Das Rote Sofa

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Man sah Kluckie nur selten. Wann immer er konnte, verkroch er sich hinter den Bildschirm. In der virtuellen Welt war er „King“. Vormals hatten die Superhelden aus Hollywood die „Nazischweine“ erledigt. Inzwischen legten sie im Krieg der Sterne außerirdischen Killermonstern das Handwerk. Ein Mausklick, und die Bösewichte waren abgeknallt!

In jüngster Zeit war der Zwist zwischen dem alten Drake und den Kluckhans erneut aufgeflammt. Kluckhan wollte Drakes Ländereien übernehmen: „Was will der Alte damit? Er kann sie nicht mehr bewirtschaften. Einen leiblichen Hoferben gibt es auch nicht.“

Cord Drake hatte brüsk abgelehnt: „An dich verpachte ich nichts und einen Verkauf kannst du dir erst recht aus dem Kopf schlagen!“ Sie hatten sich anschließend nicht mehr gegrüßt. Nicht einmal am Portal der Kirche gönnten sie sich einen Blick.

Dunkelmann zündete sich die Pfeife an und ließ den Rauch kreisen. „Als ich die Kluckhans ins Verhör nahm“, sagte er, „gaben sie sich überrascht: Mit dem Tod des Alten hätten sie nichts zu tun! Ich ließ sie wissen, dass man sie am Tag, als er zu Tode gekommen war, am Hofeingang gesehen haben wollte. Sie stutzten. Damit hatten sie offenkundig nicht gerechnet. Ich war gespannt, was sie zu sagen hatten. Kluckhan musterte mich eindringlich: Ja, sie seien gegen Mittag bei Drake gewesen, räumte er ein. Man habe noch einmal über den Verkauf des Hofs reden wollen. Der Alte war sichtlich nicht gut zurecht, hatte noch im Bett gelegen und entsprechend mürrisch reagiert. Kluckhans Sohn hatte mit Engelszungen geredet, aber Drake war nicht umzustimmen. Am Ende wollte er die ungebetenen Besucher aus dem Haus werfen.

Mir kam ein Verdacht: Kluckhan könnte die Nerven verloren haben. Die Würgespuren am Hals der Leiche deuteten darauf hin, dass er Drake an den Kragen gegangen war. Sein Sohn wirkte irritiert, als ich von diesem Verdacht sprach, räumte aber zu meinem Erstaunen ein, dass der Vater gemeint habe, es würde Zeit, dass der Alte abkratze, und auch, dass sein Vater handgreiflich wurde. Er wies jedoch empört zurück, dass er ihn umgebracht habe. Angeblich waren sie umgehend nach Hause zurückgekehrt und hatten den Rest des Tages auf dem Hof verbracht. Aber dafür gibt es außer Kluckhans Frau keine Zeugen und die würde es nie wagen, ihren Mann zu verpfeifen!“

Er ging alle Eventualitäten durch: „Lebte der Alte noch, als die Kluckhans den Hof wieder verließen? Das bleibt vorerst offen, denn die Gerichtsmediziner können nicht sagen, ob der Tod des alten Drake eine Folge der Würgeattacke seitens Kluckhan war oder erst durch ein Ertrinken eingetreten ist. Kann sein, dass der Alte die Würgeattacke überlebt hat, aber mit Sicherheit fühlte er sich schlecht. Er hatte die Schelle betätigt, um Hilfe anzufordern, aber es hatte sich niemand gemeldet. Er hätte sich zum Hof der Nachbarn aufmachen können. In der Tat gab es Fußspuren. Sie führten vom Hinterausgang des Hauses in Richtung Teich. Von dort aus hätte er über einen Trampelpfad zum Haus der Gerstekorns gelangen können. Aber die Spuren endeten am Teich! Sie konnten indes nicht von dem Alten stammen, denn sie passten nicht zu seiner Schuhgröße! Außerdem führten sie auch wieder zurück ins Haus. Hatte Kluckhan den Alten doch erwürgt? Hatte man die Leiche zum Teich geschleppt? Wollte man einen Unfall vortäuschen? Das läge nahe, aber die Fußspuren passten auch nicht zu den Kluckhans. Denkbar ist, dass sie einen Helfershelfer hatten. Aber eine dritte Person wollte Gerstekorns Tochter nicht bemerkt haben. Und wer sollte sich dazu hergeben? Mit den Kluckhans wollte doch niemand im Dorf etwas zu tun haben!

