Mit Kindern wachsen

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Wie soll ich das schaffen?

Jede Familie befindet sich in einer ganz speziellen Situation, und keine kann auf genau die gleichen Ressourcen zurückgreifen wie eine andere. Doch glauben wir, dass alle Familien und Individuen, einfach weil sie Menschen sind, über immense innere Ressourcen verfügen, die sie nutzen und weiterentwickeln können, unabhängig von den Umständen, in denen sie sich befinden. Diese Ressourcen können uns bei unserem Bemühen, wichtige Entscheidungen für unser eigenes Leben und für unsere Familie zu treffen, in ungeheurem Maße helfen.

Es gibt Menschen, die stets Möglichkeiten finden, das Wohl ihrer Kinder an die erste Stelle zu setzen, so schwierig ihre persönliche oder ökonomische Situation auch sein mag. Wir meinen, dass Kinder es in jedem Fall verdienen, im Leben ihrer Eltern an erster Stelle zu stehen. Aber was heißt es, Kinder an die erste Stelle zu setzen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Was auch immer es für Sie bedeutet, es wird sich ändern, während Ihre Kinder älter werden, und es kann für jedes Kind etwas anderes sein. Ganz bestimmt bedeutet es nicht, von unseren Kindern besessen zu sein und ständig wachsam über ihnen zu schweben (was in dem Schlagwort „Helikopter-Eltern“ zum Ausdruck kommt). Es bedeutet auch nicht, dass Sie Ihre eigenen Bedürfnisse auf eine Art opfern müssen, die im Grunde unklug und für alle Beteiligten potenziell ungesund ist. Achtsamkeit bedeutet nicht, auf ein Kind dermaßen fokussiert zu sein, dass Sie sich selber verlieren. Der Dreh- und Angelpunkt für alles heißt „Balance“. Achtsamkeit hilft uns dabei, unser Lebensgefühl eines buchstäblich „leibhaftigen“ Gewahrseins weiterzuentwickeln und zu vertiefen, die gelebte Erfahrung, im Körper und im Leben geerdet zu sein.

Wie bei einem Staffellauf, bei dem in einer Übergangsphase der Stab weitergereicht wird – sprich: wenn sie volljährig sind –, ist es unsere Aufgabe als Eltern, unseren Kindern eine gute Ausgangsposition zu verschaffen, damit sie ihre „Solo-Runden“ erfolgreich laufen können. Um das zu ermöglichen, müssen wir ihnen in der Zeit, in der wir neben ihnen herlaufen, alles geben. Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Es gibt nicht nur einen einzigen richtigen Weg, und es gibt kein Patentrezept. Es geht auch nicht nur um ein „Machen“. Im Gegenteil: Auf lange Sicht gesehen, könnte es mehr um unser „Da-Sein“ gehen als um unser Tun. Ganz gleich, unter welchen Umständen wir leben, wenn der Wille, die Motivation und das Interesse da sind, können wir lernen, die inneren Ressourcen von Stärke und Weisheit, Kreativität und Fürsorglichkeit zu nutzen, die in uns allen schlummern. Noch mehr: Jeder Augenblick gibt uns dazu aufs Neue Gelegenheit, und deshalb ist es wichtig, dass wir einen Rhythmus finden und verstehen, dass wir sanft zu uns sein müssen, denn wir haben einen weiten Weg vor uns. Und das ist es, was die Praxis der Achtsamkeit uns Eltern bietet.

Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie fordert Eltern Energie und Engagement ab, so wie das auch für jede andere intensive spirituelle Praxis und für jede Bewusstseinsdisziplin gilt. Vielleicht werden wir uns hin und wieder fragen, ob wir wirklich in der Lage sind, eine solche Aufgabe auf uns zu nehmen, deren Erfüllung unser ganzes Leben in Anspruch nehmen kann. Vielleicht fragen Sie sich: „Wie soll ich das denn zusätzlich zu all dem anderen, was ich schon tue, auch noch schaffen?“ Vielleicht unterstützt und inspiriert es Sie dann, wenn Sie entdecken, dass Sie aufgrund Ihrer Funktion innerhalb der Familie bereits mit wichtigen Aspekten systematischer Disziplin und mit Methoden der Achtsamkeit vertraut sind. Achtsamkeit als innere Disziplin zu praktizieren ist Eltern möglich, weil sich diese Art der Anwesenheit ganz natürlich aus den Erfahrungen und Anforderungen entwickelt, denen wir innerhalb der Familie Tag für Tag gegenüber stehen.

