Das Rote Sofa

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Hinter vorgehaltener Hand nannte man ihn „Pinguin“. Das mochte daran liegen, dass er stets eine schlabbrige, schwarze Cordhose und einen Wollpulover von undefinierter, heller Farbe trug. Das erinnerte an den „Frack“ des Pinguins, der dem Vogel als Tarnung dient. Von unten gesehen, hebt sich der weiße Bauch kaum vom hellen Himmel ab. Von oben betrachtet, verliert sich der schwarze Rücken im Dunkel des Meeres. Der Vogel hat einen massigen Körperbau. Er ist ein geschickter Taucher, er kann aufrecht gehen, aber mit dem Laufen hapert es und fliegen kann er überhaupt nicht. Er gilt als furchtlos und neugierig, ist aber an Land kurzsichtig. Der „Brillenpinguin“ scheint eine Sehhilfe zu haben. In Wirklichkeit handelt es sich um einen kreisförmigen, nackten Hautfleck, der das Blut abkühlt und dem Schwitzen vorbeugt. Dunkelmann nahm es gelassen: Der Pinguin ist flugunfähig, aber wer nicht fliegen kann, kann auch nicht abstürzen!“

Was ihn besonders auszeichnete, war seine Zähigkeit. Er war äußerst penibel und ließ nie locker, auch dann nicht, wenn andere längst aufgeben wollten. „Halbe Sachen“ konnte er auf den Tod nicht leiden. „Nicht hieb- und stichfest, alles Kokolores!“, wetterte er und wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, duldete er keine Widerworte. „Kommt nicht in die Tüte!“, wehrte er mit wegwerfender Handbewegung ab.

„Es kommt immer auf den richtigen Riecher an!“, pflegte er zu sagen. „Fährte aufnehmen, abwarten und auf der Lauer bleiben. Irgendwann macht jeder einen Fehler, dann zuschnappen!“ Wenn er den Fall am Ende gelöst hatte, klatschte er zufrieden in die Hände und meinte: „Abgehakt!“ Er war nicht unbedingt gottesfürchtig, aber es fehlte selten der Spruch: „Der Herr sprach, es werde Licht, und es ward Licht!“

Auf Spekulationen ließ er sich ungern ein. Für ihn zählten nur „nackte Tatsachen“. Ihm reichte es, wenn der Täter überführt war. Die Motive der Täter zählten durchaus und für Menschliches hatte er volles Verständnis, aber weiterführende Fragen stellte er nicht. Politisches und Gesellschaftliches blieb bei ihm außen vor. „Das geht mich nichts an!“, meinte er. „Davon verstehe ich nichts. Darum sollen sich andere kümmern!“

Er war noch von der alten Schule. Er hatte stets Notizblock, Kugelschreiber, eine Taschenlampe, eine Lupe und eine Sofortkamera in der Tasche. Als das Mobiltelefon aufkam, sprach er von einer „tollen Sache“, aber an den PC konnte er sich nicht so recht gewöhnen: „Ein Sammelkasten, ganz nützlich, mehr nicht!“ Dort kam alles rein, was anfiel, mit Aktenzeichen, Verteilerschlüssel und so weiter einschließlich der Abschlussberichte. Er haßte den „Papierkram“: „Ist lästig, muss aber sein!“

Dass er von moderner Technik zuweilen nicht viel hielt, zeigte sich auch an anderen Dingen. Privat fuhr er einen betagten „VW-Käfer“, Modell „Standard“, Baujahr zweiundsechzig, dunkelgrün wie alle Polizeifahrzeuge damals. Es war sein erster Wagen, gleich nach dem Eintritt in den Polizeidienst angeschafft, von der Behörde ausrangiert und für wenig Geld übernommen. „Der ist noch immer gut in Schuss“, meinte Dunkelmann, „und läuft wie verrückt!“

Mit seinem Dienstwagen konnte es der Oldtimer nicht aufnehmen. Der war blau-silbrig lackiert und mit allem „Pipapo“ ausgestattet. Am Steuer saß immer ein Mitarbeiter. Seit es mit dem Sehen immer schlechter wurde, nahm Dunkelmann nur noch selten den Wagen. Urlaubsreisen kannte er ohnehin nicht und wenn er etwas zu besorgen hatte, nahm er lieber das Taxi oder den Stadtbus.

