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7: Junior Choice

Jeden Samstagmorgen versammelten wir drei – Mum, Dad und Nigel –

uns am Küchentisch, um zu frühstücken. Im Radio lief um acht Junior Choice mit Ed „Stewpot“ Stewart, das Kindern und ihren Eltern eine weitere hervorragende Möglichkeit bot, einander näher zu kommen.

Aus dem ganzen Land schickten die Leute Briefe. Ed begann sie vorzulesen: „Wir haben einen Brief von Edith Baker aus Accrington. ‚Lieber Ed, unser Jimmy feiert am Samstag seinen achten Geburtstag, und für seine Feier hat er sich einen Kuchen mit einem Bild von dir darauf gewünscht!‘“

Glucksend fuhr Ed fort: „Ich kann mir niemanden vorstellen, der diesen Kuchen essen will, Edith, sind Sie sicher, dass es eine gute Idee ist? Sie schreibt weiter: ‚Wir verpassen die Sendung nie. Könnten Sie ihm bitte etwas aus dem Dschungelbuch vorspielen‘. Nichts lieber als das“, sagte Ed in seiner freundlichen, näselnden Stimme.

Und los ging’s mit „I Wanna Be Like You“. Keith Wests „Excerpt From A Teenage Opera“ wurde in Junior Choice gerne gespielt, ebenso „Puff The Magic Dragon“ und alles von Mary Poppins. Und wir waren alle Wachs in Eds Händen, wann immer er „Supercalifragilisticexpialidocious“ spielte.

Um zehn Uhr war die Sendung vorbei, und wir machten uns für den Wochenend-Einkauf fertig. Sonntags zogen wir uns für die Kirche an. Obwohl Dad nicht arbeitete, kam er merkwürdigerweise auch sonntags nicht mit uns in den Gottesdienst. Er zog es vor, im Auto zu sitzen und die Zeitung zu lesen. Würde Dad deshalb nicht mit Mum und mir in den Himmel kommen?

Zu Hause hörten wir nachmittags wie gebannt Rundfunksendungen. Dad hatte dem Trend nachgegeben und sich in den frühen 1970ern auch eine HiFi-Anlage zugelegt, was in meinen Augen eine notwendige Entwicklung war, so wie das zusätzliche Vinyl-Dach für den Ford oder Nylon-Shirts. Das bedeutete, dass wir jetzt im Fernsehraum Musik abspielen und Radio hören konnten.

Die HiFi- oder Stereo-Anlage – dieses System besaß zwei Lautsprecher –

stand auf einem speziell angefertigten Bord links von Dads Polstersessel und gehörte damit klar in seinen Machtbereich. Er fing an, Alben zu kaufen: Dvoraks Greatest Hits und Rimsky-Korsakovs großartige Scheherazade.

Für manche Einkäufe taten sich Mum und er zusammen, etwa für Max Bygraves Sing-Along-A-Max-Serie. Max tat damals, was Rod Stewart später mit The Great American Songbook machte. Das war tolle Partymusik, wenn meine Tanten und Onkel zu Besuch waren und Drinks serviert wurden.

Aber im Grunde waren die Taylors eine Radio-Familie.

Wenn die Langeweile von Dads Sonntags-Cricket ausgestanden war –

alle schliefen dabei ein, auch er –, begann um siebzehn Uhr auf Radio 1 die Top 30 Chart Show. Dad, ich und meine Oma, die zu Besuch war, kamen am Wohnzimmertisch zusammen, während Mum Tee, Sandwiches, Kuchen und, wenn wir Glück hatten, ihren unerreichten Trifle auftischte. Es gab in der ganzen Woche kein Ereignis, das die drei Generationen mit so viel Begeisterung zusammenbrachte wie die Top 30 Chart Show.

Eigentlich war es der Enthusiasmus von mir und meiner Mutter, der die Party zum Laufen brachte; Dad und Oma hätten ebenso gut darauf verzichten können. Aber sie schwammen mit dem Strom, und es fühlte sich zumindest so an, als würden uns die Höhen und Tiefen der Pop-Welt alle gleichermaßen erregen. Es war eine der wenigen gemeinsamen Familien-Aktivitäten.