Wir müssen als Eltern ohnehin ständig aufmerksam und diszipliniert sein. Wir bringen uns dazu, jeden Morgen rechtzeitig aufzustehen, dafür zu sorgen, dass auch unsere Kinder aufstehen und frühstücken, so dass sie rechtzeitig zur Schule aufbrechen, und dann, falls wir nicht zu Hause arbeiten, uns selbst für die Arbeit bereitzumachen und rechtzeitig loszugehen. Es fordert Disziplin und Aufmerksamkeit, die komplizierten Zeitpläne unserer Kinder und unsere eigenen Termine aufeinander abzustimmen, und auch bei der Planung und Ausführung tagtäglicher Verrichtungen wie Einkaufen, Kochen, Waschen und Putzen sind diese Faktoren wichtig.

Wir haben bereits erstaunliche Fähigkeiten entwickelt. Wir betreiben Tag für Tag Krisenmanagement, jonglieren mit unterschiedlichen, oft miteinander konkurrierenden Anforderungen an unsere Zeit und Energie, und wir setzen jenen unglaublichen sechsten Sinn ein, den wir als Eltern sehr schnell entwickeln und der uns in jedem Augenblick sagt, wo unsere Kinder sind und ob ihnen Gefahr droht. Wir sind auch geübt darin, ein Gespräch zu führen, während wir andere Dinge erledigen, sowie darin, uns trotz unzähliger Unterbrechungen nicht von einem bestimmten Gedankengang abbringen zu lassen. Andere Menschen mögen sich zuweilen verletzt oder abgespeist fühlen, weil sie das Gefühl haben, dass wir ihnen nicht unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Doch als Eltern können wir unsere Aufmerksamkeit gleichzeitig auf viele Dinge richten: Wir können uns mit jemandem unterhalten und dabei auf unser Kind aufpassen, eine Jacke zuknöpfen oder das Kind rasch auf den Arm nehmen, bevor etwas Gefährliches passiert. Solche Fähigkeiten entwickeln Eltern zwangsläufig. Je mehr wir sie nutzen und entwickeln – und das müssen wir als Eltern ohnehin –, umso besser werden wir darin. Sie gehen uns in Fleisch und Blut über.

Bei unseren Bemühungen, als Eltern Achtsamkeit zu praktizieren, können wir diese bereits vorhandenen Fähigkeiten sowie die Disziplin, die das Familienleben erfordert, überaus gut einsetzen. Das eine ist die natürliche Erweiterung des anderen. Um im Umgang mit unseren Kindern Achtsamkeit zu entwickeln, müssen wir einen Teil unserer Energie und Disziplin und Fürsorglichkeit nach innen richten, auf unseren eigenen Geist und Körper; auf unsere Erfahrungen und unser Bemühen, uns systematischer um das innere und äußere Leben unserer Kinder zu kümmern, ihre seelischen und ihre physischen Bedürfnisse gleichermaßen – etwa Kleidung, Nahrung und ein angenehmes Zuhause.

Wir können in jeden Augenblick Achtsamkeit einbringen, ganz gleich, wie kurz er ist oder wie gestresst wir sind oder wie „zu“ wir uns fühlen mögen. Doch um Achtsamkeit zu kultivieren, ist es erforderlich, dass wir uns tagtäglich engagieren.