Dann aber stellte sich heraus, dass sich an der Leiche auch Spuren befanden, die nicht von den Kluckhans stammten. Die Frage ist, ob sich nach den Kluckhans noch eine weitere Person auf dem Hof aufgehalten hatte. Niemand wollte etwas bemerkt haben. Theoretisch könnte der Mann, der Drakes Hof erben sollte, dort aufgekreuzt sein. Aber einem Geistlichen kann man kaum einen Mord unterstellen. Und warum auch sollte er den Alten aus dem Weg räumen? Ihm war das Erbe doch sicher. Außerdem konnte er zur Tatzeit noch nicht vor Ort gewesen sein. Er hatte noch im Flieger gesessen. Die Airline konnte das bestätigen.“

Er klopfte die Asche aus der Pfeife: „So, das wär’s! Alles in allem eine verworrene Geschichte!“

Der Schattenmann

Ich hatte Philipp Drake über den Makler kennengelernt, der mir den Kotten vermittelt hatte. Um seine Erbansprüche zu belegen, hatte Drake Papiere vorgelegt, wonach seine Vorfahren mit dem Erblasser verwandt waren. Geboren neunzehnsechzig in Los Alamos/Kalifornien, hieß es in den Personalien, Konfession freikirchlich, in New Ulm/Minnesota ansässig, verheiratet, von Beruf Prediger.

Drake sprach seinen Namen nach amerikanischer Manier aus. Das hörte sich wie „Dreeckie“ an. Das klang nicht unbedingt vertrauenerweckend und ließ eher an einen denken, der Dreck am Stecken hat. „Sagen Sie Phil zu mir!“, meinte er salopp.

Ich hatte keinen Mann im Talar erwartet. Auch hierzulande laufen die Geistlichen nicht mehr ständig im Ornat herum und in den Staaten, besonders auf dem platten Land, soll es diesbezüglich noch weltlicher zugehen. Er gab sich bibeltreu, ließ an den etablierten Kirchen kein gutes Haar, berief sich auf das reine Wort der Heiligen Schrift und war nie um ein passendes Zitat aus der Bibel verlegen, schien aber dem Irdischen keineswegs abgeneigt zu sein. Er hatte ständig den Glimmstängel im Mund und eine Bierflasche zur Hand. Wenn es spät wurde, kam meist noch ein Whisky hinzu.

Ich war überrascht, wie modisch er gekleidet war. Er trug eine dunkel getönte Brille und lief stets in einer Lumberjack-Jacke und eng geschnittenen Jeans herum. Die Sachen sahen aus, als stammten sie aus einem Laden für sportliches Outfit. Meist hatte er eine schwarze Baseball-Kappe auf. Er hatte eine Narbe auf seiner linken Backe. Er musste beim Spielen mal gehörig einen Schlag abbekommen haben.

Bis die Erbangelegenheiten geregelt waren, hatte sich Phil vorübergehend auf dem Nachbarhof einquartiert. Dass man sich gelegentlich traf, ergab sich von selbst. Dann saßen wir in der kleinen, niedrigen ehemaligen Stube und plauderten über Gott und die Welt.

Als ich ihn wieder einmal aufsuchte, hatte ich meinen Hund mitgenommen. Faida kuschelte sich neben meinen Stuhl und wirkte verängstigt. Phil beobachtete sie misstrauisch. Er mochte offensichtlich keine Hunde.

„Sie ist absolut friedlich“, beruhigte ich. „Sie tut keiner Menschenseele etwas zuleide.“

Ich streichelte sie und gab ihr außer der Reihe ein Leckerchen. Sie richtete sich auf und hob wie immer erwartungsvoll die Pfote.

Phil war beeindruckt: „Sieht aus wie der Hitlergruß!“

Ich überging geflissentlich die Bemerkung.

Ich reichte Phil ein Stückchen: „Versuchen Sie es auch mal! Das schafft Zutrauen!“

Er streckte zögerlich seine Hand aus. Faida hob die Pfote nicht, sondern begann leise zu knurren.

„Zwischen uns wird es hoffentlich leichter klappen“, meinte Phil scherzhaft.

Anschließend kam er, wie so oft, auf den Tod des alten Drake zu sprechen.

„Der arme Kerl tut mir so leid!“, sagte er. „Er war bereits sehr hinfällig, hatte keine Kinder und lebte ganz allein auf dem Hof. Er muss ein herzensguter Mensch gewesen sein. Er war so glücklich, dass sein Besitz noch zu Lebzeiten in die Hände eines Nachkommen gelangen sollte. Wie traurig, dass er das nicht mehr erlebt hat!“

Und dann folgten eine Reihe salbungsvoller Sprüche dahingehend, dass der Herrgott die Seinen nie verlässt und im Jenseits für alle Unbill des Erdenlebens entschädigt.