Er war ein Eigenbrötler. Er gab nichts darauf, was andere meinten, und von Teamwork hielt er auch nichts: „Einer muß das Kommando geben!“ Es war wie bei den Wölfen. Einer hat im Rudel das Sagen und rennt bei der Jagd immer laut bellend vorweg. Dass Dunkelmann mit seinen Kommandos schnell bei der Hand war, aber mit seinen Vermutungen lange hinter dem Berg hielt, nervte seine Mitarbeiter. Ein Einpeitscher war er indes nicht: „Immer mit der Ruhe!“, mahnte er, und nachdem er seine Truppe eingewiesen hatte, meinte er lässig: „Denn mal los, Jungs!“

Nach außen hatte er eine raue Schale, hinter der sich jedoch ein weicher Kern verbarg. Er war äußerst schweigsam und konnte geduldig zuhören, aber wenn er den Mund auftat, redete er, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Er wirkte oft grob, mürrisch und verdrossen, galt aber als hilfsbereit und beflissen, wenn Not am Mann war. Gelegentlich konnte er sogar liebenswürdig sein.

Er hatte seine Schrullen und Kanten, aber eigentlich keine Laster bis auf das Rauchen. Die Pfeife ging ihm selten aus, auch nicht im Dienst, Vorschrift hin, Vorschrift her. „Rauchen ist nützlich!“, pflegte er zu sagen, „es vertreibt die Mücken und schärft die Sinne!“ Wenn er über einen verzwickten Fall grübelte, schien es, als paffte er die Rauchwölkchen prüfend erst in die eine und anschließend in die andere Richtung. Mich störte der Pfeifenrauch nicht. Ich war selbst Raucher. Aber für empfindliche Nasen war seine ungehemmte Qualmerei eine Zumutung. Mag sein, dass er das als persönliches Privileg betrachtete. Er war ein eingefleischter Junggeselle. Ihm konnte niemand reinreden. Frauen waren ihm grundsätzlich suspekt: „Zu emotional, zu kompliziert, für den Dienst eher ungeeignet.“

Dunkelmann gegenüber hatte ich gelegentlich Andeutungen über meine verkorkste Beziehung gemacht. Er machte keinen Hehl aus seiner Einschätzung: „Nichts für ungut, das geht mich nichts an, aber die Frau ist nicht gerade mein Fall. Sie ist reichlich kompliziert und von sich eingenommen. Es muss ziemlich stressig mit ihr gewesen sein. Ich wundere mich, dass Sie es so lange bei ihr ausgehalten haben!“

Dass Hilde auf Dunkelmann nicht gut zu sprechen war, war zu erwarten. Sie hatte kein Blatt vor den Mund genommen: „Der Alte ist ein Provinzler und Kleingeist. Er hat keine Ahnung von der heutigen Welt. Das zeigt sich schon daran, wie abfällig er über Frauen spricht. Du scheinst dich recht gut mit ihm zu verstehen, aber ich würde nicht darauf setzen, dass er in der Lage ist, Licht in die dubiosen Vorgänge in Dalborn zu bringen.“

Außenstehenden gegenüber gab sich Dunkelmann äußerst reserviert, privat wie beruflich. Das galt besonders für die „Zeitungsfritzen“. „Maul halten!“, pflegte er seinen Mitarbeitern einzuschärfen, wenn Leute von der Presse auftauchten. „Kein Wort ohne meine Erlaubnis!“ Wenn nicht, drohte eine „Abreibung“.

Anfangs war er auch mir gegenüber ausgesprochen zugeknöpft. Im Laufe der Zeit lernten wir uns näher kennen und ich erfuhr das eine oder andere aus seinem Leben. Gelegentlich konnte ich sogar einen tieferen Blick in seine Seele werfen. Ausgesprochene Freunde wurden wir nicht, das wäre zu viel gesagt, aber doch Vertraute insofern, als er mich zunehmend in seine Arbeit einbezog.

Ursprünglich hatte er Steuerberater werden wollen. Dann hatte er umgesattelt und war zur Polizei gegangen. Das hatte nichts mit den Vorteilen zu tun, die man als Beamter genießt. Das hatte private Gründe. Seine Verlobte war bei einem Raubüberfall zu Tode gekommen. Die Ladeninhaberin hatte es gemacht, wie man es auch bei einer Wolfsattacke halten soll. Sie hatte laut geschrien und mit den Armen gefuchtelt. Der Maskierte hatte dennoch geschossen. Als sich Dunkelmanns Verlobte schützend vor die Ladeninhaberin stellte, hatte sie eine Kugel tödlich getroffen. Seitdem war er davon besessen, Bösewichte zu jagen und ihnen das Handwerk zu legen. „Das ist mein Leben!“, hieß es. Alles andere war Nebensache.

