Tanz auf dem Vulkan

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Juan steuerte die Halteschranke an, warf das Ticket in den Automaten und fädelte sich in die Fahrspur zur Autopista ein. Im selben Augenblick zwängte sich ein stückweit hinter uns ein Taxi rüde in die Autoschlange. Es gab nur einen Fahrgast. Das ist der Mann, der dich im Terminal ausspioniert hat, dachte ich. Aber da er auf dem Rücksitz saß und vom Fahrer verdeckt wurde, konnte ich ihn nicht erkennen.

Ich hielt das Taxi im Auge. Als uns der Fahrer weiterhin folgte, wurde ich unruhig. „Das will nichts heißen!“, beruhigte Juan. „Hier wimmelt es von Taxis.“

Ich überlegte, was ich tun sollte: Ich hätte Juan bitten können, anzuhalten. Doch ich wollte kein großes Aufheben machen. Vielleicht wäre das Taxi auf Nimmerwiedersehen an uns vorbeigezogen, vielleicht aber auch nur zum Schein, um mir später erneut zu folgen. Irgendwann konnte ich das Taxi nicht mehr ausmachen. Na also, dachte ich, damit ist die Sache erledigt!

Zugleich ging mir durch den Kopf, was es mit dem Mord im Barranco Ruiz auf sich hatte. Das sei eine furchtbare Sache, meinte Juan, als ich ihn darauf ansprach, und da sich der Mord in unmittelbarer Nähe seines Elternhauses abgespielt habe, sei man sehr besorgt. Ich hatte den Eindruck, dass er mehr wusste, hielt es jedoch für unangebracht, ihn während der Fahrt mit Fragen zu überhäufen.

Bei den Touristenzentren Playa de las Americas und Los Christianos endete die Autopista. Von da an folgten wir der Carretera zweiundachtzig, die sich oberhalb der Westküste in nördlicher Richtung durch eine karge Gegend hochschraubte. Zur Linken tauchte am Horizont die Küste von La Gomera auf. Zur Rechten ragte das schroffe Lavagestein der Vulkanhügel zum Himmel auf.

Hinter Santiago del Teide kurvten wir zum Erjos-Pass hoch, einer auf einer Höhe von tauseneinhundertsiebzehn Metern gelegenen Wetter- und Wasserscheide zwischen dem nördlichen und südlichen Teil der Insel. Von dort hatte ich einen freien Ausblick auf den Teide. Auf dem Gipfel des Vulkans lag noch Schnee. In den Fincas ringsum hatte die Mandelblüte begonnen. Ein bezaubernder Anblick! Anschließend ging es in endlosen Serpentinen zur Nordküste hinunter. Ich wurde zunehmend schläfrig und war froh, als wir endlich am Ziel waren.

Die Finca lag oberhalb der Steilküste in der Nähe des Küstenstädtchens Icod de los Vinos. Sie nannte sich „Tierra, Mar y Viento“, Erde, Meer und Wind. Ich fand, dass das zu meinem Hund passte. Das will erklärt werden: Nach einer Legende trug der Wind einen Pfeil durch die Lüfte. Der Pfeil verliebte sich in den Wind. Aus dieser Liebe entstand eine Hündin namens Faida. Sie war so schnell, dass niemand sie erjagen konnte. Sie war frei und trug die Liebe in jeden Winkel der Erde.

Juan half mir beim Ausladen des Gepäcks und führte mich zu der Kate, in der ich mich einquartieren wollte. Das Häuschen war leicht heruntergekommen und die Einrichtung bescheiden, aber das war genau das Richtige für mich und Faida.

Hilde bezog stets im Hotel „Monopol“ Quartier. Das im Kolonialstil erbaute Haus in Puerto de la Cruz liegt in der Calle Quintana gegenüber dem Kirchplatz. Für Kenner ist es eine der besten Adressen in der Stadt. Die Stufen am Eingang werden jeden Morgen mit frischen Blumen geschmückt. Von dem Innenhof, in dem mächtige Kübelpalmen bis zur Glaskuppel aufragen, führen ausladende Treppen mit kunstvoll verzierten Geländern zu den Holzbalkonen im Obergeschoss. Für mich war das Nobelhotel zu teuer und außerdem war für Faida kein Platz.

Juan bat mich, an einem Tisch neben dem Eingang Platz zu nehmen. Er war offensichtlich bemüht, mir einen freundlichen Empfang zu bereiten, und hatte für Mineralwasser, etwas Käse und Brot gesorgt.