Er griff zu einer Whiskyflasche. „Original amerikanisch! Kein Vergleich mit dem laschen Zeug aus Schottland und Irland!“, meinte er, als er mein Glas füllte.

„Aha!“, sagte ich. „Mit Whisky kenne ich mich nicht aus.“

Dass er sich als Whiskykenner ausgibt, mag angehen, dachte ich, aber dass er derart nationale Töne anschlägt, klingt doch reichlich überheblich und will nicht recht zu einem Gottesdiener passen.

Beim Bier bevorzuge er Lokales, meinte er. „Detmolder Landbier“ sei sein Favorit: „Schmeckt wie bei uns in New Ulm!“

Und dann verwies er darauf, dass die traditionsreiche August-Schell-Brauerei in New Ulm ihren Gerstensaft nach wie vor nach dem deutschen Reinheitsgebot herstelle.

Ich nutzte die Gelegenheit, um mich in der Stube umzuschauen. Zu Zeiten des alten Drake herrschte dort großes Durcheinander. Inzwischen war alles aufgeräumt und blitzsauber.

„Es wird Zeit, dass jemand das Haus wieder auf Vordermann bringt!“, sagte ich anerkennend. „Aber bis alles wiederhergerichtet ist, dürfte es noch eine Weile dauern.“

Er nickte zustimmend. „Ich kann Unordnung nicht ausstehen!“, meinte er. „Das ist wie bei der menschlichen Seele: Das Gewissen sollte immer rein sein.“

Auf dem Boden stand ein Koffer. Der Deckel war ein stückweit geöffnet. Mir schien, dass es Phil nicht behagte, dass ich Einblick gewann. Auf den ersten Blick befanden sich in dem Koffer die üblichen Reiseutensilien und allerlei Krimskrams. Bei genauerem Hinsehen fiel mir ein Baseball-Schläger ins Auge. Ich wunderte mich, dass er schwarz-weiß-rot lackiert war. Ich hatte eher die amerikanischen Farben erwartet.

„Den Schläger hat mir unlängst ein Mitglied einer hiesigen Kirchengemeinde geschenkt“, sagte Phil. „Er ist ein Baseball-Fan. Hierzulande kennt man die Sportart leider kaum. Er ist ein netter Kerl. Wir treffen uns gelegentlich.“

Phil zündete sich eine Zigarette an. Als er das Feuerzeug zückte, fiel mir auf, dass auf beiden Seiten etwas eingeprägt war.

„Darf ich mal sehen?“, sagte ich.

Als ich das Feuerzeug genauer in Augenschein nahm, entdeckte ich auf der einen Seite die Initialen „J“ und „H“. Merkwürdig, dachte ich. Sie passen nicht zu Phils Namen. Auf der anderen Seite befand sich ein Zeichen. Es war etwas mit kleinen, spitzen Haken. Auf den ersten Blick sah es nach einem Anker aus. Dann aber fiel mir ein, dass es sich um eine Wolfsrune handeln könnte.

 

Das war ein Zeichen, das die Germanen nach der sogenannten Wolfskralle geformt hatten, einem Jagdgerät zum Fangen von Wölfen, das mit Widerhaken und einem Köder versehen war und in Bäumen aufgehängt wurde.

Die Wolfsrune galt als Ausdruck der Wehrhaftigkeit. Der Heidedichter Hermann Löns ließ sie in seinen Grabstein meißeln. Hitlers schwarze Schergen und „Werwölfe“ hefteten sie an ihre Uniformen. Man hat sie wieder aus der Mottenkiste gekramt. Sie leuchtet auf den T-Shirts von rechten Schlägern und wenn sie sagen, „die Wölfe sind zurück!“, meinen sie nicht die vierbeinigen, sondern Ausländer.

Der Wolf nimmt sich, was er braucht. Das ist sein Trieb. Das ist das Gesetz der Arterhaltung. Aber er ist der Fressfeind des Menschen. Der Mensch muss ihn jagen. Doch es gilt auch die Sentenz: „Homo homini lupus“, der Mensch ist des Menschen schlimmster Feind. Der Sieger nimmt sich, was er braucht.