Der Höhepunkt kam um fünf Minuten vor sieben. Dann wurde der nationale Nr.-1-Hit in voller Länge gespielt, es sei denn, der Song war so beliebt wie George Harrisons „My Sweet Lord“, der scheinbar monatelang den Spitzenplatz besetzte. In diesem Fall spielten sie bloß ein paar Takte des Songs, was ein Segen war, wenn man das Lied Woche für Woche bis zum Überdruss gehört hatte.

Mit der Zeit fiel mir auf, dass die Lieder, die ich wirklich mochte, es selten an die Spitze schafften. Meistens waren die Nr.-1-Songs etwas zu kitschig für meinen Geschmack: „Chirpy Chirpy Cheep Cheep“, „Welcome Home“ oder „I’d Like To Teach The World To Sing“. Talentshow-Gewinner oder Songs aus TV-Werbespots. Die coolen Songs schienen sich etwas außerhalb der Top 10 anzusiedeln. Wenn der Nummer-1-Hit gelaufen war, setzte Radio 1 aus, und es war Zeit für den Seewetterbericht – diese merkwürdig interessante Lektion in Sachen Wetter und europäischer Geografie. Was war Dogger Bite? Danach beanspruchten die Diensthabenden bei BBC Light Entertainment die Radiowellen wieder für Your Hundred Best Tunes mit rührseligem Zeug wie „In A Monastery Garden“ und „Songs My Mother Taught Me“. Dad machte es sich in seinem Sessel bequem, vielleicht mit einem Drink aus dem vorderen Zimmer, und Oma, die leise mitsang, nickte manchmal ein, wenn sie ein oder zwei Gläschen getrunken.

Die Simon Road 34 war ein musikalisches Haus, allerdings nicht im Sinne der Trapp-Familie. Niemand konnte auch nur eine Note spielen, und es gab im Haus kein einziges Musikinstrument. Und keiner wagte es, laut zu singen, außer Dad, wenn er blau war.

Abgesehen von Mums Transistor-Radio und Dads Stereo-Anlage gab es noch das treue, mit Eichenholz verkleidete Grammophon, das, solange ich denken konnte, im vorderen Zimmer auf dem Boden stand. Es war ein Erbstück aus Großmutters Haus. Mum und Dad benutzten es nur selten und stellten Karaffen und Whiskygläser darauf ab. Ein Bord neben dem Plattenteller war mit einer Auswahl von abgegriffenen Schellackplatten vollgestellt. Diese Überreste der Tanzmusik-Ära – Connie Francis, Frank Sinatra, Peggy Lee – waren das Spielzeug meiner Eltern gewesen und ausrangiert worden, lange bevor ich zur Welt kam.

Zwei Dinge an diesem alten Möbelstück faszinierten mich. Das war zunächst, seit ich ein Kleinkind war, der Plattenteller selbst. Es machte Spaß, ihn als Teststrecke für meine Matchbox-Autos zu benutzen. Ich hielt die kleinen Fahrzeuge so nahe an den kreisenden Filz, dass die Räder in den sich wie verrückt drehenden Belag griffen. Dabei beugte ich mich herunter, um eine Nahansicht der winzigen Reifen zu bekommen. Den visuellen Eindruck begleitete ich mit stimmlich erzeugten Sound-Effekten: der Gangschaltung und dem Brummen der Motoren.

Das zweite Element, das mich in späteren Jahren an der Musiktruhe faszinierte, war ein Röhrenempfänger, der zum Warmlaufen über eine Minute brauchte. Das Radio empfing Signale aus ganz Europa, und auf dem Frequenzband standen Orte wie Hilversum und Luxemburg, die einen exotischen Reiz ausübten. In meinen häuslichen Geografie-Stunden hatte ich vage von ihnen gehört. Der Ton schwankte, mal war er gleichmäßig und beruhigend, mal stotterte der Empfang. War das ein Spionage-Netzwerk? Ich liebte das Geräusch, wenn der Empfang schlecht war, fast genauso wie die Sendungen. Das Knistern, Ploppen und Zischen waren Töne von anderen Planeten.

