Gefährlich gute Grooves

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3: Sounds der Vorstadt

Für Dad war es in Ordnung, am Stadtrand zu leben. Mehr als in Ordnung. Er sprang jeden Morgen um acht in seinen Ford, fuhr zu seiner Arbeit in der Exportabteilung von Wilmot-Breeden, einer Zulieferfirma für die Autoindustrie, und war gegen sechs wieder zu Hause. Er ging sogar auf Dienstreisen ins Ausland, hauptsächlich nach Schweden, wo er für die Firma Geschäfte mit Volvo und Saab abwickelte. Diese Trips erschienen mir sehr romantisch und glamourös. Wenn er zurückkam, roch er nach Zigarren, Flughafen-Lounge und teurem Alkohol. Und er hatte Geschenke mitgebracht, Parfüm für meine Mum und Spielzeug für mich. In den 1960ern liebte Dad seine Arbeit, er liebte sein Leben. Er verwirklichte seinen Traum.

Mum, die nicht Auto fuhr, war in Hollywood isoliert. Sie saß draußen in der Vorstadt fest, weit weg von ihrer Familie und ihren Freunden, und sie hatte an dem Tag aufgehört zu arbeiten, als sie erfuhr, dass sie schwanger war. Sie war alleine mit mir, dem einzigen Kind.

Es gab nur wenige Geschäfte in der Nähe, und Freundschaften schloss sie nur langsam. Aber Mum war eine Kirchgängerin, war es immer gewesen, und hier fand sie ihre sozialen Kontakte. Daher musste die tägliche Reise nach St. Jude unternommen werden, egal wie weit es war und wie das Wetter war.

Natürlich ging ich mit ihr zur Kirche.

Ich erinnere mich noch an die Musik. In St. Jude eignete ich mir das katholische Gesangbuch an. „All Things Bright And Beautiful“, „The Lord Is My Shepherd“, „Faith Of Our Fathers“ waren mein tägliches Brot. Aber die Mega-Hits sparten sie für Weihnachten auf: „We Three Kings“, zum Beispiel – bei dem konnte sogar ich mich nicht enthalten mitzusingen; es war eine richtige Hymne, sehr männlich, stolz und kraftvoll – oder „O Come, All Ye Faithful“, das lateinisch als „Adeste Fideles“ gesungen wurde, wenn der Priester sich sicher genug fühlte.

Einige dieser Hymnen, etwa „Away In A Manger“, sind einfach phantastisch. Sie wurden geschrieben, um Menschen zwischen fünf und fünfundneunzig mitzureißen. Manche Arrangements sind von Titanen wie J. S. Bach übernommen, und so kam ich, ohne es zu wissen, in Kontakt mit einigen der besten Musikstücke, die jemals geschrieben wurden. Die Orgel schwebte durch die Dur-Moll-Modulationen, und meine Nackenhaare richteten sich auf.

Die europäische Pop-Musik basiert zu einem großen Teil auf christlicher Kirchenmusik, so wie amerikanischer Pop viel dem Gospel verdankt, der mehr nach dem Ruf-und-Antwort-Prinzip funktioniert. Simon Le Bon hat mich mal auf diesen Gedanken aufmerksam gemacht. Die Kirchenmusik meiner Kindheit ist mir immer gegenwärtig geblieben, und sie beeinflusst all meine Songwriting-Aktivitäten.

Mums andere Rettung aus ihrem Vorstadt-Exil kam in Gestalt der Technik und ihres Transistor-Radios. Es lief immer und spielte das BBC-Light-Programm. In meiner Erinnerung begann jeder neue Tag mit dem Klang dieses Radios. Ich hörte das Radio, bevor ich meine Eltern sah oder hörte.

Mum liebte Unterhaltungsmusik. Als Teenager vergötterte sie Bandleader wie Harry James und Artie Shaw, sie war ein richtiger Fan. Kürzlich fand ich ein schwarzes Büchlein, in dem sie in ihrer stets eleganten Handschrift ungefähr sechzig Hits der Zeit mit Titeln wie „My Foolish Heart“, „Come With Me My Honey“ oder „Boy Of My Dreams“ aufgeschrieben hatte. Diese ganze Leidenschaft erreichte einen Höhepunkt für sie (und für so ziemlich alle anderen im Lande), als 1962 die Beatles auftauchten. Ich war damals zwei. Sie waren zugleich romantisch, frech und abenteuerlustig. Und sie kamen aus Liverpool.