Bei der Polizei hatte er von der Pike auf gelernt und sich hochgearbeitet. Bis ganz oben war er nicht gekommen. Im Chefsessel saßen die „Studierten“. Er nahm es gelassen. Er war ohnehin lieber „vor Ort“. Sein Vorgesetzter wusste immer alles besser. In Dunkelmanns Augen war er ein „Sesselpupser“, aber mit ihm war nicht zu spaßen. Er war auf dem neuesten Stand und hatte seine Prinzipien: „Verstärkt die modernen technischen Hilfsmittel einsetzen! Keine Eigenmächtigkeiten! Alles vorher absprechen!“ Er war ständig besorgt, dass etwas schiefgehen könnte oder dass ihm nachträglich die Gerichte einen Strich durch die Rechnung machen könnten: „Immer ausreichend absichern, sonst kommen wir in die Bredouille!“ Der Ausdruck ist verballhorntes Französisch und heißt so viel wie „ohne Beute von der Jagd zurückkehren“. Er ist in Berlin geläufig. Dunkelmanns Vorgesetzter kam von dort. Er war zudem passionierter Jäger.

Nach dem Tod seiner Verlobten hatte Dunkelmann allein gelebt. Man sah ihm den Junggesellen an. Seine Mahlzeiten brutzelte er sich irgendwie zusammen. Er liebte Deftiges. Die Kalorienfrage stellte sich nicht. Im Dienst aber gönnte er sich kaum eine Pause. Ein paar Kekse und eine Tüte mit Obst reichten notfalls aus. Die Papiertüte war in seinen Augen eine geniale Erfindung: „Man nimmt ein Stück Packpapier und rollt es schräg zusammen. Fertig ist die Laube!“ Er sprach wiederholt davon, wie gut die Marktfrau den Dreh heraushatte und wie flugs sie das Obst in der Tüte verstaute, aber nicht ohne zu spötteln: „Die Frau, die die Tüte erfand, war ein Riese an Verstand!“

Ich war noch nicht in Dalborn, als es mit dem alten Drake ein so schreckliches Ende nahm, und Dunkelmann lernte ich erst kennen, als er erneut vor Ort war. Er kam auf einen Sprung zu mir herüber. Er wollte von mir wissen, ob mir irgendetwas Sachdienliches aufgefallen war und welchen Eindruck ich von den Leuten im Ort hatte.

Als er sah, wie heruntergekommen das alte Gemäuer war, zog er seine Augenbrauen hoch. Er setzte seine Brille auf, schaute sich interessiert in der Deele um und nahm das eine oder andere genauer unter die Lupe. Sein besonderes Augenmerk galt dem Sofa.

„Interessantes Stück!“, meinte er vielsagend. „Aber wie es aussieht, hat es inzwischen ausgedient!“

Ich sprach davon, dass es dem verstorbenen Vorbesitzer gehört hatte und ein Hochzeitsgeschenk hatte sein sollen.

 

„Es paßt nicht so recht in die Umgebung“, räumte ich ein, „aber ich will es behalten. Es gehört hierher.“

„Verstehe“, meinte Dunkelmann.

Ich wartete ab, ob er sich zu den Flecken auf dem Bezug äußern würde.

Dunkelmann schwieg. Ich verzichtete darauf nachzufragen, ob es sich um Blutspuren handeln könnte und ob sie auf einen Mord hindeuten könnten. Mit dem Tod von Cord Drake zumindest konnten sie kaum etwas zu tun haben. Bei seinem Tod wurde kein Blut vergossen.

Nachdem Dunkelmann sich einige Notizen gemacht hatte, kam er auf den Stand der Ermittlungen zu sprechen. Er steckte sich seine Pfeife an und ließ den Rauch kreiseln.

„So viel läßt sich immerhin sagen“, meinte er. „Man hat Cord Drakes Leiche am späten Abend am Ufer des Hausteichs entdeckt. Sie lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Was wollte der Alte dort zu so später Stunde? Er war hochbetagt und gebrechlich. War er überhaupt noch in der Lage, allein bis zum Teich zu gelangen? Wie auch immer, es könnte sich um einen Unfall gehandelt haben. Denkbar wäre, dass er einen Schwächeanfall bekommen hatte, in das Wasser gestürzt war und sich nicht mehr aus eigener Kraft hatte retten können.