Ich presste mein Ohr an den Lautsprecher und drehte, langsam wie ein Safeknacker, am Regler, in der Hoffnung, den Sender besser reinzukriegen. Es gab alle Arten von Musik; etwas Pop, häufiger aber erhebende Sinfonien und eine spröde, rhythmische Musik, bei der es sich, wie ich später erfuhr, um Jazz handelte. Fremde Sprachen schwappten in den Raum, Wetterberichte, Hochwasser und glühende Hitzewellen.

Es war, als würde das ganze Universum durch einen Trichter in das vordere Zimmer unseres Hauses gefüllt. Das war aufregend, und es ging so vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Ein Zimmer, das gerade mal neun Quadratmeter maß, war zu einem Raum von unendlicher Größe geworden, wie die TARDIS bei Dr. Who. Dieser Raum würde nicht mehr nur sonntags und an Weihnachten benutzt werden. Ich musste in der Nähe dieses Apparats bleiben.

Sonntagabende endeten unweigerlich mit Dads Aufforderung: „Mach dich fertig, Junge, morgen ist Schule. Ab ins Bad.“

„Alles klar, Dad, mach ich“, antwortete ich dann. Doch anstatt gleich für die obligatorische Körperpflege nach oben zu gehen, schlüpfte ich in die Stube und schaltete im Dunkeln das Radio ein. Das Licht, das es abstrahlte war zu schwach, um mich zu verraten. „Wo ist jetzt dieses Radio Luxemburg auf der Skala?“, fragte ich mich, als die Röhren warmliefen.


8: Meine Mondlandung

Als ich elf war, absolvierte ich das vorgeschriebene Elf-Plus-Examen, das darüber entschied, ob ich auf ein Gymnasium oder eine Mittelschule gehen würde. Traditionell war das Gymnasium angesagt. Mein Vater ließ mich in einem Anfall pädagogischer Einsicht eine spezielle Prüfung für Birminghams bestes Gymnasium, die King Edwards Grammar School, ablegen (dort hatten sie J. R. R. Tolkien unterrichtet). Aber ich fiel durch, nachdem ich mich zwischen den Tests beim Herumtollen auf dem Sportplatz völlig mit Matsch beschmiert hatte. Mein Dad bekam einen solchen Wutanfall, dass ich mich in der zweiten Runde nicht mehr davon erholte und mit den Aufgaben nichts anfangen konnte.

Ich mochte nicht der fleißigste Schüler gewesen sein, doch ich bestand das reguläre Elf-Plus-Examen und verließ die beschränkte katholische Welt von Our Lady of the Wayside in Richtung der grüneren Gefilde der County High School in Redditch. Die Schule war eine sechzigminütige Busreise von unserem Haus in Hollywood entfernt. Ich gewöhnte mich dort nie recht ein. Auch dort war das System sehr konkurrenzbetont, und die Klassen waren größer. Es war mir unmöglich, die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ich gebraucht oder mir gewünscht hätte. Nach ein paar mit fragwürdigem Erfolg absolvierten Jahren („Schlechteste zweite Klasse aller Zeiten: 2F3“; „Schlechteste dritte Klasse in der Geschichte der Schule: 3F2“) begann ich blauzumachen.

 

Zuerst schwänzte ich Sport, dann auch den Unterricht im Anschluss daran. Mit der Zeit fiel es mir immer schwerer, Interesse für das schulische Angebot aufzubringen. Ich war kein Star auf dem Sportplatz, schaffte die Arbeit nicht, ich war nicht im Orchester, und in der Klasse hatte ich keinen Anschluss. Meistens beschäftigte ich mich obsessiv mit Julie McCoy, mit der ich jeden Abend mindestens eine Stunde telefonierte. Die Tatsache, dass sie einen Freund hatte, hielt mich nicht davon ab, aber sie sorgte dafür, dass nicht mehr daraus wurde.