All die jungen, in die Pilzköpfe verliebten Mütter sangen uns, die wir gerade laufen lernten oder noch in unseren Kinderbettchen lagen, ihre Songs vor: „Love me do“, „All my loving“ oder „She loves you, yeah, yeah, yeah …“.

Ödipus ließ grüßen.


4: Katholische Mahn-Klausel

Als ich vier Jahre alt wurde, trat die Schule an die Stelle der Kirche. Ich ging gerne hin. Hätte ich gewusst, was mich dort erwartete, hätten sie mich hinschleifen müssen.

Wenn ich heute – leicht augenzwinkernd – zurückblicke, waren die Vorschuljahre idyllisch. Zum ersten Mal erfuhr ich die exklusive Aufmerksamkeit einer Frau.

Mum und Dad meldeten mich an der katholischen Grundschule Our Lady of the Wayside an. Obwohl Dad nicht gläubig war, stand er voll dahinter. Man bekam dort vermeintlich eine bessere Erziehung als in der staatlichen Schule vor Ort.

Am ersten Morgen zog Mum mir die Schuluniform an – gelb-graue Krawatte, graue Flanell-Shorts und einen winzigen Blazer –, gab mir etwas zu essen und brachte mich den Hügel hinauf, wo ein halbes Dutzend weiterer Opfer schon auf den Bus wartete.

Ich nahm das alles ganz entspannt. Ich war zuversichtlich, aufgeregt und erwartungsfroh. Meine Eltern hatten mich gut auf diesen Tag vorbereitet. Ich muss eine gewisse Ruhe ausgestrahlt haben, denn der Junge, der in der Klasse den meisten Ärger machte und herumschrie und kreischte, wurde neben mich gesetzt.

Das Beste am Klassenzimmer waren die Sandkiste und der Teewagen, auf dem um Punkt elf Marmeladenkekse bereitlagen. Meine deutlichste Erinnerung an das erste Grundschuljahr ist, wie ich eines Montags ankam und meine neue Brille mit dem breitrandigen Kassengestell trug. Da war ich fünf. Die Lehrerin schlug vor, ich solle mich auf den Tisch stellen, damit sich alle den neuen Nigel gut anschauen konnten. Es war wie: „Hey, nennt mich einfach Vier-Auge, Jungs.“ Ich bin sicher, Mrs. Gilmore hatte keine Demütigung beabsichtigt, aber für einen Fünfjährigen war es das.

Marmeladenkekse waren nicht die einzige Religion in Our Lady of the Wayside. Die katholische Lehre stand auf dem Lehrplan ganz oben; RL – Religionslehre – machte es sich neben Mathe, Geschichte und Geografie bequem. Zwei mal zwei ist vier, die Schlacht von Hastings war 1066, Paris ist die Hauptstadt von Frankreich, und Jesus verwandelte auf der Hochzeit zu Kana Wasser in Wein.

Trotz all der Stunden, die ich in der Kirche verbracht hatte, trotz aller Zeremonien und Lesungen, Musik und Weihrauch, ich kapierte es nicht. Intellektuell ergab es für mich nie einen Sinn.

Ich saß da wie einer aus der Menge bei der Speisung der Fünftausend, kratzte mich am Kopf und grübelte, wie in aller Welt Jesus es schaffte, das ganze Essen aus fünf Brotlaiben und zwei kleinen Fischen zu machen. Wie? Warum? Weil er Jesus war? Weil er der Mann war? Hatte ich irgendwas nicht mitgekriegt?

Aber man lernt schon früh, dass Fragen nach dem Wie oder Warum in der katholischen Kirche nicht geschätzt werden. Die intellektuelle Schärfe der Juden ist nicht unsere Sache. Auch die spirituelle Neugier der Buddhisten nicht.

Ignoranz ist für uns eine Frage der Ehre.

Das ist es, was ich die „katholische Mahn-Klausel“ nenne. Es ist ein kleiner theologischer Geniestreich, der so geht: Wenn du Fragen hast, dann hast du keinen Glauben, und wenn du keinen Glauben hast, dann hast du die Arschkarte, denn Blitze werden sich nachts durch dein Schlafzimmerfenster brennen und DICH VOM ANGESICHT DER ERDE HINWEGFEGEN!