An einen Selbstmord kann ich nicht so recht glauben. Er war einsam und möglicherweise etwas wirr im Kopf. Da macht man schon mal einen Schlussstrich. Aber warum sollte er seinem Leben zu diesem Zeitpunkt ein Ende setzen? Er hatte doch vor, seinen Besitz noch zu Lebzeiten einem Nachfahren aus den Staaten zu überschreiben. Und warum wollte er sich ausgerechnet ertränken? Das scheint keine besonders geeignete Art zu sein, um sich um die Ecke zu bringen, und dass sie in einem flachen Gewässer funktioniert, ist kaum vorstellbar.“

Dunkelmann hatte Erkundigungen im Dorf eingezogen. Angeblich hatte niemand außer Drakes Nachbar Gerstekorn in letzter Zeit Kontakt mit dem Alten. Er hatte die Leiche entdeckt und die Polizei verständigt.

Die Gerstekorns waren im Dorf hoch angesehen. Der Bauer galt als tüchtig, redlich und zuverlässig, war zur Zeit Dorfvorsteher und Mitglied der Jagdgenossenschaft, aktiv bei der freiwilligen Feuerwehr und im Kirchenvorstand. Inzwischen war er, mit Ausnahme der Kluckhans, der letzte noch aktive Landwirt. Auf dem Mist krähte frech der Hahn und im Stall grunzten vergnügt die Schweine. Von der Weide hinter dem Hof konnte man das sanfte Muhen der Kühe hören.

Gerstekorns Frau kümmerte sich um den Haushalt, die Kinder, den Garten und das Federvieh. Sie trug das Kirchenblättchen aus und kümmerte sich um die Bedürftigen. Gerstekorns seit Jahren verwitwete Mutter lebte in der Leibzucht. „Oma Gerstekorn“, wie man sie im Dorf nannte, war schon sehr gebrechlich und konnte ohne fremde Hilfe nicht mehr aus dem Haus. Ihre alten Knochen wollten nicht mehr. Sie hatte vermutlich Arthrose. Ihre bewährten Hausmittelchen zeigten kaum noch Wirkung. Aber sie klagte nie: „Muß irgendwie gehen, Unkraut vergeht nicht!

„Nach dem Doktor“ ging sie nur unwillig: „Was soll der schon helfen? Der redet viel, von dem man nichts versteht, spricht von verschobenen Wirbeln und blockierten Nervensträngen und will einen in die Röntgenröhre schicken, und wenn man von dem Gedöns nichts wissen will, verordnet er eben Massagen.“

Auf die „Fachfrau für das Knochenrichten“ war sie nicht gut zu sprechen: „Man muß regelmäßig hinlaufen. Kostet ne Menge Geld und Zeit! Und dann soll man zu Hause Übungen machen: nach links recken, nach rechts, Pause machen, tief einatmen, wiederholen. Mumpitz! Bin doch kein Äffchen und turne in meinem Alter sinnlos in der Bude rum!“

Sie war stolz darauf, dass sie noch gebraucht wurde, als Aufsicht für den Enkel, für das Kochen in der Erntezeit, als Doktorersatz bei kleinen Wehwehchen, für das Flicken der Arbeitskleidung, das Zupfen von Unkraut und das Dörren und Einmachen von Gemüse und Obst. Gelegentlich ließ sie mir ein Gläschen Marmelade schicken. Sie wusste noch um die althergebrachten Hausrezepte. Ihre Spezialität war lippischer Pickert mit Leberwurst und Pflaumenmus. Wenn ich mittags mal bei ihr hereinschaute, brutzelte und dampfte es auf ihrer gusseisernen Küchenmaschine. Ich durfte immer probieren.

Sie war eine überaus fromme Frau. „Gott der Herr wird uns erhalten“, meinte sie, „und am Ende sind alle wieder auf Kösters Kamp vereint“, womit sie zum Ausdruck bringen wollte, dass der Mensch auf dem Friedhof seine ewige Ruhe finden werde. Wenn Sonntag war, bestand sie darauf, dass man sie zum Gottesdienst mitnahm. Wenn sie anschließend bei den „jungen Leuten“ am Mittagstisch den Ehrenplatz eingenommen hatte, übernahm sie das Dankgebet.

Was man grundsätzlich zu tun oder zu lassen hatte, bestimmte der Pastor. Was er von der Kanzel predigte, galt schon immer als unumstößliche Wahrheit. Ein Vorfahr der Gerstekorns hatte ein Heftchen für häusliche Andachten angelegt. Darin war fein säuberlich notiert, was man beachten müsse, um nicht irgendeinem Irrglauben zu verfallen. Insgeheim aber muckte man gelegentlich dagegen auf, dass man nichts mitzureden hatte, und hinter vorgehaltener Hand hieß es: „Der Pasteoer üppen Kanßel hät geot kürn, Heu draff schellen, öber keuner draff anweorn!“ – Der Pastor hat auf der Kanzel gut reden, er darf den Mund auftun, aber keiner darf antworten! Und was das Wirtschaftliche betraf, ließ man sich auch nichts vormachen. Er müsse sich rund um die Uhr abrackern, hatte einer gemeint, während der Pastor nur schöne Reden halte. Er verglich den Geistlichen mit einem Hund, der sein Brot mit Bellen verdient. Aus seinem Mund klang das so: „De Papen un de Hunne verdeunt dat Braut Metten Munde!“ – Der Pastor und die Hunde verdienen ihr Brot mit dem Munde!