„Die Polen sind erst zu Menschen gemacht worden, nachdem sie von den Preußen gewaschen wurden“, soll Bismarck gemeint haben, „und man kann, wenn man bestehen will, nicht anders tun, als sie ausrotten. Der Wolf kann auch nicht dafür, dass er von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn man kann.“ Wolf und Marder seien nun mal Diebe, ließ Hermann Löns seinen „Werwolf“ sagen, und man müsse Tatern und anderes fremdes Volk mit der Peitsche begrüßen und die Hundsfötter totschießen wie tolle Hunde, weil sie keine richtigen Menschen seien und nicht blieben, wo sie hingehörten.

Die Juden seien raubgierige Wölfe, hatte der Reichspropagandaminister gewettert. Da mochte es kein Zufall sein, dass der Führer seine Vernichtungsbefehle aus der „Wolfsschanze“ erteilte. Vielleicht sollte der Name an einen Wolfsbau erinnern, in den sich der Räuber mit seinem Rudel verkriecht. Doch am Ende sah es mehr nach einer Fallgrube aus, in der man ihn zur Strecke bringen wollte. Es sollte in der Tat kein gutes Ende mit ihm nehmen. Der Jäger wurde zum Gejagten. Schon die Germanen glaubten, dass am Ende der Tage der „Fenriswolf“ auftauchen und den Allvater verschlingen würde.

Eine frustrierende Bilanz, dachte ich. Herrscht unter den Menschen das Gesetz der Wölfe? Soll das ewig so weitergehen? Auf dem Papier steht: Alle Menschen sind gleich. Alle haben die gleichen Rechte. Wo bleibt die Brüderlichkeit, die Empathie, die Solidarität?

Ich hatte den Eindruck, dass Phil misstrauisch zugeschaut hatte, als ich das Feuerzeug von allen Seiten aufmerksam studierte.

„Interessantes Stück!“, meinte ich anerkennend, als ich es ihm wieder zurückreichte. Ich hätte erwartet, dass er sich zu dem Zeichen geäußert hätte. Er schwieg jedoch und schien sichtlich bemüht, das Thema zu wechseln.

Angeblich war er ein Wiedergeborener. In seinem ersten Leben war es fürchterlich zugegangen. Er war ein uneheliches Kind. Seine Mutter hatte ihn ausgesetzt. Er war umhergestreunt und zum „Wolfskind“ geworden. Er hatte jahrelang mit den Tieren gelebt und manche ihrer Gewohnheiten angenommen. Dann hatte man Jagd auf seine Freunde gemacht und sie gnadenlos abgeschossen. Er hatte um sein Überleben gekämpft, aber am Ende war er verhungert. Als man seine Leiche fand, hatte man sie in einem namenlosen Grab beigesetzt.

Es sei ein regenverhangener Tag gewesen, wollte er sich erinnern. An seinem Grab hatten sich nur ein Amtsvertreter, ein Geistlicher und ein paar alte Leutchen eingefunden. Der Seelsorger hatte von einem traurigen Schicksal eines jungen Menschen gesprochen, der nicht mehr in die Gesellschaft der Menschen zurückgefunden habe. Es sei Gottes Wille gewesen. Der Herr möge der Seele des Verstorbenen gnädig sein. Als man den Sarg in die Gruft hinabließ, hatte in der Ferne ein Wolf klagend aufgeheult.

In seinem zweiten Leben habe er es kaum besser gehabt, meinte er. Sein Vater sei ein Grobian, Säufer und Weiberheld gewesen. Nicht nur seine Mutter, auch er habe sehr darunter gelitten. Und auch er sei in seiner Jugend alles andere als ein Lämmchen gewesen und habe sich schon mal geprügelt, wenn es nicht anders ging. Seine Vorbilder seien die Revolverhelden in den Wildwestfilmen gewesen: Immer den Colt griffbereit! Immer auf der Seite der Rechtschaffenen! Auch die Hollywood-Streifen, in denen Eliteeinheiten die „verdammten Japse“ und die „miesen Vietcongs“ jagten, hätten ihn zutiefst beeindruckt. Bei den Kämpfen sei es grausam zugegangen, aber wenn es um das Vaterland gehe, sei jedes Mittel recht.

Von seinen Eltern habe er keine Hilfe erwarten können. Er habe sehen müssen, wie er allein zurechtkam. Studieren kam nicht in Frage. Sein Vater hatte weder die Mittel noch die nötigen Beziehungen. Er wollte zur Army. Dort brauchten sie handfeste Typen.