Diese Welt kann ein beängstigender und verwirrender Ort sein, wenn man aufwächst.

5: Eine Hollywood-Erziehung

Dad schmuggelte zu Hause ein paar verschlüsselte Botschaften ein, die eine Welt außerhalb von St. Jude und Our Lady of the Wayside erahnen ließen.

Weihnachten 1966, als ich sechseinhalb Jahre alt war, brachte er den Wilmot-Breeden-Kalender von der Arbeit mit. Dieser Kalender sollte nicht in der Küche oder in einem der anderen „öffentlichen Räume“ der Simon Road 34 hängen. Vielmehr setzte Dad eine Schere an den dicken, glänzenden Blättern an und schuf zwölf Bilder aus aller Welt: der Rote Platz, die Hafenbrücke von Sydney, ein altes, an einem unfassbar blauen Meer gelegenes Dorf mit roten Backsteinhäusern sowie das Bild einer wunderschönen, verführerischen Frau mit rabenschwarzen Haaren. Sie saß in roten Kleidern auf einem Pferd, das so schwarz wie ihre Haare war.

Dad rührte etwas Tapetenkleister an und klebte die Blätter in meinem Zimmer an die Wand über meinem Bett. Über meinem Kopfkissen hing bereits der allgegenwärtige Jesus am Kreuz. Ein Katholik, der etwas auf sich hält, ist nie weit von einem Kruzifix entfernt. Jetzt bekam er in meiner Vorstellungswelt Konkurrenz.

Der geschundene Jesus. Blut tropfte von den Nägeln, die man so brutal durch seine Hände gehämmert hatte. Die Dornenkrone. Es war eine Albtraum-Vision, die den Katholiken ein Gewissen geben sollte. Alles, was sie mir gab, waren Schuldgefühle.

Dads Bilder der Schönheit und des Abenteuers zeigten, was es jenseits der Meere und Ozeane zu entdecken gab. Sie schienen mir zuzuflüstern: „Es gibt mehr im Leben als das hier, Junge. Es gibt nicht nur Hollywood, Ihn und die Schule.“

Nacht für Nacht, wenn meine Lampe schon lange ausgeknipst war, sah ich hoch zu den Bildern; nur das durch die Vorhänge gefilterte Straßenlicht schien auf sie. Und ich begann, von Romanzen, Reisen und Flucht zu träumen.

In der nächsten Phase der häuslichen Erziehung, die mein Vater einführte, begann er, mit mir Geografie zu pauken; Hauptstädte, Flüsse und Fahnen wurden eins meiner Lieblingsgebiete, und ich wurde ein richtiger Experte. Was ganz nützlich ist, wenn man sechs Monate im Jahr unterwegs ist.

Wenn ich am Wochenende morgens zu Mum und Dad ins Bett kletterte, bettelte und flehte ich, er möge mein geografisches Wissen abfragen.

 

„Frag mich nach Flüssen“, bat ich aufgeregt und sah ihn erwartungsvoll an.

Dad faltete dann seinen Daily Sketch zusammen und sagte: „Kannst du ihn nicht fragen, Jean?“

„Ich kenne mich nicht aus, Jack, mich brauchst du nicht darum zu bitten“, antwortete Mum.

Dad lächelte resigniert und fragte: „Amazonas?“

„Brasilien!“, schnappte ich zurück wie ein Piranha. Und wir waren drin.

Es ist ein angenehmes Leben als einziges Kind, besonders wenn beide Eltern da sind und es an Liebe nicht mangelt. Ich hatte es richtig gut.

Wir hatten im Laufe der Jahre drei Nachbarn im Nebenhaus, der Nummer 36. Die schlimmsten waren Polizeibeamte. Ich wusste, die Siebziger waren da, als ich das blassblaue Polizeiauto in die Einfahrt rollen sah.

Das waren Faschisten, Mann – das sah man schon an den Uniformen.

Sie hatten keine Kinder, also hieß es: „Mach die Musik leiser!“, „Mach den Fernseher leiser“ und „Nein, du bekommst deinen Ball nicht zurück, wenn du ihn immer über den Zaun schießt!“ Der Mann war ein richtiger Idiot, und sein Anblick, als er Dad mit aufgerissenen Augen anschrie – „Wenn du dir deinen Bengel nicht vorknöpfst, werde ich es tun!“ – versetzte mich in Angst und Schrecken.

