt.

Die Straßen wurden schmaler und kurviger. Beide Hände gehörten jetzt ans Steuer, obwohl ich fahrerisch an Sicherheit dazugewonnen hatte. Dann passierten wir das Ortsschild.

»Gleich sind wir da«, sprach ich mehr zu mir selbst. Nur noch zehn Minuten bis zu meinem Gehöft in Floh-Selignthal, einem Dorf mit 6512 Einwohnern. Mein Zuhause. Meine Oma pflegte zu sagen: »Wo du weg willst, wenn du älter wirst und zurück willst, wenn du alt bist, das ist Heimat.« Ein altes Sprichwort. Ich hatte meine Heimat nie verlassen - außer für ein paar kurze Urlaubsreisen. Länger als zehn Tage hielt ich es gewöhnlich nirgends aus.

»Sind wir da?«

»Ja, Dornröschen.«

Im Schritttempo bog ich in meine kleine Straße ein, ein geschotterter, leicht abschüssiger Weg, kaum breiter als ein 7,5 Tonner, beiderseits gesäumt von alten Baumbestand. Oben an der Straße verriet nur eine unauffällige Hausnummer den Standort.

Ich rollte auf den Hof, neben die Scheune. Alles schien mir friedlich wie immer. Hier war meine Seele zu Hause.

Leidenschaftlich berichtete ich Annemarie von meinen Anwesen, nahm sie unbewusst bei der Hand und zeigte ihr das Areal.

»Nett hier. Und so ruhig«, kommentierte sie und drückte immer intensiver meine Hand. »Ist bestimmt nicht leicht, das alles in Schuss zu halten.« Wie recht sie hatte. 15ha Land mit einem Haupthaus aus dem Jahr 1912, einer großen Scheune und mehreren Schuppen bzw. ehemaligen Ställen, nicht zu vergessen, mein eigener kleiner See. Okay, es war ein Teich, aber für mich ein Paradies. Jetzt allerdings hielt ich Ausschau nach fremden Spuren.

»Stimmt was nicht, Amos?« Ich glaubte, hier und da frische Fußabdrücke in den Gemüse-, und Blumenbeeten zu entdecken, sowie abgeknickte Blätter und Zweige.

»Ich weiß nicht genau. Ist nur ein Gefühl«, beruhigte ich sie. »Lass uns besser ins Haus gehen. - Warte, nur eine Sekunde.«

Für den Notfall hatte ich einen Satz Reserveschlüssel auf dem ersten höheren Balken in der Scheune deponiert. Die Spinnweben hatten von ihm längst Besitz ergriffen. Kurz abgestaubt, dann zum Hintereingang. Die Tür knarrte beim Öffnen.