Oma Gerstekorn kannte sich auch im weltlichen Bereich bestens aus. Sie wusste, wer neu im Dorf war, wie es um die Ernte stand, wer in Geldnöten war, wo es Ehestreit gegeben hatte, wer an was erkrankt war und was der Doktor gemeint hatte, wen man zur ewigen Ruhe getragen hatte und was am Grab gesagt wurde. Niemandem solle man etwas Schlechtes nachsagen, meinte sie. In der Regel sprach sie bei dem Verstorbenen von einem lieben Menschen, der es im Leben oft schwer gehabt habe, und wenn es etwas an ihm auszusetzen gab, dass ihm der Herrgott verzeihen möge.

Bei den Gerstekorns hielt man auf Tradition. Ihr Hof war der älteste im Dorf, alles belegt durch alte Hofurkunden auf vergilbtem Pergament und mit Siegel. Oma Gerstekorn kramte voller Stolz ein steinzeitliches Beil aus. Man hatte es vor Zeiten auf dem hauseigenen Acker gefunden, als man noch mit dem Pferd pflügte und die Furche genau im Auge hatte. Das sollte man besser ins Archiv geben, riet ich, obwohl da auch manches unter die Räder gerät.

In ihrer Kommode hatte sie Fotos, Briefe, Tauf-, Sterbe-, Konfirmations- und Heiratsurkunden verwahrt. Wenn sie die Fotoalben durchblätterte, wies sie mit ihrem verkrümmten Zeigefinger auf die Fotos von ihrem Vater. Er war als Säugling bei der Taufe abgelichtet, bei der Einschulung, anlässlich der Konfirmation, als junger Rekrut, auf der Hochzeitsfeier mit Ehefrau und Anverwandten, aber auch bei der Feldarbeit mit Pferd und Wagen oder nach Feierabend mit der Familie in der Gartenlaube.

Dann waren die Mutter und die Geschwister an der Reihe. Paul war der Älteste, Friederike, August, Heinrich, Wilhelmine und Emilie kamen später zur Welt. Gelegentlich waren die Nachbarn abgelichtet. Einer von ihnen hatte eine Tochter der Gerstekorns geheiratet, ein anderer deren Schwester. Man war nahezu mit dem halben Dorf verschwägert, denn vormals wurde „über den Mist geheiratet“, damit die Höfe zusammenkamen. Ich kam zunehmend nicht mehr nach mit all den Namen.

Was die Familienidylle trübte, war zum einen das schwere Los der Tochter. Sie war mit ihrem Jungen ins Elternhaus zurückgekehrt, nachdem ihr Mann tödlich verunglückt war. Zum anderen machte man sich Sorgen wegen der Zukunft des Hofs. Der künftige Hoferbe war noch unbeweibt und lebte weiterhin bei den Eltern.

Er machte sich nichts vor: „Kleine Höfe haben keine Perspektive! Neues muß her!“ Er erwog die Umstellung auf einen Biobetrieb mit Hofladen. Das war ein langer Prozess und ging nicht mal so eben. Man hätte Ferienwohnungen für Sommergäste anbieten können, einen Streichelzoo für die Kinder und ein Tierheim mit Rundumpflege, während Herrchen Urlaub macht. Die ganze Familie könnte mitmachen. Aber dafür wären erhebliche Investitionen erforderlich. Der Vater war skeptisch: „Junge, übernimm dich nicht! Du wärst nicht der Erste, der den Hof mit Schulden überhäuft.“

Dunkelmann wollte herausfinden, ob Gerstekorn am Tag, als der alte Drake starb, etwas bemerkt hatte. Gerstekorn gab an, dass ihm nach der Rückkehr von der Feldarbeit gegen achtzehn Uhr seine Tochter mitgeteilt hatte, dass Drake gegen Mittag die Schelle hatte läuten lassen. Vermutlich das Übliche, hatte sie gedacht: Kein Brot im Haus oder Brille oder Medikament verlegt. Sie hoffte, dass es sich nicht um Ernsteres handelte. Der Alte mochte wieder einmal einen Schwächeanfall mit Atemnot gehabt haben. Die alte Geschichte: Er hatte es schon lange an der Lunge. Aber da sie sich allein nicht auf Drakes Hof getraut hatte, hatte sie gewartet, bis der Vater vom Feld zurück war. Als Gerstekorn nach dem Alten sehen wollte, war dessen Bett leer. Die Kissen waren auffällig durchwühlt. Man hatte das ganze Haus durchsucht. Am Ende fand man die Leiche im Teich.