Wir kamen ins Gespräch. Er wollte wissen, was ich auf der Insel vorhatte, und bot seine Hilfe an, falls ich irgendetwas benötigte. Er hoffe, dass ich einen ungestörten Urlaub auf der Finca verbringen würde, meinte er. Ich könne unbesorgt sein, hier komme niemand ungesehen auf den Hof. Ich war irritiert: Warum glaubte er, mich beruhigen zu müssen?

Als ich meine Blicke schweifen ließ, hatte ich den Eindruck, als würde mich hinter der Hecke, hinter der das elterliche Wohnhaus lag, jemand beobachten. Warum kam er nicht zu uns herüber? War er zu scheu oder gab es einen anderen Grund, warum er nicht gesehen werden wollte? War das der Unbekannte, der mich im Terminal ausspioniert hatte? Juan schien bemerkt zu haben, dass ich nicht ganz bei der Sache war, ich wollte ihn aber nicht auf den Verdacht ansprechen.

Ich hätte erwartet, dass mich seine Eltern begrüßt hätten, aber von ihnen war nichts zu sehen. Gab es Unstimmigkeiten? War es ihnen nicht recht, dass ich aufgekreuzt war?

Sie seien alte Leute, meinte Juan, die Arbeit falle ihnen zunehmend schwerer, sie hofften, dass ihre Söhne sie bei der Arbeit unterstützten, aber wie das so sei, nicht immer würden die Kinder den Ansprüchen der Eltern gerecht.

Ich wusste bislang so gut wie nichts über Juans Eltern. Als ich seinen Vater erstmals zu Gesicht bekam, hatte ich kein gutes Gefühl. Er war, wie viele Canarios, klein und gedrungen. Sein Gesicht war sonnenverbrannt und faltig. Er hatte Lücken im Gebiss und Schwielen an den Händen. Die Kleidung war derb und eher eine Nummer zu groß. Der Strohhut durfte nie fehlen und auch nicht die Zigarre. Er hatte den Stumpen auch bei der Arbeit im Mund. Es war eine einheimische Sorte. Das war harter Tobak!

Er grüßte nie, schien ständig zu lauern, ob sich Unbekannte bei ihm herumtrieben, und hatte einen Stock griffbereit, um fremde Hunde und Katzen zu verscheuchen. Wenn ihm etwas wider den Strich ging, verzog er missmutig seine Miene und ließ seine Zähne blecken. Den Besen allerdings nahm er grundsätzlich nie zur Hand. Das war Frauensache! Wenn es mit seiner Frau wieder einmal Ärger gegeben hatte, stieg er in seinen Landrover und fuhr in die Dorfbar. Er hatte immer Vorfahrt, nicht nur, wenn er einen über den Durst getrunken hatte. Der Führerschein war nur „un papel“ und lesen konnte er ohnehin nicht. Irgendwann hatte man ihm die Fahrerlaubnis entzogen. Er saß jedoch weiter hinter dem Steuer. Die örtliche Polizei drückte ein Auge zu. Einen Padron am Autofahren zu hindern, wäre einer Entmündigung gleichgekommen!

Ignazio Jesús Lugo de Rodrigo lautete der Name des Alten. Das mochte an Alonso Fernández de Lugo, den Eroberer Teneriffas, erinnern. Er war im Jahr vierzehnzweiundneunzig auf der Insel gelandet. Doch bevor er sie unter seine Kontrolle bringen konnte, erlitt er im Barranco von Acentejo eine schwere Niederlage. Es schien, als sollte man sich besser von der Insel fernhalten: Als zeitgleich Kolumbus auf seiner Reise in die Neue Welt an Teneriffa vorbei segelte, brach der Teide aus und versetzte die Mannschaft in Panik.

Lugo machte seinem Namensvetter alle Ehre. Er wirkte herrisch und gab in jeder Hinsicht die Richtung vor.

„Herr Lugo“ war als Anrede undenkbar. Der Alte war mit allen auf „du“. Das war auf dem Lande so üblich und sollte zum Ausdruck bringen, dass man miteinander gut Freund war. Wenn Lugo die anderen duzte, hieß das eher, dass sie ihm nicht gewachsen waren. In meinem Fall wurde aus Friedrich „Federico“. Das klang zumindest besser als „Fritze“, wie man mich in Lippe nannte!

Inzwischen hatte ich das eine oder andere über Lugos Vergangenheit erfahren. Er hatte als Helfer in einer Bananenplantage begonnen. Das war schlecht bezahlte Knochenarbeit. Wie viele der Inselbewohner hatte auch ihn die Armut in die Fremde getrieben. Die lippischen Bauern hatte es nach Nordamerika gezogen. Lugo war nach Venezuela gegangen. Südamerika war für ihn das wahre Amerika. Er verachtete die „Gringos“ aus dem Norden des Kontinents.