Die meisten der vielen tausend Teilnehmer des auf der Achtsamkeitspraxis basierenden Anti-Stress-Programms, das an der Stress Reduction Clinic des Medizinischen Zentrums der Universität Massachusetts angeboten wird, sind Eltern. Viele von ihnen kommen mit schweren und manchmal lebensbedrohlichen Gesundheitsproblemen zu uns und haben oft auch noch erhebliche soziale, ökonomische und persönliche Probleme. Manche haben in ihrer Kindheit selber schreckliche Dinge erlebt. In ihrem Bemühen, mit ihrer extrem schwierigen Situation in der Gegenwart und mit ihren Problemen aus der Vergangenheit fertig zu werden, leisten viele dieser Menschen tagein, tagaus Erstaunliches. Während des achtwöchigen Kursprogramms versuchen sie, in ihrem Leben Achtsamkeit zu entwickeln, wobei sie auf dem aufbauen, was sie ohnehin bereits für ihr eigenes Wohlbefinden und für das Wohl ihrer Familien tun. Im Laufe dieses Kurses verändern sich die Einstellungen dieser Menschen sowie die Art, wie sie andere Menschen einschließlich ihrer Kinder sehen und wie sie zu ihnen in Beziehung treten, oft tiefgreifend und dauerhaft. Trotz der Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, im Alltagsleben Achtsamkeit zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, berichten viele Kursteilnehmer, dass sie sich aufgrund der für sie neuartigen Aufmerksamkeit sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit entspannter, positiver und besser in der Lage fühlen, mit Schwierigkeiten fertig zu werden, und dass ihr innerer Friede und ihr Selbstvertrauen stabiler sind. Die Anwendung der Achtsamkeitspraxis eröffnet ihnen neue Möglichkeiten. Manche Teilnehmer berichten, dass sie sich innerlich freier und sicherer fühlen, als sie es je zuvor für möglich gehalten hätten – sie haben nicht mehr das Gefühl, den Umständen ihres Lebens hilflos ausgeliefert zu sein.

In diesem klinischen Programm erläutern Kursleiter den Teilnehmern die verschiedenen Aspekte der Meditationspraxis und geben ihnen außerdem Tipps, wie sie diese Methoden in problematischen Alltagssituationen anwenden können. Im Laufe des Programms merken die Teilnehmer weitgehend selbst, wie sie Achtsamkeit sinnvoll auf ihre spezielle Alltagssituation anwenden können. Dieser kreative und sehr intuitive Prozess entwickelt sich ganz natürlich aus der Achtsamkeitsübung selbst.

Ebenso verhält es sich mit der Anwendung der Achtsamkeit in der Familie. Wir haben nicht vor, Ihnen in diesem Buch konkret zu sagen, was Sie tun oder lassen sollten. Nur Sie selbst können das entscheiden, weil nur Sie Ihr Leben genau kennen und nur Sie wissen können, was Ihre spezifische Situation in einem bestimmten Augenblick erfordert. Sogar die Frage, wie Sie die Achtsamkeitspraxis anwenden können, behandeln wir nur in ganz allgemeiner Form. Wie Sie dabei im Detail vorgehen und welche spezifischen Entscheidungen Sie treffen sollten, kann sich nur aus Ihrer eigenen Motivation ergeben, jeden einzelnen gegenwärtigen Augenblick zu würdigen, indem Sie ihm Ihr volles Gewahrsein schenken – und aus der Sehnsucht Ihres eigenen Herzens. Wenn Sie so handeln, werden sich aus den Situationen, die Sie mit Ihren Kindern erleben, Entscheidungen entwickeln, die vom Geist der Achtsamkeit geprägt sind. Diese werden aus Ihrer eigenen Kreativität, Vorstellungskraft und Liebe, aus Ihrer persönlichen Genialität erwachsen, denn diese Ressourcen in Ihrem Inneren sind praktisch unerschöpflich.

 

Außerdem gibt es heute eine nahezu unübersehbare Vielfalt von Familiensituationen: alleinerziehende Mütter und Väter; Paare, die sich zwar getrennt haben, ihre Kinder aber trotzdem gemeinsam erziehen; Paare, die spät in ihrem Leben noch einmal Kinder bekommen, obwohl sie bereits erwachsene Kinder haben; Paare, die Kinder adoptieren oder als Pflegeeltern die Verantwortung für Kinder übernehmen; Großeltern, die die Kinder ihrer Kinder aufziehen; ältere Paare, die zum ersten Mal Kinder bekommen; gleichgeschlechtliche Paare; Paare, die sich bezüglich der Kindererziehung völlig einig sind, und Paare, die sich praktisch nie einig sind und die über ihre elterlichen Aufgaben völlig unterschiedliche Ansichten haben; Paare, bei denen die Beteiligung am Erwerbsleben und an der Erziehung der Kinder völlig ungleich verteilt ist; Familien, in denen beide Eltern einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen oder sogar zusätzlich noch Überstunden machen; Familien mit einem Kind, das an einer lebensbedrohlichen Krankheit, einer körperlichen Behinderung oder einer Entwicklungsstörung leidet; Familien mit vom Alter her schnell aufeinander folgenden oder aber sehr weit auseinander liegenden Kindern, mit Zwillingen oder gar Drillingen; Familien von sehr unterschiedlicher Größe; Familien mit Kindern gleichen Geschlechts oder mit Kindern verschiedenen Geschlechts … Angesichts dieser Vielfalt von unterschiedlichen Familiensituationen kann es einfach keinen einzig richtigen Weg und kein allgemeingültiges Wissen geben, das unter allen Umständen relevant und nützlich ist.