Dann aber fiel Gerstekorn etwas ein, das Dunkelmann aufhorchen ließ: Als sich die Tochter nach dem Essen im Garten zu schaffen machte, hatte sie gesehen, dass zwei Männer aus der Einfahrt zu Drakes Hof kamen. Ihr schien, dass sie es eilig hatten. Ganz sicher sei sie sich nicht gewesen, hatte sie eingeräumt, aber es könnte sich um Kluckhan und seinen Sohn gehandelt haben.

Dunkelmann hatte sich umgehört: Zwischen den Kluckhans und den Drakes hatte es seit Menschengedenken Streit gegeben. Mal ging es um den Grenzverlauf der Feldfluren, mal um Zufahrtsrechte. Ich hatte mit den Leuten bislang noch keine Bekanntschaft gemacht, aber was ich über den verstorbenen Altbauern in Erfahrung gebracht hatte, gehörte nicht zu den Dingen, über die man offen sprach. Oma Gerstekorn hatte es noch miterlebt. Ich musste ihr versprechen, die Angelegenheit für mich zu behalten.

Kluckhan galt frühzeitig als „linientreu“ und wurde umgehend Ortsbürgermeister mit all den Folgen, die das nach sich zog. Nach Kriegsausbruch hatte er dafür gesorgt, dass die Frauen Päckchen an die Frontkämpfer schickten, und als die ersten „Ostarbeiter“ eintrafen, hatte er die Verteilung auf die einzelnen Höfe organisiert. Als es mit dem Siegen nicht mehr so weit her war, wurde auch er einberufen. Er kam an die Ostfront. In Russland sei alles primitiver als in Lippe, soll er gesagt haben, sogar in den Städten, ganz zu schweigen von den verdreckten und verlausten Gettos. Genaues hatte er nie erzählt, außer dass es fürchterlich gewesen sei und es am Ende „miese Verräter und windige Wendehälse“ gegeben habe. Nach Kriegsende war er für Jahre in sowjetischer Gefangenschaft. In dem Lager hatten ihm die „verdammten Bolschewisten“ übel mitgespielt. Dann aber war man „wieder auf die Beine gekommen“.

Alle waren froh, dass der Spuk vorbei war, aber für seinen Sohn war der „Alte“ ein Vorbild. Der Vater hatte ihm den Vornamen „Wotan“ gegeben. Der Pastor hatte von einem „heidnischen Zaubernamen“ gesprochen und gespöttelt: Er buchstabiere sich wie „Wotan-Odin-Thor-Adolf-Nazi“. Obwohl man sich grundsätzlich mit dem Vornamen anredete, war Wotan für alle „der Kluckhan“.

Er war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Vater. Er wirkte griesgrämig und galt als streitsüchtig. Er kannte nur zwei Tonlagen: Entweder meckerte er oder er kommandierte. Wenn ihm etwas nicht passte, ließ er seinem Zorn freien Lauf und wenn sein Kontrahent nicht kleinbeigeben wollte, stieß er mit seiner Forke heftig auf den Boden, als ob er ihm den Garaus machen wollte.

Kluckhan war Hans Dampf in allen Gassen. Er war bei der Feuerwehr, im Sportverein, in der Jagdgenossenschaft und auch bei den Kameradschaften aktiv. Er hatte dafür gesorgt, dass auf dem Friedhof den „heldenhaft Gefallenen“ ein würdiges Denkmal gesetzt wurde. Er wäre gern als Ortsvorsteher in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Dagegen gab es aber erheblichen Widerstand.

Dass man ihm lieber aus dem Wege ging, war nicht zu übersehen. Die anderen taten sich in der Ernte zusammen. Er machte seinen Kram stets allein. Nach der Jagd regelte er die Verteilung der Strecke. Die anderen nahmen sich, was ihnen zustand. Wenn er etwas übrighatte, konnte er sehen, wie er es loswurde.