Ich war einfach ein Kind. Als ich älter wurde und die Musik bestimmend wurde, wollte ich die ganze Zeit Musik hören, am liebsten, wenn niemand sonst im Haus war und ich die Lautstärke richtig aufdrehen konnte. Allerdings hatte ich keine Vorstellung davon, wie es für die auf der anderen Seite dieser hauchdünnen Mauern gewesen sein muss.

Meine Eltern hassten diese Konfrontationen mit den Nachbarn. Mum war sehr ängstlich, und Dad hatte keine Lust mehr auf Kämpfe. Er war doch Soldat gewesen, ein Held. Da konnte ich nicht verstehen, warum er sich nicht mit fliegenden Fäusten dazwischen warf. Es dämmerte mir, dass die Macht meiner Eltern begrenzt war.


6: Mittendrin und unsichtbar

Ich hatte Spaß am Lernen, was sich aber nur selten im Klassenzimmer bemerkbar machte. Lediglich zu Hause, in der heimeligen, perfekt sitzenden Welt von Mum, Dad und mir, war ich selbstsicher genug, es rauszulassen.

Intelligenz braucht Übung, und üben bedeutet, Fehler zu machen. In der Welt meiner Eltern fühlte ich mich nie bewertet; in der Schule war ich ständiger Beurteilung ausgesetzt. Ein Einzelkind zu sein, hatte in der Schule auch seine Nachteile; ich mochte es nie, mein Spielzeug zu teilen.

Und ich hasste das System der Benotung, die ständigen Vergleiche: Wer ist gut in diesem, wer ist der Beste in jenem? Der Beste und der Schlechteste. Immer.

Das Fach „Spiele“, dieser Euphemismus für Sport, war am schlimmsten. Wettkampf für Wettkampf tat ich mich mit meinen vier Augen schwer auf den Sportplätzen von Our Lady of the Wayside. Nicht einmal kam der Ruf: Deine Schule braucht dich. Kein einziges Mal durfte ich meine Schule sportlich repräsentieren. Ich entwickelte schließlich nagende Selbstzweifel.

Gibt es etwas Schlimmeres, als ausgelacht zu werden? Ich würde jederzeit eine Operation vorziehen. Ich konnte es nicht ertragen – und kann es immer noch nicht. Zum Glück kennen mich meine Freunde und Familie heute gut genug, um es außer Hörweite zu tun. Aber damals wurdest du ausgelacht, wenn du Letzter warst. Das war zu vermeiden. Ich begann, mich aus dem Rennen zu nehmen.

Erster werden wollte ich aber auch nicht, denn dann musste man in der Klasse oder, schlimmer noch, in der Aula nach vorne kommen, einen Preis entgegennehmen und vielleicht sogar laut vor all den Hooligans „Thank you, Sir“ sagen. Vorzutreten, um von Mr. Lahive meinen Bobby-Moore-Geschenkgutschein für meine Arbeit über „Das Leben der Heiligen“ zu empfangen, war bis heute mein beschämendster Moment. All die Augen, die sich in meinen Rücken bohrten, das vorwurfsvolle Gekicher. Nein danke, auf Auszeichnungen kann ich auch verzichten. Ich versuchte, mittendrin und gleichzeitig unsichtbar zu sein.

Als ich zehn Jahre alt war, 1970, war ich nicht mehr so häufig Gast im Bett meiner Eltern (ich erinnere mich aber noch, wie ich zwischen sie kroch und etwas über die Trennung der Beatles las. Das war für uns so unfassbar wie der Untergang der Titanic). Ich musste also andere Wege finden, um ihre Anerkennung zu bekommen.

Insbesondere die von Dad.

Militärmodellbau war damals das angesagte Hobby. Es war gerade bei Jungen meiner Generation äußerst beliebt und außerdem ein toller Zeitvertreib für Vater und Sohn. Das Zusammenbauen der Airfix-Modelle von Centurion-Panzern, Spitfire-Flugzeugen oder Victory-Schiffen („enthält lebensechten Nelson mit amputiertem Arm“) hat in den späten Sechzigern mehr Söhne und Väter zusammengeschweißt als irgendetwas sonst, von Lederfußbällen mal abgesehen.