Er sei im Golfkrieg dabei gewesen, als man die Iraker aus Kuwait vertrieben habe, sagte er. Man habe ordentlich mit den Halunken aufgeräumt. „Highway of Death“ habe man das Schlachtfeld genannt und man werde nicht aufhören, den aufmüpfigen Moslems das Handwerk zu legen, immer nach dem Motto: „Das parasitäre Gesindel eliminieren! Jagd auf den König des Abgrunds machen!“

Am Ende hatte ihn ein Heckenschütze erwischt und am Kopf getroffen. Er hatte zwischen Leben und Tod geschwebt. Er hatte überlebt, aber für den Dienst an der Front war er nicht mehr tauglich. Die Army hatte für ihn gesorgt und ihm eine Stellung als Sicherheitsbegleiter einer Fluggesellschaft verschafft.

„Ich war weiterhin im Dienst der Nation für Sicherheit tätig“, fuhr er fort. „Es war nicht so spektakulär wie an der Front, aber auch nicht ohne Risiko. Ich hatte immer den Revolver dabei. Notfalls kurzen Prozess machen, lautete mein Auftrag. Meist aber handelte es sich um Lappalien. Mal hatte einer zu viel getrunken und seinen Nebenmann belästigt, mal hatte einer das Bordpersonal angepöbelt. Es ging nicht immer ohne Blessuren ab, daher die Narbe auf der Backe. Unter den Passagieren waren auffällig viele Leute aus dem Nahen Osten. Der Verdacht lag nahe, dass unter ihnen Terroristen sein könnten. Einmal konnte ich einen Anschlag verhindern. Bei einem Passagier war das Handgepäck in Flammen aufgegangen. Der Mann hatte brennbares Material an Bord geschmuggelt! Es war eine schöne Zeit. Dann aber wurde mir gekündigt. Ich hatte angeblich eine Waffe aus dem Sicherheitsbereich geschmuggelt. Daran war kein Wort wahr! Ein anderer war scharf auf meinen Posten.“

Anschließend war er Prediger geworden. „Ich war ein Spätberufener“, meinte er vielsagend. „Ich hatte sozusagen etwas gutzumachen. Im Dienst des Herrn hatte ich eine ähnliche Mission wie zuvor. Ich wollte Gottes Wort verkünden, Menschen auf den richtigen Weg bringen und ihnen in ihrer Not beistehen. Doch das Kreuz hat die Menschheit nicht erlöst. Das Böse treibt nach wie vor sein Unwesen. Man darf nicht viel Federlesen machen! Gottes Wort muss mit Feuer und Schwert verbreitet werden! Der Herr kennt selbst bei den Seinen keine Gnade. Wen er liebt, den züchtigt er.“

Der Wechsel vom Landser zum Prediger erschien mir merkwürdig, hätte aber auch passen können, denn glaubensmäßig kam er augenscheinlich aus der fundamentalistischen Ecke. Dort soll es durchaus Leute geben, die nicht zimperlich sind!

Als Prediger sei er voll im Einsatz, sagte er. Er sei ständig auf Tour und habe wenig Zeit für anderes, auch nicht für die Familie. Ich hätte erwartet, dass er mir Fotos gezeigt hätte, von seiner Frau, von seinen Kindern, seinem Haus, seinem Wohnort oder seinem Gemeindehaus. Aber es schien, als sei das für ihn nicht sonderlich wichtig.

Ich hatte den Eindruck, dass er auffällig oft außer Haus war. Auf Nachfrage gab er zu verstehen, dass er seine „Mission“ auch in Lippe nicht vernachlässigen wolle.

Ich wollte wissen, warum er kein Auto, sondern ein Motorrad benutzte.

„Damit kommt man besser vom Fleck“, meinte er. „Die schönsten Ecken in Lippe lernt man erst kennen, wenn man auf zwei Rädern unterwegs ist.“

Angeblich war er auch in den Staaten immer mit dem Motorrad unterwegs. Die Gemeinde war weit verstreut. Die Gemeindemitglieder waren ärmliche Leute. Er lebte von Spenden. Ein Auto konnte er sich nicht leisten.

Ich war von Anfang an überrascht, dass er, wenngleich mit deutlichem Akzent, der deutschen Sprache weitgehend mächtig war. Eine fundierte Kenntnis der deutschen Geschichte schien er nicht zu besitzen, aber mir fiel auf, dass er sich bezüglich des Dritten Reiches erstaunlich gut auskannte. Selbst die unterschiedlichen SS-Ränge konnte er mühelos herunterspulen!