Die Schule gab mich schließlich auf. Ich hielt mich für sehr clever, dass ich damit durchkam, aber die Lehrer dachten wohl einfach: „Warum sollen wir uns mit ihm abmühen, wenn wir all die anderen Kinder haben, die das wollen, was wir ihnen anbieten?“

Meine Eltern hatten keine Ahnung, was vor sich ging. Sie kümmerten sich noch weniger um meine Schulausbildung als ich. Wenn die Schule ihnen einen Brief schrieb, um mich zu verpfeifen, konnte ich das förmlich riechen, und er kam nie an. Ich wurde ein versierter Fälscher. Ich konnte die Unterschriften meiner beiden Eltern perfekt imitieren, und es war leicht, ein „E“ auf dem Zeugnis in ein „B+“ zu verwandeln, was eigenartig war, wenn man den dazugehörigen Kommentar berücksichtigte: „Er hatte ein sehr schwaches Jahr, seine Leistungen sind weiterhin enttäuschend, B+.“

Während die Bedeutung der Schule abnahm, wurde die Musik zu einem immer größeren Einfluss in meinem Leben.

Als ich zwölf war, übernahm mein fünf Jahre älterer Cousin Eddie, der im Viertel der Zeitungsjunge war, von meinem Vater die Rolle als wichtigstes männliches Vorbild. Ich war, ganz so wie es in all den Büchern über die Erziehung von Jungen steht, auf Zielkurs. Er hatte drei Schwestern, was ein zusätzlicher Grund dafür gewesen sein mag, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ihm nach Hause zu radeln.

Eddie besaß außerdem eine expandierende Plattensammlung. Keine gewöhnliche Plattensammlung, sondern eine Sammlung von Alben. So ziemlich jeden Künstler, der sein Geld wert war, habe ich zuerst in der Gesellschaft meines Cousins Eddie gehört: David Bowie, Rod ­Stewart, Elton John, Cat Stevens, James Taylor, Melanie … okay, nicht alle waren so bedeutend, aber wie er seine Musik liebte! Und er hatte die entsprechenden Poster an der Wand. Eddie verschrieb sich restlos dem Rock-Mythos.

Vierzig Jahre später ist er immer noch ein wahrhaft Gläubiger. Vierzig Jahre später rufe ich ihn immer noch an, wenn ich wissen will, was in der britischen Musikszene los ist.

Ich half ihm beim Austragen der Zeitungen und wurde vorzeitig in die Welt männlicher Teenager eingeführt, in die Welt der Mädchen und des Aftershaves, der Rennräder und Klamotten: Rundkragen, Schlaghosen, eng anliegende Fairisle-Pullover und Plateauschuhe.

Das war 1972.

Wenn ich mit Eddie und seinen Freunden zusammen war, fühlte ich mich groß. Ich wurde ohne Einschränkung akzeptiert, wie von Mum und Dad, aber das hier war viel cooler.

Ich erinnere mich, wie er mir Bowies Album Hunky Dory vorspielte, mein erster Kontakt mit diesem kulturellen Giganten der Siebziger.

„Wart’s ab, Kleiner“, sagte Eddie. „Bowie wird richtig groß werden. Wir haben Tickets für seinen Gig in der Town Hall nächste Woche, zehnte Reihe. Nicht wahr, Stan?“

Eds Kumpel Stan nickte eifrig. „Jawohl, haben wir, Ed.“

„Das wird richtig gut, Kleiner, hör dir das hier mal an.“

Der Tonarm des Plattenspielers senkte sich noch einmal. Das Album lief wieder. „Still don’t know what I was waiting for …“

Anders als Ed, der auf Singer-Songwriter stand, sagten mir Bands mehr zu. Ich mochte das Zusammenspiel der Musiker, zwischen Gitarrist und Sänger: Rod und Woody, Mick und Keith, David und Mick, großartige Allianzen, die mich weit mehr ansprachen als die einsame Troubadour-Pose. Zwei Typen oder mehr, vielleicht vier oder fünf, das war eine Gang. Es war Kult, und es war sexy.

Roxy Music war die Band, die meine besondere Aufmerksamkeit auf sich zog, weil alle darin Stars waren, ungewöhnlich aussahen und musikalischen Charakter hatten. Ihr Debüt in Top of the Pops im August 1972 veränderte alles für mich.

Es ist schwer zu sagen, was innovativer war, der Sound oder die Optik.

Beginnen wir mit dem Sound: Sci-Fi-Trash und Vaudeville, treibende Backbeats und schmachtender Gesang im Stil von Sinatra. Und das Aussehen: Lipgloss, Pelz und ein kalbslederne Handschuhe tragender Keyboarder, der im Grunde nicht spielte, sondern stattdessen fleißig Knöpfe betätigte.