Doch eben, weil Achtsamkeit uns keine standardisierten Formeln liefert; weil sie etwas mit der Qualität unserer Erfahrung als menschliche Wesen zu tun hat sowie damit, wie weit wir in unserem Leben zur Aufmerksamkeit fähig sind, hat sie einen tatsächlich universalen Anwendungsbereich und ist praktisch in allen Situationen sinnvoll. Jeder von uns hat einen Geist; jeder Mensch hat einen Körper, jeder vermag seine Aufmerksamkeit bewusst auf etwas zu richten; und das Leben eines jeden Menschen entfaltet sich in einer Folge einzelner Augenblicke. Achtsamkeit gibt uns keine Ratschläge, was wir tun sollten, sondern sie lehrt uns, auf unser Inneres zu hören, genau auf das zu achten, was wir selbst für wichtig halten, und unsere Vorstellungen darüber zu erweitern, was in einer bestimmten Situation und unter den verschiedensten Umständen angemessen sein könnte.

Als Eltern und als Menschen und ganz gleich, welchen Problemen wir uns in unserem persönlichen Leben gegenübersehen, sind wir alle zu erstaunlichem Wachstum und zu tiefgehenden Transformationen fähig, wenn wir lernen, unsere inneren Ressourcen zu erkennen, sie zu nutzen und einen Weg zu finden, der unseren persönlichen Werten entspricht und dem, was unser Herz uns sagt. Natürlich erfordert dies Arbeit, aber auch nicht viel mehr Arbeit, als wir ohnehin schon leisten. Vor allem erfordert es eine grundlegende Umorientierung unseres Bewusstseins, so dass wir lernen, auf jene tiefe Weise zu sehen, die aus dem Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks erwächst und das Beste in uns selbst und in unseren Kindern zutage fördert.


Um nun in die Welt der elterlichen Achtsamkeit und davon, was sie von uns fordert und uns zu bieten hat, einzutreten, werden wir eine Geschichte erzählen. Wir werden für einen Augenblick in das Reich der Mythen und der Seele eintauchen. Vielleicht gibt uns das eine Ahnung davon, was es bedeuten könnte, tiefer in die Dinge hineinzuschauen und unserem eigenen Herzen zu vertrauen. Dabei können wir alle Personen in der Geschichte als verschiedene Aspekte unseres eigenen Seins auffassen und Männlichkeit und Weiblichkeit, Schönheit und Hässlichkeit, Güte und Hartherzigkeit als Eigenschaften verstehen, über die wir alle in unterschiedlichem Maße verfügen.

Teil Zwei

Sir Gawain und

die hässliche Dame:

Die Geschichte enthält

den Schlüssel

Sir Gawain und die hässliche Dame

Vor langer Zeit sah sich König Arthur aus Gründen, die in diesem Zusammenhang unwichtig sind, am Weihnachtstage gezwungen, sich um eine gerechte Sache zu kümmern, und er wurde dadurch mit seiner eigenen Ohnmacht konfrontiert. Das Schicksal ereilte ihn, als er dem Ritter von Tarn Wathelan gegenübertrat, einer Gestalt von übermenschlicher Größe, von Kopf bis Fuß in eine schwarze Rüstung gekleidet, auf einem riesigen rotäugigen Schlachtross, das schwarz war wie die tiefste Nacht. Als Arthur sich dem Ritter näherte, um auf der Ebene vor dessen düsterer Burg gegen ihn zu kämpfen, stellte der Ritter den König unter einen Bann, der Arthur selbst und sein Pferd jeglicher Kraft beraubte. Wie ein eisiger Schatten überfiel ihn eine gewaltige Furcht, die umso schrecklicher war, als sie sich weder auf den Ritter noch auf irgendetwas anderes in dieser Welt bezog. Es war ein schwarzer Schrecken der Seele, der sich zwischen Arthur und den Himmel legte und ihm jede Kraft nahm, so dass sein Schwertarm und sein Schildarm kraftlos niedersanken und er sich nicht mehr bewegen konnte.

„Was … verlangst du … von mir?“ keuchte Arthur.