Kluckhans ganzer Stolz war sein Hund. „Wolfi“ nannte er die Schäferhündin. Angeblich stammte sie vom germanischen Urhund ab. Wenn sie sich besonders brav gab, soll er zuweilen auch „Blondi“ zu ihr gesagt haben. Nachts wurde sie in einen Zwinger gesperrt. Tagsüber lag sie an der Kette. Wenn sich ein Fremder dem Hof näherte, war der Teufel los. Sie sprang dann wütend auf, rannte mit rasselnder, nachgeschleppter Kette auf den Ankömmling zu und fletschte die Zähne. So ähnlich stellt man sich eine Wolfsattacke vor. Die wilden Biester gelten als ausgerottet und kommen nur noch im Märchen vor. Sie sollen aber wieder im Vormarsch sein. Sie hinterlassen inzwischen ihre Spuren auch in Lippe.

 

Kluckhan war ein Ewiggestriger. Für ihn war das Dritte Reich keine Diktatur: „Hitler wurde frei gewählt!“ Das „Reich“ war nie untergegangen. Deutschland war noch immer im Kriegszustand. Nicht nur auf seinem Hof, auch an seinem Traktor hing die Nationalflagge, notgedrungen in den neuen Farben. Er sprach immer verächtlich von dem „Lappen Schwarz-rot-Senf“.

Dass nichts mehr so war wie früher und „Verräter und Wendehälse“ das Sagen hatten, hatte ihn zum Wutbürger werden lassen. Wiederholt hatte er mit der Obrigkeit im Streit gelegen. Er hatte amtliche Bescheide ignoriert und dem Gerichtsvollzieher einen von einer Reichsbürgerbewegung ausgestellten Fantasie-Pass vor die Nase gehalten. Als sich der Amtsvertreter nicht abwimmeln ließ, hatte er ihn gewaltsam festgehalten. Das hatte ihm ein Bußgeld wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt und Freiheitsberaubung eingetragen. Man hatte anschließend sein Haus nach Waffen durchsucht. Man stellte sein Jagdgewehr sicher, musste es ihm aber wieder aushändigen, nachdem er vor Gericht Einspruch erhoben hatte.

Kluckhan war ständig auf Schatzsuche. Er träumte davon, germanische Lanzen und Messer, römische Schwerter, Feldzeichen und Goldmünzen zu finden. Er hatte auf den örtlichen Feldfluren gegraben. Ich wollte nicht ausschließen, dass er sich auch auf meinem Hof umgesehen hatte, und fragte mich, ob er den Schatz entdeckt hatte, der möglicherweise in dem roten Sofa versteckt gewesen war.

Er hatte es besonders auf Hinterlassenschaften des Dritten Reiches abgesehen. „Sofort sicherstellen!“, hatte es geheißen. „Das ist Reichsbesitz. Das gehört nicht dem jetzigen Staat!“ Er besaß eine umfangreiche Sammlung von Wehrpässen, Soldbüchern, Uniformen und Orden. Ob zu den Funden auch Waffen und Wertgegenstände gehörten, ließ sich nicht sagen.

Kluckhan verfolgte im Fernsehen die Beiträge über sogenannte „Megaprojekte“ des Dritten Reiches. Von Bunkersystemen und unterirdischen Fabrikanlagen war die Rede, in denen die sogenannten „Vergeltungswaffen“ gebaut wurden. Angeblich handelte es sich um strahlgetriebene Flugzeuge und unbemannte Fernlenkwaffen. Am Ende hatte man sie weitgehend aus Holz gefertigt. Auch in Lippe sollten sie gebaut werden.

„Wer hätte gedacht, dass die heimischen Stuhlfabriken einmal so groß rauskommen würden!“, meinte Kluckhan voller Stolz. „Not macht eben erfinderisch! Und wenn man am Ende nicht schlappgemacht hätte, hätte man den Krieg gewinnen können!“

Kluckhan war überzeugt, dass die Superwaffen auch späterhin zum Einsatz kamen. Als die Amerikaner zum Mond flogen, meinte er: „Alles von den Deutschen geklaut!“ Zu den Superwaffen sollen auch eine „Flugscheibe“ und eine „Strahlenkanone“ namens „Midgardschlange“ gehört haben. Laut Kluckhan wurde das Raumschiff „Challenger“ von der Strahlenkanone abgefackelt und die Flugscheiben waren in das World Trade Center und in das Pentagon gerast.

Kluckhan vermutete, dass man die Superwaffen in unterirdischen Depots versteckt und bei Kriegsende in Höhlensysteme auf den Kanaren verlagert hatte: „Für alle Fälle und wenn es wieder einmal soweit sein sollte!“ Angeblich hatte man auch Gold und Devisenbestände in Sicherheit gebracht. Selbsternannte Experten hatten auf den Kanaren immer wieder gesucht, aber nur Reste von deutschen Uniformen gefunden. Kluckhan hatte mehrfach angekündigt, dass er sich dort umsehen wolle.