Ich klebte förmlich am Fernseher.

Das war meine Mondlandung.

Ich träumte nie davon, ein Frontmann zu sein, aber ich fing an, mich irgendwo in einer Truppe zu sehen, vielleicht ein Stück links vom Scheinwerferlicht.


9: Nebendarsteller

Die Welt der Konzerte und der Live-Musik kam mir aufregend vor, und ich wollte mit dabei sein, aber das setzte schwierige Verhandlungen mit den Altvorderen voraus. Eddie und seine Freunde reihten sich oft in die langen Schlangen ein, die sich Samstagabend vor dem Odeon im Zentrum von Birmingham bildeten. Sie warteten die Nacht hindurch, um Tickets zu bekommen, wenn am nächsten Morgen um elf die Konzertkasse öffnete.

„Ich sag dir was, Junge“, schlug Ed vor, nachdem für Weihnachten ein Konzert von Rod Stewart angekündigt worden war. „Wir übernehmen die Nachtschicht mit unseren Schlafsäcken. Du und dein Kumpel, ihr kommt dann morgens mit dem ersten Bus und löst uns in der Schlange ab – ihr holt die vier Tickets, wenn sie aufmachen.“

Das hörte sich gut an. Und ich musste es noch nicht einmal zu Hause erwähnen.

Alles lief nach Plan, bis um elf Uhr Bewegung in die Schlange kam. Was für ungehobelte Leute! Stewart hatte in den frühen Siebzigern recht trinkfreudige Anhänger, und sie hatten die ganze Nacht gebechert. Ich kleines Würstchen und mein Kumpel wurden hin- und hergestoßen, geschoben und abgedrängt; mehrfach verloren wir unseren Platz, aber wir ließen uns nicht unterkriegen. Ich konnte meinen Cousin nicht im Stich lassen, der so viel Vertrauen in mich gesetzt hatte, und ich hatte diesen heißen, klebrigen Zehner (die besten Tickets kosteten damals zwei Pfund). Aber als noch zehn oder zwanzig Leute in der Schlange zwischen mir und dem Odeon standen, ging ein Schild hoch: ALLE TICKETS AUSVERKAUFT. Verlor ich bei Eddie und seinen Freunden jetzt meine Glaubwürdigkeit? Nun, er war sehr verständnisvoll. Er musste jetzt nur etwas mehr Cash für zwei Tickets vom Schwarzmarkt zusammenkratzen –

diesen Auftritt wollte er sich einfach nicht entgehen lassen.

Im nächsten Jahr, als Rod Stewart und die Faces zwei Weihnachtskonzerte in Birmingham ankündigten, zuckelte ich mit meinem neuen Freund Nick Bates mit dem ersten Bus am Morgen in die Stadt. Kaum zu glauben, aber wir standen plötzlich ohne große Anstrengung vorne in der Schlange und konnten Karten für zwei Plätze in der ersten Reihe erstehen.

Dass es so leicht war, wertete ich als ein Zeichen von Magie. Nick – der Mann, der später Rhodes hieß – ruhte schon immer im Zentrum seines eigenen Universums. Er ist ein außerordentlich kreatives Individuum, mit dem es das Schicksal gut gemeint hat. Seine Mutter hatte sogar einen Spielzeugladen! Wie viel Glück kann man eigentlich haben? Von Beginn unserer Beziehung an wusste ich, das Leben würde aufregend sein, wenn ich nur in seiner Nähe blieb.