Statt ihn zu töten oder ihn in ein Verlies zu werfen und ihn zusammen mit anderen tapferen Rittern zugrunde gehen zu lassen und dann mit magischer Hilfe sein Reich in Besitz zu nehmen, bot ihm der Ritter von Tarn Wathelan an, ihm Leben und Freiheit zu schenken, wenn er ihm nach sieben Tagen, am Neujahrstag, die Frage beantworten könne: „Was begehren Frauen am meisten?“

Arthur, von Scham und Wut erfüllt, sah keine andere Möglichkeit, als in den Handel einzuwilligen. Dann ritt er davon. Während der ganzen Woche zog er durch das Land und stellte jeder Frau, der er begegnete, ob Gänsemagd, Schankwirtin oder adlige Dame, diese Frage. Alle Antworten, die er erhielt, schrieb er eifrig auf, doch war ihm die ganze Zeit über klar, dass keine von ihnen die richtige sein konnte.

Schweren Herzens brach er schließlich am Morgen des Neujahrstags zur Burg des Ritters auf. Die Chance, sein Leben zu retten, hatte er offensichtlich vertan, und ihm war klar, dass er nun von der Hand des Ritters sterben würde.

Die Berge wirkten noch düsterer als beim ersten Mal, und es wehte ein rauer Wind. Der Weg erschien ihm viel länger und schwieriger, und doch näherte er sich seinem Ziel viel zu schnell.

Als Arthur mit gesenktem Haupt, nicht mehr weit von der Burg entfernt, durch ein Dickicht ritt, hörte er eine angenehm sanfte Frauenstimme: „Seid gegrüßt, König Arthur. Möge Gott Euch schützen und erhalten.“

Er wandte sich um und sah zwischen den Bäumen auf einem Erdhügel neben dem Weg eine Frau in einem leuchtend scharlachroten Umhang sitzen. Als der König sie erblickte, durchfuhr ihn ein Schock. Er hatte erwartet, dass die sanfte Stimme einer wunderschönen jungen Frau gehörte, doch vor ihm saß die scheußlichste Kreatur, die er je gesehen hatte. Ihr Gesicht war so abgrundtief hässlich, dass er es kaum anschauen konnte, und ihre lange, mit Warzen bedeckte Nase bog sich nach unten, das lange, haarige Kinn nach oben. Das einzige Auge der Frau lag tief unter einer wulstig vorspringenden Augenbraue, und ihr Mund war nichts weiter als ein unförmiges Loch. Ihr Haar hing in grauen, verfilzten Strähnen vom Kopf, und ihre Hände glichen braunen Klauen. Einen krassen Gegensatz zu dieser unglaublichen Hässlichkeit bildeten die Juwelen, die an ihren Fingern funkelten, denn diese waren so schön und kostbar, dass sie selbst der Königin zur Ehre gereicht hätten.

Arthur stand völlig fassungslos da, bis die Frau ihn daran erinnerte, wie ein Ritter sich in Gegenwart einer Dame zu benehmen hatte. Zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass sie über seine Frage Bescheid wusste und auch darüber, dass er trotz der vielen Antworten auf die Frage, was Frauen am meisten begehren, von keiner die richtige Antwort erhalten hatte. Sie teilte dem erstaunten König mit, dass nur sie allein die richtige Antwort kenne und dass sie ihm diese nur verraten werde, wenn er ihr einen heiligen Eid schwöre, ihr als Lohn dafür zu geben, was immer sie verlange. Er willigte in diesen Handel ein, und sie bedeutete ihm daraufhin, sein Ohr zu ihren Lippen niederzubeugen. Dann flüsterte sie ihm die Antwort ins Ohr.

Sobald Arthur die Antwort der Frau gehört hatte, wusste er in seinem tiefsten Inneren, dass es die richtige war. Die Antwort war so simpel, dass er lauthals in ein Gelächter ausbrach, das ihm fast den Atem nahm.

Die Antwort, die er auf seine Frage „Was begehren Frauen am meisten?“ erhielt, lautete Selbstbestimmung.

Dann fragte Arthur die Frau, was sie als Gegenleistung erwarte. Sie jedoch sagte, sie werde ihm das erst mitteilen, wenn er die Antwort dem Ritter von Tarn Wathelan überbracht und sich ihre Richtigkeit bestätigt habe. Also ritt Arthur davon, und nachdem er den riesigen Ritter ein wenig auf die Folter gespannt hatte, teilte er ihm schließlich die Antwort mit. Da es die richtige war, war er auf der Stelle frei. Anschließend kehrte er zu der Stelle zurück, wo die Hässliche auf ihn wartete.