Er mochte auch die Festlandspanier nicht und stimmte bei den Wahlen für die kanarische Regionalpartei. Wenn die staatliche „Guardia Civil“ auftauchte, pflegte er lauthals zu fluchen und machte einen großen Bogen um die ungeliebten Ordnungshüter.

Lugo mochte überhaupt keine Fremden. Das galt sowohl für die Touristen als auch für die auf der Insel ansässig gewordenen Residenten: „Sie spielen sich als die neuen Herren auf, aber aus ihnen werden nie Canarios! Ihre Prachtvillen stehen an der Küste in erster Reihe. Die Canarios wohnen in öden Wohnblöcken im Hinterland und müssen ihre Kröten zählen.“

Die größten Vorbehalte hatte Lugo gegenüber den Flüchtlingen, die neuerdings aus Afrika auf die Insel strömten: „Sie haben hier nichts zu suchen. Sie treiben sich als fliegende Händler herum, verkaufen gefälschte Waren als Markenprodukte, handeln mit Drogen, stehlen und vergreifen sich an den einheimischen Mädchen.“

Lugo verglich sie mit Heuschrecken. Die Plagegeister waren gelegentlich auf seiner Finca aufgetaucht. „Hogpeerdken“ nennt man sie in Lippe. Die heimische Art ist klein und ungefährlich, aber in Afrika fressen die Tiere ganze Landstriche kahl. Obwohl sie wegen der Spiegelung ungern über Wasser fliegen, verdriftet es sie bei entsprechenden Windverhältnissen bis zu den Kanaren, was bislang jedoch als lokales Problem ohne Langzeitwirkung galt, denn die Tiere haben, aufgrund der ungünstigen Witterungsverhältnisse, keine Überlebenschancen.

Mit Juan kam ich auf Anhieb klar. Er war fleißig und willig, aber von Statur schmächtig, was nicht gerade die beste Voraussetzung für die harte Arbeit auf der Finca war. Er litt augenscheinlich unter der herrischen Art seines Vaters. Da half auch nicht, dass die Mutter wild zu keifen begann, wenn er seinen Sohn grundlos zurechtstutzte. Das Geschrei war bis zu meiner Kate zu hören. Ich wollte schlichten. Juan wehrte ab: „Der Alte lässt sich von niemandem etwas sagen!“

Juan ging seinem Vater aus dem Wege. Nach Feierabend verkroch er sich in eine Laube hinter dem Haus und nahm die Timple zur Hand. Die Canarios sind stolz auf das zierliche, lauten­ähnliche Saiteninstrument, aber viel Staat kann man mit dem Winzling nicht machen, denn in der Regel kommt er nur im Rudel mit Artgenossen zum Einsatz.

 

Die Laube war von blühender Bougainvilla umrankt. Es war ein prächtiger Anblick, aber die Töne, die Juan der Timple entlockte, klangen traurig. Er hielt sie liebevoll im Arm, als wäre sie sein Mädel. Ich hatte keine Ahnung, ob er eine Freundin hatte, aber wie es ausschaute, wirkte er eher wie ein Mauerblümchen. Offensichtlich gab es niemanden, der ihm Zuneigung schenkte.

Ihm blieben nur die Tiere. Für die Tauben hatte er eine Voliere gebaut. Wenn er sie freiließ, zogen sie im Schwarm über das Fincagelände, bis sie sich am Ende freiwillig wieder einfanden. Die Katzen hatten ihren Futter- und Wassernapf neben dem Küchen­eingang. Ansonsten kamen sie allein zurecht.

Die Hunde hatte Juan besonders in sein Herz geschlossen. Sie hatten ihre Behausung auf dem Flachdach des Wohnhauses. Dort konnten sie frei laufen und im Sommer schützte sie eine Hütte vor der gleißenden Sonne. Wenn sich ein Fremder näherte, begann ein ohrenbetäubendes Gekläffe und man musste befürchten, dass sie jederzeit über die Brüstung sprangen. Wenn Juan ihnen das Futter brachte, rief er sie einzeln beim Namen. Während des Fressens hockte er sich neben sie und sprach mit ihnen. Nach dem Füttern tollte er mit ihnen noch eine Weile herum.

Für Lugo waren die Tiere unverzichtbare Helfer. Wenn am Sonntag die Jagd anstand, packte er sie in den Landrover. Faida wollte nur zu gern mit. Ich hätte es ihr von Herzen gegönnt. Lugo hatte abgewinkt. Sie gehörte nicht zum Rudel!