Ich traf Nick im Winter 1973. Ich war dreizehn, er elf. Das Elf-Plus-Examen, das ich erfolgreich abgelegt hatte, war nach meinem Jahrgang in unserer Gegend abgeschafft worden. Man hatte es durch etwas vermeintlich Demokratischeres und weniger Selektives ersetzt, also konnte Nick sich nicht daran versuchen. Man schickte ihn auf die örtliche Mittelschule in der Wohnsiedlung oben auf dem Hügel, die Woodrush School an der Shawhurst Lane. Die Regierung hatte verfügt, dass grundsätzlich jeder in die Schule gehen sollte, die der Wohnadresse am nächsten lag. Ein negativer Effekt dieser Entscheidung war, dass meine Schule, die County High School, von ortsansässigen Prolos überschwemmt wurde. Manche von ihnen wollten einfach nur den Buben vom Gymnasium – diese Schwuchteln! – so viel Ärger machen, wie sie konnten. Ich wurde schnell zu einem geschickten Vermittler, war freundlich zu den Schwachköpfen und gleichzeitig meinem eigenen Stamm so treu wie möglich, besonders den kultivierten jungen Damen in ihren engen blauen Blusen. Mein engster Freund aus der Nachbarschaft trug den eher ungewöhnlichen Namen David Twist. Er war so alt wie ich (wir waren sozusagen Bett an Bett im selben Krankenhaus zur Welt gekommen), und seine Mutter war einige der wenigen Freundinnen meiner Mum. David war durch sein Examen gefallen. Deshalb war er auch auf der Woodrush School, wo er Nick kennen lernte. Obwohl Nick zwei Jahre jünger war, ahnte David, dass Nick und ich uns verstehen würden, also machte er uns miteinander bekannt.

1973 war David Bowie der König, und das zu Recht. Er hatte eine bemerkenswerte Serie von Erfolgen hingelegt. Die Veröffentlichung seines Meisterwerks The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars war nur der Anfang. Er schrieb außerdem „All The Young Dudes“ für Mott the Hoople, eine seiner Lieblingsbands, die sich aufgelöst hatte, aber wieder zusammenfand, als sie den Song hörte. Er produzierte Transformer für Lou Reed und verhalf ihm zu seinem ersten Top-30-Hit überhaupt. Und dann – das war am erstaunlichsten – verschaffte er sich Zugang zu Iggy and the Stooges, um an der Produktion von Raw Power mitzuwirken und diesen New-Metal-Koloss abzumischen. Im Juni 1973 absolvierte Bowie eine gewaltige UK-Tour, an deren Ende er von der Bühne des Londoner Hammersmith Odeon seinen Rückzug verkündete. Es war natürlich eine List, wie wir alle bald erfahren sollten (es war Ziggy, der in Rente ging, nicht David). Aber ich erinnere mich, wie ich es in den 8.30-Nachrichten hörte, als ich in der letzen Reihe des Schulbusses saß. Es war, als würde die Queen abdanken, und so war es ja irgendwie auch.

Aber Nick und ich teilten ein geheimes Wissen bei dieser ganzen Geschichte. Während „The Dame“ die Verbeugungen machte und den ganzen Applaus bekam, lauerte die eigentlich Macht hinter dem Thron links auf der Bühne: Bowies Lead-Gitarrist Mick Ronson, mit wasserstoffblonden Haaren und Plateauschuhen.

Alle Mädchen in der Schule waren in jenem Jahr Fans von Bowie, also war es für uns naheliegend, auch Bowie-Fans zu sein. Wir waren stattdessen beide vom subtilen, stillen Ronson fasziniert, was uns noch fester zusammenschweißte. Die Juwelen schuf zweifellos Bowie, aber es war Mick, der die Fassungen schmiedete und dafür sorgte, dass die Steine im bestmöglichen Licht gezeigt wurden.

In den ernsthaften Musikmagazinen hat es in den letzten Jahren viele Geschichten darüber gegeben, was Mick zum Bowie-Kanon beigesteuert hat. So als hätten die Experten nach jahrelangen Recherchen und Laser-Scans entdeckt, dass eigentlich Michelangelos Assistent Luigi die richtig geilen Sachen in der Sixtinischen Kapelle gemalt hat, während der Boss gerade beim Mittagessen war.

Nick war bereits bei zwei Konzerten gewesen – ja, dieser Bursche war weit für sein Alter. Gary Glitter und Slade, wenn die Erinnerung nicht trügt. Mir stand diese Entjungferung noch bevor. Also stellten wir zwei uns an einem Samstagmorgen im Frühling ’74 vor der Birmingham Town Hall an, um zwei Karten für Ronsons im April anstehende erste Solo-Tour zu erstehen. Wir bekamen Plätze in Reihe J, die Karten kosteten jeweils 1,35 Pfund. Es war das erste Mal, dass meine Eltern mir erlaubten, abends in die Stadt zu gehen.