Als Belohnung forderte Lady Ragnell – das war der Name der Frau – von König Arthur, dass einer der Ritter seiner Tafelrunde, tapfer, höflich und schön anzusehen, sich bereit erkläre, sie zu seiner Frau zu machen. Arthur war erschüttert und geriet angesichts dieser ungeheuerlichen Forderung sichtlich ins Schwanken. Erst als sie ihn daran erinnerte, dass er dieser hässlichen Frau sein Leben zu verdanken hatte und dass er ihr als Gegenleistung für ihre Hilfe sein ritterliches und königliches Versprechen gegeben hatte, erklärte er sich einverstanden.

Hätte Arthur nun einem seiner Ritter befohlen, diese Frau zu heiraten, so hätte er damit die unabhängige Entscheidungsfreiheit des Mannes missachtet. Er musste also jemanden finden, der sich freiwillig dafür entschied, sie zur Frau zu nehmen. Als Arthur an seinen Hof zurückkehrte und der erstaunten Versammlung seiner Ritter von seinem einwöchigen Abenteuer berichtete, erbot sich sein Neffe Sir Gawain, aus Loyalität seinem Onkel, dem König, gegenüber und aus seiner eigenen Güte heraus, Lady Ragnell zu heiraten. Als Arthur das vernahm, wollte er nicht zulassen, dass Gawain diese Entscheidung traf, ohne die Frau zuvor gesehen zu haben.

Also brachen die Ritter am nächsten Morgen in die Wälder auf. Nach einiger Zeit sahen sie zwischen den Bäumen das scharlachrote Gewand auftauchen. Beim Anblick von Lady Ragnell überkamen Sir Kay und die übrigen Ritter tiefe Abscheu, und einige von ihnen ließen sich sogar zu beleidigenden Äußerungen über ihre Hässlichkeit hinreißen. Andere wendeten sich aus Mitleid ab und verbargen ihre Gefühle, indem sie sich um ihre Pferde kümmerten.

Sir Gawain hingegen schaute die Lady unerschrocken an. Irgendetwas an ihrem ergreifenden Stolz und an der Art, wie sie ihren scheußlichen Kopf erhob, erinnerte ihn an ein von Jagdhunden gestelltes Reh. Irgendetwas in der Tiefe ihres trüben Blicks erreichte ihn wie ein Hilfeschrei.

Er blickte seine Kameraden herausfordernd an und sagte: „Was schaut ihr so betreten zur Seite und zeigt so schlechte Manieren? An meiner Entscheidung bestand nie der geringste Zweifel. Habe ich denn nicht schon gestern Abend zum König gesagt, dass ich diese Dame heiraten werde? Und wenn sie mich akzeptiert, dann werde ich das auch tun!“ Dann sprang er vom Pferd, kniete vor ihr nieder und sagte: „Edle Dame, seid Ihr bereit, mich zum Ehemann zu nehmen?“

Die Lady schaute ihn einen Augenblick lang mit ihrem einen Auge an und sagte dann mit ihrer erstaunlich anmutigen Stimme: „Das werdet Ihr doch nicht im Ernst wollen, Sir Gawain. Ihr beliebt zu scherzen, ebenso wie die anderen.“

„Nie in meinem Leben lag es mir ferner zu scherzen“, protestierte er.

Wieder versuchte sie, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. „Denkt nach, bevor es zu spät ist. Wollt Ihr tatsächlich eine Frau heiraten, die so hässlich und alt ist wie ich? Meint Ihr wirklich, ich sei die richtige Frau für den Neffen des Königs? Was werden Königin Guinevere und ihre Hofdamen sagen, wenn Ihr solch eine Braut an den Hof bringt? Und was werdet Ihr selbst insgeheim empfinden? Ihr werdet Euch schämen um meinetwillen.“ Dies sagte die Lady, und sie weinte bitterlich, und ihr Gesicht war von Tränen nass und aufgequollen und noch hässlicher.