In seiner Familie habe man die deutschen Traditionen stets hochgehalten und auch die Muttersprache an die Nachkommen weitergegeben, meinte er. Und dann sprach er davon, dass er Hochachtung empfinde vor der Zähigkeit und dem Mut, mit dem sich seine Vorfahren eine neue Existenz im Land der Freiheit geschaffen hätten, und über die Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen hatten, schilderte, wie beschwerlich die Reise seinerzeit gewesen sei und wie sie sich anfangs als Tagelöhner hätten durchschlagen müssen, bevor sie es nach Jahren voller Entbehrung geschafft hätten, ein Stück Land zu erwerben und eine Familie zu gründen. Er bediente sich dabei gelegentlich der Redeweise der Ausgewanderten, indem er Deutsch und Englisch mischte und von „place finden“ und „home gründen“ sprach.

Einer seiner Ahnen habe sich zu Fuß nach Kalifornien aufgemacht, um dort Gold zu schürfen, flocht er ein. Am Ende sei er mit einem Goldschatz zurückgekehrt. Im Dorf hätten ihn alle den „Kalifornier“ genannt.

Ich wurde hellhörig. War der Schatz in meinem Kotten versteckt? Hatte er sich in dem roten Sofa befunden? Hatte Phil ihn an sich genommen? Mir kamen erneut die Flecken in den Sinn. War vielleicht noch ein anderer hinter dem Schatz her? Hatte es eine gewaltsame Auseinandersetzung gegeben? War dabei Blut geflossen? Ich verwies den Gedanken aber nach wie vor in das Reich der Fantasie und behielt meine Vermutung für mich, zumal Phil das Gespräch umgehend wieder an sich riss.

Später hätten sich seine Vorfahren in New Ulm niedergelassen, sagte er. Anfangs hätten sie große Probleme mit den Indianern gehabt. Die Rothäute seien immer wieder über ihre Siedlungen hergefallen. New Ulm sei mehrfach von ihnen zerstört worden. Nach dem Wiederaufbau der Stadt habe man, in Würdigung der tapferen deutschen Kämpfer, nach heimischem Vorbild das „Hermannsdenkmal“ errichtet. Anlässlich der Einweihung habe es ein Volksfest gegeben, bei dessen Ausrichtung der Orden „Hermanns Söhne“ federführend gewesen sei. Auch eine Delegation aus der Heimat des Cheruskers habe an den Feierlichkeiten teilgenommen.

„Ihr Lipper haltet die Tradition hoch“, meinte Phil anerkennend. Und dann sprach er davon, dass die Drakes vom gleichen deutschen Geist beseelt gewesen seien und sich auch in ihrer neuen Heimat als echte Patrioten erwiesen hätten. Im Bürgerkrieg hätten sie aus tiefster Überzeugung heraus gegen die gottlosen Nordstaaten gekämpft, während die Husemanns, ihre vormaligen Nachbarn in Dalborn, nichts Eiligeres zu tun gehabt hätten, als den wackeren Südstaatlern in den Rücken zu fallen, vermutlich weil man ihnen nach dem Sieg billiges Land versprochen habe. Nach der Schlacht bei Guntown aber habe sich das Blatt gottlob zugunsten der Rechtschaffenen gewendet. Man habe die Husemanns geschnappt und die Verräter hätten den verdienten Denkzettel bekommen. Einer der beiden habe ein Leben lang unter Durchfall gelitten und der andere ohne Zehen am linken Fuß herumlaufen müssen.

Ich hatte nicht erwartet, dass er derart abfällig über die ehemaligen Nachbarn der Drakes sprechen würde. Die Husemanns waren meines Wissens ehrenhafte und gottesfürchtige Leute. Sie hatte die gleiche Armut und die Suche nach einem besseren Auskommen in die Fremde getrieben wie die Drakes. Sie hatten reichlich Pech im Leben und ihren Hof an die Drakes verkaufen müssen, um die Überfahrt zu finanzieren. Damals hatte es geheißen, die Drakes hätten sie beim Verkauf des Hofs über den Tisch gezogen. Aber dann hätten nicht die Drakes einen Grund zum Groll gehabt, sondern die Husemanns.

Phil schien zu spüren, dass mir etwas durch den Kopf ging, und vermied auffällig den Blickkontakt. Er wandte sich um und nahm ein Bündel vergilbter Schreiben zur Hand, in denen die Ausgewanderten über ihr Schicksal berichtet hatten. Er habe die Briefe in einer Kommode aufgestöbert, sagte er. Sie seien eine echte Bereicherung gewesen.

Das klang vielsagend. War in den Briefen von dem Goldschatz die Rede, mit dem einer der Drakes aus Kalifornien zurückgekehrt sein soll?

 

Als Phil die Blätter durchging, hatte er die Brille nicht auf, obwohl es nicht gerade einfach war, die Krakeleien zu entziffern. Mir kam ein Verdacht: War er vielleicht überhaupt kein Brillenträger?