Ihr Einverständnis verdankten wir Nicks Mum Sylvia, die bereit war, uns hinzufahren und auch wieder abzuholen. So mussten wir nicht den Nachtbus nehmen. Niemand, der an diesem Abend zur Town Hall kam, musste für ein Programmheft bezahlen. Wir bekamen alle schöne Mappen mit Fotos, Ansteckern, einer Biografie, einem Farbposter und einer Flexidisc. Wir spielten stundenlang mit der Flexidisc herum und lachten darüber, während der gute Mick in seinem tiefen Yorkshire-Akzent von der Liebe schwärmte: „Luv … luv … when you’re in luv … it’s … it’s the best thing in the WE-ERLD.“

Was ich von dem Konzert am besten in Erinnerung habe? Vor allem das, was abseits der Bühne passierte. Eine Vorahnung vielleicht von der Erfahrung, die ich ein paar Jahre später im Brighton Dome machte. Die Gewalt von alldem, die zerschlagenen Sitze, das ganze Geschiebe, Gedränge und Getrampel, die kreischenden Mädchen. Ich hatte etwas wie einen Kinobesuch erwartet – dass wir uns in unseren Samtsitzen in Reihe J zurücklehnen und die Erfahrung aufsaugen würden. Aber das hier war kein passiver Genuss. Es war ein körperliches Erlebnis.

 

Mick Ronson hatte ganz klar keine Lust darauf. Die von der Bowie-Mania befallenen Kids drehten durch. Mick wollte einfach, dass sie sich beruhigten und sich die Songs anhörten, aber das sollte nicht passieren, nicht an diesem Abend.

Mick mochte einer der größten lebenden Sidekicks sein, übertroffen vielleicht nur von Keith Richards, aber er stand nie wirklich gerne im Mittelpunkt.

Nick und ich trugen Chiffon-Klamotten, ohne dass man uns groß dazu ermuntern musste, und wir beide liebten die Frisuren, das Make-up und die Kleider, die ihren Anteil daran hatten, dass die britische Glam-Rock-Ära so großartig war. Wir waren beide nicht alt genug und hatten auch nicht die Kohle, um uns so auszustatten, wie wir es gerne getan hätten. Außerdem hatte die Glam-Bewegung mit der Bowie-Tour im Jahr zuvor ihren Höhepunkt erreicht. Aber wir fanden unseren Platz.

Bryan Ferry hatte modisch die Richtung vorgegeben, und all die Jungen durchforsteten jetzt den Kleiderschrank ihres Vaters, um seinen alten Nachkriegsanzug zu finden; es war der Stil der Vierziger mit den weiten Zweireihern, wie sie Humphrey Bogart in Casablanca trug.

Dads Anzug passte mir perfekt. Aber dann war da noch die transsexuelle Seite des Glam, und so kombinierten wir die Anzüge mit Damenblusen. Im BHS-Kaufhaus im Stadtzentrum gab es eine ganze Etage mit spottbilligen Damen-Zweiteilern aus den Vierzigern und Fünfzigern. Ein Paradies für klassische Mode. Einige dieser Jacketts waren göttlich und passten sowohl Nick als auch mir. Dazu noch etwas Chiffon, vielleicht einen Schal mit Tierfell-Design von Chelsea Girl, und das war’s dann.

„Ihr wollt doch wohl nicht in den Sachen ausgehen?“, erregten sich unsere Eltern. „Mach dir darüber keine Gedanken, Dad“, antwortete Nick dann trotzig zu seinem Vater, während ich in ihrem Badezimmer noch etwas Lipgloss auftrug.

„Ach, lass sie doch, Roger“, pflegte Sylvia zu sagen. „Sie wollen doch nur ihren Spaß haben.“

Oft wurden wir von Bauarbeitern angepöbelt.

Nick war etwas extravaganter als ich. Er hatte eine Freundin, Jane, was ihm ein wenig Deckung gab.

Eines Abends im Zug zurück nach Hollywood saßen wir vorne in einem Abteil, hinter einer Glasscheibe. Eine Gruppe von Kerlen in Jeans fing an gegen die Scheibe zu schlagen.