Kluckhans Frau war fleißig und bedürfnislos. Man sah sie nur selten und wenn man sie zu Gesicht bekam, verzog sie sich so schnell wie möglich. Es hatte immer den Anschein, als hätte sie etwas zu verbergen. Sie war für die Hausarbeit, das Kleinvieh und die Gartenarbeit zuständig, musste regelmäßig den Hühnerstall und den Hundezwinger ausmisten und den Hofraum kehren. Aber man hörte sie nie klagen, auch nicht, wenn er sie wieder einmal verprügelt hatte.

Auch vormals hatten die Frauen in Lippe nicht viel zu melden. In Männergeschäfte hatten sie sich nicht einzumischen. Sie gehörten an den Kochtopf. „Wuiwer belehrn und Water in eun Sieb schütten, dat kümmt Up dat sülbe heriut!“, sagte man, was heißen sollte, Frauen zu belehren, sei wie Wasser in ein Sieb schütten und käme auf das Gleiche hinaus. Und falls sich die Frau widersetzen sollte, galt der Spruch: „Wuiwer un Brennettel mott’n hart anpoeken, wenn seu nich steken sölt, und eun Puckel vull Schläge gift nüjje Leufde“ – Weiber und Brennnesseln muß man hart anpacken, damit sie einen nicht stechen, und ein paar Schläge geben der Liebe neuen Auftrieb.

Oma Gerstekorn wusste von einem Bauern, der es vormals konsequent so gehalten haben soll. Angeblich hatte ihn ein Ungeheuer angesprungen, als er mit einem Sack Mehl von der Mühle zurückkehrte. Er hatte es nur mit letzter Kraft abschütteln können. Es hatte sich unter seinen Schlägen auf dem Boden gewunden, bis am Ende der „Zaubergürtel“, der die Macht hat, einen Menschen in eine Tiergestalt zu verwandeln, entzweisprang. Der Bauer habe „einen im Giebel“ gehabt, meinte die alte Gerstekorn, und die Schläge hätten seiner Frau gegolten.

Kluckhans Frau suchte ihr Heil im Glauben. Sie war überzeugt, dass die Welt vom Satan beherrscht wird. Den Auserwählten jedoch ist Gewalt gegeben, gegen Ungläubige, Verräter und alle, die sich nicht an Gottes Wort halten. Am Ende der Tage wird der König Jesus das Böse besiegen und das Neue Reich erstehen.

Angeblich spukte es im Haus. Mal waren es himmlische Lichtgestalten, mal böse Geister. Zuweilen wollte sie „Erscheinungen“ gehabt haben. Ihre Mutter hatte an ihrem Bett gesessen. Dann war es wie in der Kindheit: Die Mutter hatte sie in den Arm genommen und liebevoll hin und her gewiegt.

Oma Gerstekorn machte sich Sorgen: „Die Frau ist vom Leben gezeichnet. Das hat ihr Mann auf dem Gewissen! Schrecklich, dass es so weit gekommen ist!“

Sie empfand Mitleid, hielt jedoch entschieden dagegen: „Wer auf Hirngespinste setzt, ist verloren. Möge der Herrgott die Irregeleiteten wieder auf den rechten Pfad zurückbringen!“

Kluckhans Sohn hatte es schwer mit dem Vater. „Der Kleine“, wie es mitleidig hieß, stand völlig unter dessen Fuchtel. Hart wie Kruppstahl, flink wie ein Wiesel, zäh wie Leder sollte der Junge sein. Der Vater hatte ihn „Adolf“ genannt. Im Dorf nannten sie ihn „Kluckie“.

Er war jedoch nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Vater. Mit ihm konnte man reden. Er war noch Junggeselle und lebte nach wie vor auf dem elterlichen Hof. Studieren kam für den Vater nicht in Frage: „Mein Sohn soll kein Sesselpupser werden! Auf die eigene Scholle ist Verlaß!“ Er sprach immer vom „Nährstand“: „Er ist der Grundpfeiler der Volksgemeinschaft und muß besonders gehegt werden!“ Dass sein Sohn den Hof einmal übernehmen sollte, war keine Frage, „aber erst, wenn ich meine Augen zumache!“ Auch für Nachwuchs mußte gesorgt werden, hatte aber keine Eile: „Kommt Zeit, kommt Rat! Es ist nicht leicht, eine passende Frau zu finden!“ Er sprach angeblich aus Erfahrung.

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