Bislang hatte die dunkel getönte Brille die Farbe seiner Augen nicht erkennen lassen. Jetzt aber fiel mir auf, dass seine Augen braun waren. Merkwürdig, dachte ich, denn seine Haare sind blond! Vielleicht hatte er sie gefärbt. Aber wozu? Aus Eitelkeit? Oder steckte mehr dahinter?

Es schien, als ob er Gedanken lesen könnte. Er griff hastig zu den Gläsern und murmelte: „Jetzt brauche ich doch die Brille! Ich habe mich noch immer nicht an sie gewöhnt.“

Dann hatte er offensichtlich gefunden, wonach er gesucht hatte. „Aufgegeben in Junction City/Kansas am achten April achtzehnvierundsiebzig“, kommentierte er. Aus dem Schreiben ging hervor, dass einer der Drakes dort bei einer Eisenbahngesellschaft tätig war, die die Strecke weiter westwärts trieb. Er habe stets eine Flinte bei sich, hieß es, weil er auf der Hut sein müsse, dass ihm das Ersparte nicht gestohlen wurde. Besonders die Rothäute seien für ihre räuberischen Überfälle berüchtigt.

Phil zitierte: „Ich denke, es kann keine grässlicheren Gestalten geben als die Indianer. Sie stinken wie Aas, haben nur Pferdedecken um den Leib, gehen barfuß, schlafen Sommer und Winter im Freien auf dem Boden. Sie können uns Weiße nicht ausstehen und denken, sie würden zu sehr unterdrückt und ihr Heimatrecht ginge fort. Aber das ist nicht so. Dennoch machen sie sich einen Spaß daraus, einen Reisenden totzuschießen und den Leichnam bei heller Flamme brennen zu sehen.“

Ich horchte auf: Ich hätte eine kritische Anmerkung erwartet, aber er machte keinerlei Anstalten, sondern verwies stattdessen darauf, dass auch die „Schwarzen“ nicht den besten Ruf hätten. Damals, meinte er, habe sein Urahn aus Chicago berichtet, ihm gefalle die Stadt nicht, weil die meisten Einwohner „Neger“ seien.

Anschließend ließ er sich ausgiebig darüber aus, dass in den Staaten allein der weiße Mann das Sagen habe, während die Schwarzen eine schwache Rasse seien und Sklavenblut in ihren Adern hätten. Sie könnten froh sein, wenn man ihnen Brot und Arbeit gebe. Die Indianer seien im Grunde ein wehrhaftes Volk, aber wegen ihrer technischen Rückständigkeit zwangsläufig untergegangen. Inzwischen wimmele es in den Staaten nur so von Menschen aus aller Herren Länder. Die Nordeuropäer seien tüchtig und fleißig. Bei den Latinos dagegen sehe es diesbezüglich schlecht aus und den Chinesen und den Arabern sei nicht zu trauen. Leider faselten heute viele von Gleichheit, aber so hätten es die weißen Siedler nie gemeint. Die Freiheitsstatue sei keinesfalls als „Einladung für irgendwelche Hergelaufenen“ zu verstehen.

Er verwies auf das uralte Recht der Siedler, eine Waffe bei sich zu führen. Man habe sich die Freiheit erkämpft und lasse sie sich nie wieder nehmen. Der Baum der Freiheit müsse jedoch von Zeit zu Zeit mit Blut aufgefrischt werden. Das habe schon Jefferson gesagt. Man berufe sich auf die in der Verfassung garantierten Rechte, bekämpfe aber den säkularen Staat, denn über allem stünden die Gesetze Gottes mit der Maßgabe, dass man der Evolutionstheorie widerspreche, die Reinhaltung des Blutes fordere und vorehelichen Geschlechtsverkehr, Abtreibung, Scheidung und gleichgeschlechtliche Partnerschaften verurteile.

„Sie müssen das verstehen“, meinte er, als ob er ahnte, dass sich das aus dem Mund eines Geistlichen nicht gerade passend anhörte. „Die Mitglieder meiner Gemeinde sind arme Schlucker und nicht gerade vom Leben verwöhnt. In ihrer Not neigen sie dazu, sich von anderen zu holen, was ihnen nicht vergönnt ist. Das birgt eine Menge Gefahren und bringt die göttliche Ordnung durcheinander. Die Leute sind ungebildet und sehr einfach gestrickt. Sie brauchen etwas, woran sie sich festhalten können. Und das ist allein Gottes Wort!“

Er füllte sein Whiskyglas nach, zündete sich eine weitere Zigarette an, blies den Rauch ungeniert in meine Richtung und beugte sich etwas vor. Ich hatte das Gefühl, dass ihm an einer Klarstellung gelegen war.