„Wir kriegen euch! Ihr Schwuchteln seid tot!“

Nick und ich machten uns vor Angst in die Hose, aber wir verzogen uns so cool wie möglich ans hintere Ende unseres Wagens. Wo war bloß der Wachmann?

Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Da Nick bei mir war, entkamen wir der Gefahr wie durch Magie. Als wir in Whitlocks End einfuhren, waren die Typen verschwunden.

Wir hatten noch andere Dinge gemeinsam als unseren gefährlichen Mode- und Musikgeschmack: auch er war ein Einzelkind, unsere Geburtstage fielen in denselben Monat, Juni (wir sind beide Zwilling), und unser Lieblings-Brettspiel war Chartbuster.

„Würfel eine sechs – deine erste Single steigt zehn Plätze in den Charts!“

Dieses Pop-Business sah ziemlich einfach aus.

Das nächste Konzert, zu dem Nick und ich gingen, gaben Roxy Music im September im Odeon. Es war ein Samstag, und am Nachmittag auf unserem üblichen Trip in die Stadt fanden wir uns im Theater-Foyer ein. Dort machten wir die Bekanntschaft zweier Jungs, Marcus und Jeff, die älter als wir und beide hartgesottene Roxy-Fans waren. Sie erzählten uns, die Band sei bereits im Gebäude, und wenn wir schnell die Gasse herunterliefen, die an der Seite des Odeon entlang führt, könnten wir sie spielen hören. Das war der Moment, an dem ich die geheime Welt der Soundchecks kennen lernte. Die Vorbereitung einer Show erfordert am Nachmittag fast immer einen Besuch des Künstlers im Konzertsaal, wenn die Kabel und Mikros und Verstärker und das Schlagzeug getestet werden, um sicherzugehen, dass die triumphale Ankunft auf der Bühne später am Abend nicht durch technische Fehler beeinträchtigt wird. Ungefähr ein Dutzend Kids stand da in Roxy-Aufmachung – T-Shirts, Schals, Haarschnitt – neben einem lilafarbenen Sattelschlepper, der rückwärts an den Bühneneingang herangefahren war, um die Ausrüstung abzuladen. Wir konnten Roxy nicht sehen, aber hören konnten wir sie, wenn auch schwach; sie spielten Songs von ihrem neuen Album Country Life. Dann hörte die Musik auf, und wie auf Stichwort rollte eine schwarze Mercedes-Limousine die Durchfahrt herunter.

In einem plötzlichen Anfall von Aktivität stürmte die Band aus dem Bühneneingang und drängte sich in einem Rutsch in den Schutzraum des Autos, das die Rampe hoch in Richtung New Street losbretterte.

Ein Mädchen schrie: „Sie fahren zum Holiday Inn! Ich kenne eine Abkürzung!“ Und auf ging‘s, die zwölf größten Roxy-Music-Fans aus Birmingham sprinteten volle Pulle durch die Innenstadt.

Das war ein Verein, dem ich angehören wollte.

Das Mädchen kannte sich aus; wir warteten unter dem Vordach des Hotels, als der Wagen vorfuhr.

Ich kann mich nicht an Ferry erinnern, aber ich erinnere mich an den Gitarristen Phil Manzanera, den größten Mann, den ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Vielleicht lag es an den Plateaustiefeln. Der Keyboarder Eddie Jobson nahm sich die Zeit, Hallo zu sagen und Autogramme zu geben. Ich bat einen der Fahrer, mir den Champagnerkorken zu geben, den ich auf der hinteren Ablage der Limousine entdeckt hatte. Ich war stolz darauf. War das ein sonderbares Verhalten für einen vierzehnjährigen Vorstadtjungen? Ich fand das nicht.

Nicks und meine Konzert-Geherei nahm Fahrt auf. Ich habe immer noch die abgerissenen Tickets aus jenen Jahren. Die Show der Faces kam im Dezember, dann Queen, Genesis – große Gigs von großen Bands, die gewöhnlich in der Town Hall oder im Odeon stattfanden. Und wenn Musiker kamen, von denen wir echte Fans waren, wie Iggy Pop auf Tour mit David Bowie oder Mott the Hoople, konnte es vorkommen, dass wir wieder unter diesen Hotel-Vordächern standen oder am Bühneneingang warteten, um beim Soundcheck zuzuhören.