Dad legte die Latte für mich hoch, als er zu meinem achten Geburtstag das Short-Sunderland-Wasserflugzeug perfekt zusammenbastelte. Da wusste ich, dass ich langsam auf Touren kommen musste.

Was ich auch tat. Ich wurde süchtig danach, Modelle zu bauen. Ob es am Kleber, dem „Bindemittel“ und dem Emaillelack lag?

Flugzeuge, Schiffe, Lastwagen und Autos – ich baute sie, malte sie an und stellte sie in kleinen Landschaften auf, die in der Bruderschaft der Modellbauer „Dioramen“ heißen.

Mein Taschengeld ging jede Woche für etwas Neues drauf, das ich meiner Sammlung hinzufügen konnte. Spätestens Samstag nachmittag störte ich Vater in der Garage: „Schau mal, Dad, was hältst du davon? Das ist Monty auf der Straße nach El Alamein.“

„Das ist sehr gut, Junge“, sagte er dann. „Hast du Lust, dir im Laden eine Limo zu holen?“

Sieg!

Meine Vorliebe für Modellbau war nicht nationalistisch motiviert. Einen japanischen Zero Fighter oder einen deutschen Panzer baute ich ebenso gerne wie General Montgomerys Humber-Dienstwagen. Die Graf Spee oder die Ark Royal, Grumman- oder Messerschmitt-Flugzeuge, egal, es war alles eins, Teil eines großen Spiels: Krieg, die Schlacht der Uniformen und Kampfanzüge, Kreuze gegen Kokarden. Der Airfix-Katalog war erstaunlich lehrreich, und er gab meiner Generation eine großartige Einführung ins Industriedesign. Außerdem entwickelte sich die Auge-Hand-Koordination. Man lernte dabei mindestens so viel wie in der Schule, und an einem Game Boy macht mich keiner fertig.

Es war eine durch und durch männliche Welt. Die einzige weibliche Figur, die Airfix anbot, war Johanna von Orleans, die mich nicht interessierte. Die menschlichen Figuren, die ich bastelte und bemalte, waren alle Männer. Männliche Männer, die männliche Dinge taten. Zum Beispiel sich gegenseitig umbringen.

Etwa zu dieser Zeit hatte ich eine erste Vorstellung von meinem künftigen Beruf, Pilot in der Royal Airforce. Abends im Bett überlegte ich, ob die RAF wohl noch Spitfires einsetzte.

Das nimmermüde Zusammenbauen von RAF-Kampfflugzeugen, Panzern und Schiffen der Königlichen Marine war auch ein Weg, um an der Oberfläche des großen Tabuthemas zu kratzen: Dads Kriegsjahre. Wir konnten darüber nicht direkt sprechen, also baute ich einfach weiter. Verdammt, wir englischen Kinder hatten es leicht; worüber redeten die deutschen Kids meiner Generation mit ihren Vätern. Nicht viel, wie ich später herausfand, aber daraus entstand ein Antrieb für all die große, tiefgründige deutsche Kunst und Musik der Siebziger und Achtziger.

Ich legte in meiner Obsession noch einen Zahn zu, als ich begann, Modelle von Napoleons Grande Armée zu sammeln und anzumalen. Besonders liebte ich echte Rockstars wie Marschall Murat, der mit ausgestrecktem Arm und erhobenem Säbel auf einem mit einem Leopardenfell geschmückten Hengst in die Schlacht ritt.

Ich brauchte mehr Geld, um meine Abhängigkeit zu befriedigen, denn diese Figuren sowie ihre kleineren, in Blei gegossenen und aus Frankreich importierten Vettern kosteten viel mehr als die Airfix-Kameraden. Dad bescherte mir unbeabsichtigt eine weitere Fähigkeit fürs Leben. Ich wurde der Autowäscher der Nachbarschaft.

All diese Uniformen an Sieben-Zentimeter-Figurinen bis ins winzigste Detail zu bemalen, die Schulterklappen, Tressen, Schärpen und Stiefel, das prägte mein ästhetisches Empfinden. Man kann bei Duran Duran auf der Bühne noch heute den Einfluss von Airfix erkennen. Ich kann mich einfach nicht davon befreien.