„Ihr Deutschen wißt nicht“, meinte er, „was es heißt, mit Menschen zusammenzuleben, die nicht dem eigenen kulturellen Erbe entsprechen und auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe stehen. Ihr hattet dafür ein Problem mit den Juden!“

Ich zögerte mit einer Antwort. War das ein Totschlagargument, um mich zum Schweigen zu bringen? Auf jeden Fall war es ein heißes Eisen, das ich im Moment lieber ruhen lassen wollte.

„Nun ja“, sagte ich stattdessen, „inzwischen machen wir neue Erfahrungen mit Menschen aus anderen Kulturkreisen. Es ist zu befürchten, dass immer mehr Migranten ins Land strömen. Das dürfte zu erheblichen Konflikten führen. Ich hoffe, man wird eine friedliche und humanitäre Lösung finden.“

Phil zog die Augenbrauen ungläubig hoch und blickte mich durchdringend an: „Das bezweifle ich“, meinte er. „Ich nehme an, dass die Menschen auf die Straße gehen und rebellieren werden. Deutschland darf kein Auffangbecken für Hungerleider aus aller Welt werden! Aber noch gefährlicher sind die Moslems. Sie sind die modernen Barbaren. Sie wollen sich gewaltsam ausbreiten und die westliche Kultur zerstören.“

Ich konnte das nicht so stehen lassen: „Das sollte man nicht pauschal unterstellen!“

„Aber es gibt genug unbelehrbare Fanatiker“, ereiferte er sich. „Mit ihnen muß man kurzen Prozess machen. Man muß mit Wut und Feuer gegen sie vorgehen!“

„Das bedeutet Krieg!“, wandte ich nachdrücklich ein. „Wollen wir das? Verpflichten uns nicht unsere eigenen Werte, einen anderen Weg einzuschlagen?“

“Ich weiß, die Deutschen mögen keinen Krieg“, meinte er augenzwinkernd. „Sie haben ihn zu oft verloren!“

Im Krieg habe sein Großvater seiner Pflicht gehorchen müssen, fuhr er fort, aber mit Rücksicht auf seine Abstammung habe man ihn gottlob nicht in Europa, sondern in Fernost eingesetzt. Er sei als Bomberpilot über Tokio dabei gewesen: „Der reinste Feuerzauber!“ Am Ende hätten zwei Atomblitze genügt, um den Krieg zu beenden. Seitdem gelte der Spruch „America First!“

Er schenkte sich einen weiteren Whisky ein: „Auf die deutsch-amerikanische Freundschaft! Lassen wir die Vergangenheit ruhen!“

Es war spät geworden. Ich rüstete zum Aufbruch. Als ich zur Tür schritt, kam ich an einer Anrichte vorbei, auf der eine Bibel lag. Es schien ein besonders kostbares Exemplar zu sein. Es war in Leder gebundenen und mit Goldschnitt versehen.

„Ein schönes Stück!“, sagte ich.

Er nahm das Buch liebevoll zur Hand: „Altes Erbstück!“, meinte er. „Es begleitet mich ständig. Gottes Wort gibt in allen Dingen die Richtung vor.“

Ich bat darum, einen Blick in das Buch werfen zu dürfen. Er zögerte einen Augenblick, ehe er es mir reichte. Ich wunderte mich. Wieso sollte ich mir das Buch nicht anschauen? Und dann wurde ich stutzig: Er hatte von einem alten Erbstück gesprochen, doch das Buch wirkte nahezu neuwertig und unbenutzt. Als ich es aufschlug, fiel mir eine handschriftliche Widmung ins Auge. Sie lautete: „To Jonny Houseman“. Das passte auffällig zu den Initialen auf dem Feuerzeug.

Phil schien bemerkt zu haben, dass ich misstrauisch geworden war. Ich hatte den Eindruck, dass er unwillkürlich zusammenzuckte, als ich nachfragte, wer dieser Houseman sei, sich aber rasch wieder gefasst hatte.

„John Houseman ist mein Nachbar in New Ulm“, sagte er. „Er ist ein Nachfahre der Husemanns, die sich in den Staaten Houseman nannten, weil das englischer klang und leichter auszusprechen war. Houseman hat mir das Buch geschenkt. Es war gut gemeint. Er wollte mir eine Freude machen. Er selbst war leider nicht gerade ein gottesfürchtiger Mensch!“

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