„Lady, wenn ich Euch beschützen kann, so könnt Ihr sicher sein, dass ich auch mich selbst zu schützen weiß“, antwortete Gawain und blickte grimmig und mit kämpferischem Blick in die Runde der übrigen Ritter. „Kommt nun mit mir zum Schloss, denn noch heute Abend soll unsere Hochzeit gefeiert werden.“

 

Daraufhin antwortete Lady Ragnell mit Tränen in ihrem einen Auge: „Fürwahr, Sir Gawain, Ihr mögt es nicht glauben, aber Ihr werdet diese Hochzeit nicht bereuen.“

Als sie sich erhob, um das Pferd zu besteigen, das die Ritter für sie mitgebracht hatten, stellte sich heraus, dass sich zwischen ihren Schultern ein Buckel befand und sie auf einem Bein lahm war. Gawain half ihr in den Sattel, bestieg sein Pferd und ritt neben ihr her, und dann machten sich alle auf den Weg zurück zum Schloss des Königs.

Die Neuigkeit eilte ihnen voraus, und an den Stadttoren versammelten sich die Menschen, um Sir Gawain und seine Braut vorüberreiten zu sehen. Alle, die sie sahen, erschraken, weil der Anblick ihre schlimmsten Befürchtungen noch weit übertraf.

Am gleichen Abend fand in der Schlosskapelle die Hochzeit statt. Die Königin selbst war Brautführerin, und der König war Trauzeuge. Sir Lancelot trat als erster vor und küsste die Braut auf ihre welke Wange. Die übrigen Ritter schlossen sich ihm an, doch blieben ihnen fast die Worte im Halse stecken, als sie der Braut und Sir Gawain eine glückliche Ehe wünschten. Und die arme Lady Ragnell schaute auf die gebeugten Köpfe all der Damen, die vortraten, um ihre Fingerspitze so kurz wie nur eben möglich zu berühren, denn sie konnten es nicht ertragen, sie anzuschauen oder sie auf die Wange zu küssen. Nur Cabal, der Hund, kam und leckte ihre Hand mit seiner warmen, feuchten Zunge, und er schaute sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen, die ihre Scheußlichkeit gar nicht wahrnahmen, lange an, denn die Augen eines Hundes sehen anders als die Augen eines Menschen.

Das Gespräch bei Tisch war zäh und angestrengt, ein vergeblicher Versuch, Freude zu heucheln, während Sir Gawain und seine Braut starr neben dem König und der Königin an der Tafel saßen. Als die Tische abgeräumt worden waren und die Zeit zum Tanzen gekommen war, dachten viele, dass Sir Gawain nun wohl die Chance ergreifen und sich zu seinen Freunden gesellen würde. Doch er sagte: „Braut und Bräutigam müssen den ersten Tanz gemeinsam tanzen“ und bot Lady Ragnell seine Hand. Sie nahm sie mit einer scheußlichen Grimasse, die wohl ein Lächeln andeuten sollte, und machte dann einen ungelenken Satz nach vorn, um mit Sir Gawain den Tanz zu eröffnen. Unter den wachsamen Augen des Königs und Sir Gawains wagte es während des ganzen Festes keiner der Gäste, den Eindruck aufkommen zu lassen, es sei irgendetwas nicht in bester Ordnung.

Schließlich endete das etwas gezwungene Fest, und die Neuvermählten zogen sich in das Hochzeitsgemach zurück. Dort warf Gawain sich vor dem Kamin in einen Sessel mit vielen Kissen und starrte in die Flammen, ohne seine Braut zu beachten. Da wehte ein plötzlicher Luftzug die Kerzenflammen zur Seite, so dass es schien, als würden die Wesen auf den bestickten Wandteppichen zum Leben erwachen. Irgendwo in sehr weiter Ferne glaubte Gawain das schwache Echo eines Jagdhorns zu hören, als käme es aus dem Herzen des verwunschenen Waldes.

Vom Fußende des Bettes her vernahm er eine leichte Bewegung und das Rascheln eines Nachtgewandes. Dann ertönte eine leise, sanfte Stimme und sagte: „Gawain, mein Liebster, weißt du denn nichts zu mir zu sagen? Kannst du es nicht einmal ertragen, mir einen Blick zu schenken?“

Gawain zwang sich, ihr seinen Kopf zuzuwenden. Dann sprang er auf, denn er konnte nicht fassen, was er sah: Zwischen den Kerzenleuchtern stand die schönste Frau, die er je in seinem Leben gesehen hatte.