Außerdem war ich ein Autonarr, eine andere Leidenschaft, die ich von Dad geerbt hatte. Es gab keinen stolzeren Autobesitzer als ihn, und die Beziehung zu seinen verschiedenen Autos war beinahe erotisch. Jede freie Stunde verbrachte er allein mit dem Wagen in der Garage, um herumzuwerkeln, sich schmutzig zu machen und Dinge nach seinen Vorstellungen anzupassen. Bei jedem noch so leisen Knattern, jeder Vibration während der Fahrt flippte er aus, und sobald wir zu Hause waren, verschwand er und nahm das Auto auseinander, bis er die Ursache für das Geräusch gefunden und beseitigt hatte. Er stellte sein ganzes Arbeitsleben in den Dienst der britischen Autoindustrie, und jedes Anzeichen mangelnder Vollkommenheit war für ihn eine persönliche Beleidigung.

Über die Jahre erarbeitete sich Dad in der Familie einen Ruf als ausgewiesener Fahrlehrer, denn er hatte zahlreichen Onkeln und Tanten, Nichten und Neffen das Fahren beigebracht. Ausgerechnet bei seiner eigenen Frau Jean, meiner Mutter, scheiterte er.

Eines Abends nach der Schule war Dad der Meinung, es sei an der Zeit, Mum zu zeigen, wie man Auto fährt. Mum hielt das für keine so gute Idee, und der Gedanke, sich hinter das Steuer von Dads Zuchtbullen zu setzen, machte sie nervös. Sie wusste, wie sehr Dad an seinem Wagen hing und wie leicht er ausrastete. Trotzdem stiegen wir alle in den kastanienbraunen Ford – Dad für den Moment noch am Steuer – und fuhren zu dem ausersehenen, einige Meilen entfernten Parkstreifen auf dem Lande.

Dad lenkte das Auto an den Straßenrand. Vor und hinter uns lagen jeweils drei Meter hohe Schotterhaufen. Dazwischen waren vielleicht hundertachtzig Meter Platz. Mum und Dad tauschten die Plätze.

Beide waren gereizt, und etwas von der Stimmung musste sich wohl auf mich übertragen haben, denn ich hopste unruhig auf dem Rücksitz herum und quetschte mich wie immer zwischen die Vordersitze, um richtig mitzubekommen, wie der „Unterricht“ ablief.

Dann legte Mum den ersten Gang ein, ohne den Gebrauch der Kupplung in Betracht zu ziehen (das war in den Tagen, bevor das Automatik-Getriebe nach England kam), und ein kreischender Ton erfüllte das Cockpit.

„Himmel, Jean! Du zerstörst die Gangschaltung!“

Mum war starr vor Schreck.

„Oh, Jack … ich weiß nicht, was ich überhaupt machen soll. Nigel!“ –

das bin ich – „Setz dich wieder hin!“

„Du musst die Kupplung treten, bevor du den Gang einlegst. Benutze den linken Fuß“, sagte Dad.

Wieder versuchte Mum, den Gang einzulegen. Aber dieses Mal hörten wir nicht nur das Kreischen, der Wagen hüpfte schwerfällig vorwärts, bumpa bumpa BUMPS!

Der Motor war abgewürgt.

„Um Gottes Willen, Jean, was ist los mit dir?“ Mum war den Tränen nahe, ihr Gesicht rot angelaufen.

„Vergiss es“, sagte sie trotzig. „Ich will nicht fahren, lass mich raus.“

Sie bekam die Tür nicht auf, und Dad machte sein gefährliches, zorniges Gesicht, als würde er gleich platzen. Dann schwang er sich aus dem Beifahrersitz, stampfte vorne um das Auto herum und öffnete die Fahrertür, damit Mum aussteigen konnte. Sie kletterte zurück auf den Beifahrersitz, und Dad setzte sich wieder ans Steuer.

„Und du! Setz dich! Setz dich verdammt noch mal wieder hin!“, sagte er zu mir. Das Auto verließ die Parkbucht, wobei in völlig untypischer Weise die Räder durchdrehten.

Und das war es dann. Mums erste und einzige Fahrstunde war zu Ende. Jedes Mal, wenn künftig davon die Rede war, wurde meine Rolle unweigerlich ein Stück größer, bis ich der Hauptgrund für das Desaster war.

„Wie hätte ich mich denn konzentrieren sollen, so wie du hinten rumgesprungen bist?“