„Lady“, sagte er atemlos und nicht sicher, ob er wach war oder träumte, „Wer seid Ihr? Wo ist meine Frau, Lady Ragnell?“

„Ich bin deine Frau, Lady Ragnell“, antwortete sie, „die Frau, die du im Walde gefunden und die du heute abend geheiratet hast, um die Schuld deines Königs zu begleichen – und vielleicht auch ein wenig aus Güte.“ „Aber – aber ich verstehe das nicht“, stammelte Gawain. „Ihr habt Euch so verändert.“

„Ja“, sagte die junge Frau. „Ich habe mich verändert, nicht wahr? Ich befand mich unter einem Zauber, und ich bin auch noch nicht völlig frei davon. Doch kann ich nun eine kleine Weile in meiner wahren Gestalt mit dir zusammen sein. Ist mein Herr zufrieden mit seiner Braut?“

Sie kam ein wenig auf ihn zu, und er streckte seine Arme nach ihr aus und umfasste sie. „Zufrieden? Meine Geliebte, ich bin der glücklichste Mann auf der ganzen Welt; denn ich glaubte, die Ehre meines Onkels, des Königs zu retten, und tatsächlich ist mein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen. Und doch habe ich schon im ersten Augenblick unserer Begegnung gespürt, dass irgendetwas in dir mich berührte und irgendetwas in mir auf diesen Impuls antwortete.“

Nach einer Weile legte die Lady ihre Hände auf seine Brust und drückte ihn sanft von sich weg. „Hör zu“, sagte sie, „du musst nun eine schwierige Entscheidung treffen. Ich habe dir schon gesagt, dass ich bis jetzt nur teilweise von dem Zauber befreit bin, der auf mir lastet. Weil du mich zur Frau genommen hast, ist er zur Hälfte gelöst; aber eben nur zur Hälfte.“

Lady Ragnell erklärte, dass sie nun jeweils die Hälfte eines Tages in ihrer natürlichen Gestalt erscheinen könne, und Gawain müsse entscheiden, ob er sie am Tage schön und in der Nacht hässlich oder in der Nacht schön und am Tage hässlich sehen wolle.

„Das ist wahrlich eine schwere Entscheidung“, sagte Gawain.

„Denke nach“, erwiderte Lady Ragnell.

Doch Sir Gawain sagte ohne zu zögern: „Meine Liebe, sei hässlich am Tag und schön für mich allein!“

„Wohlan“, antwortete Lady Ragnell, „ist das deine Entscheidung? Muss ich hässlich und entstellt sein unter den Damen der Königin und ihre Verachtung und ihr Mitleid ertragen, obgleich ich in Wahrheit so schön bin wie sie alle? Sir Gawain, ist dies Eure Liebe?“

Sir Gawain beugte nun sein Haupt. „Ich habe nur an mich selbst gedacht. Wenn es Euch glücklicher macht, so seid schön am Tage und nehmt bei Hof den Platz ein, der Euch gebührt. In der Nacht werde ich Eure sanfte Stimme in der Dunkelheit hören und mich daran erfreuen.“

„Das ist fürwahr die Antwort eines Geliebten“, sagte Lady Ragnell. „Aber ich möchte schön für dich sein; nicht nur für den Hof und für die Welt am Tage, die mir weitaus weniger bedeuten als du.“

Und Gawain sagte: „Wie es auch sei, du bist es, die am meisten leidet; und da du eine Frau bist, glaube ich, dass du in diesen Dingen über mehr Weisheit verfügst als ich. Entscheide selbst, meine Liebe, und wie du auch entscheiden magst, ich werde damit zufrieden sein.“

Daraufhin schmiegte Lady Ragnell sich an ihn und weinte und lachte zugleich. „Oh, Gawain, mein Liebster, indem du erkannt hast, dass ich die Entscheidung treffen muss, indem du mir meinen eigenen Willen gelassen hast, indem du mir eben jene Selbstbestimmung gewährt hast, die die Antwort auf die Rätselfrage war, hast du den Zauber völlig gebrochen, und ich bin nun frei von ihm und kann bei Tag und bei Nacht meine wahre Gestalt zeigen.“

Sieben Jahre lebten Sir Gawain und Lady Ragnell überglücklich zusammen, und während dieser ganzen Zeit war Gawain sanfter, gütiger und unerschütterlicher, als er je zuvor gewesen war. Nach sieben Jahren jedoch ging Lady Ragnell davon – niemand wusste wohin –, und etwas von Gawain entschwand mit ihr.