Wenn er mit der Meute aufbrach, stand Juan verstohlen hinter dem Eingangstor der Finca und wartete, bis der Vater außer Sichtweite war. Dann ging er auf Fischfang. Es sah atemberaubend aus, wenn er auf den Klippen hockte und die Angel auswarf. Vor ihm gähnte der Abgrund und tief unten schlugen die Wellen haushoch gegen die schroffen Felswände. Nach seiner Rückkehr griff sich seine Mutter wortlos den Fang. Lugo gönnte ihm keinen Blick und meinte verächtlich: „Lohnt die Mühe nicht! Wenn du auf der Finca gearbeitet hättest, wäre mehr dabei herausgesprungen!“

Lugos Jagdrevier lag in den Bergen oberhalb der Fincas, wo der Bereich der Baumheide beginnt. Dort ließ Lugo die Hunde frei. Sie schwärmten kläffend aus, suchten bald hier bald dort nach einer Spur und wenn sie einen Kaninchenbau ausmachten, steigerten sie ihr Gebell und wedelten wild mit der Rute. Graben ließ es sich in dem felsigen Untergrund kaum, aber das Gebell versetzte die Kaninchen in Panik. Wenn sie in ihrer Not aus dem Bau stürzten und ihr Heil in der Flucht suchten, hetzte die Meute hinterher und packte zu. Anschließend mussten die Hunde die Beute bei Lugo abliefern. Der tötete das Tier mit einem gezielten Schlag in den Nacken und knüpfte es an seinen Gürtel. Die Hunde erhielten eine Belohnung aus der mitgeführten Jagdtasche.

Wenn ich bei den Jägern in Dalborn diese Jagdmethode zur Sprache brachte, staunten sie: „Duiwel auch! Ganz ohne Pulver und Blei?“

Ich hatte einen einschlägigen Artikel verfasst. Das Echo fiel unterschiedlich aus. „Uralte Jagdmethode und artgerechte Haltung!“, fanden manche. „Das Wild ist eine unverfälschte Nahrung und gesünder als die Billigware aus der Massenzucht!“, lobten die Ernährungsbewussten. Nur die Vegetarier hatten wieder einmal grundsätzlich gemault.

Hilde war aufgebracht: „Das Hetzen der Beute ist eine grausame Methode! Sie ist inzwischen weltweit verboten.“

„Darauf ist die Rasse gezüchtet“, wandte ich ein. „Wenn man diese Art zu jagen verbietet, stirbt ein angestammtes Erbgut am Ende aus.“

„Und wenn schon“, meinte sie. „Es gibt auch unter den Zwei­beinigen genug gnadenlose Jäger. Das kann man täglich in deiner Zeitung nachlesen!“

„Das stimmt!“, musste ich einräumen.

„Na also“, triumphierte sie. „Habe ich doch wieder mal Recht!“

Juans Bruder Carlos war aus einem anderen Holz geschnitzt als Juan. Er war großgewachsen und eine sportliche Erscheinung. Er hatte markante Züge und eine dunkle Lockenmähne. Hilde hatte einen solchen Typ in Teneriffa kennengelernt. Ich hatte mir seinen Namen nicht gemerkt, aber mir war, als hätte ich ihn jetzt vor mir!

Für mich hatte sein Aussehen etwas Bedrohliches. Er war am ganzen Körper stark behaart. Sein Gebiss war ausgeprägt und wenn er seinen Mund öffnete, schien es, als fletschte ein Wolf seine Zähne. Ich wurde die Furcht nicht los, dass mir von ihm Gefahr drohte.

Mein Eindruck hatte mich nicht getäuscht: Carlos war das schwarze Schaf in der Familie. Er zeigte keinerlei Interesse an der Landwirtschaft und ging keiner geregelten Arbeit nach. Niemand wusste, wovon er eigentlich lebte. Mir war aufgefallen, dass er häufig außer Haus war. Meist war er erst spät am Abend zurück. Juan meinte, er helfe bei einer Baufirma aus. Ich hörte heraus, dass mit der Firma etwas nicht stimmte. Auf Nachfrage wollte er nicht ausschließen, dass sie Geschäfte mit der Drogenmaffia machte.

Carlos ließ keine Gelegenheit aus, um Juan zu demütigen. Er nannte ihn einen „perdedor“, was soviel wie „Versager“ bedeutet, oder auch „nulidad“, was so viel wie „Niete“ heißt. Er verschonte auch die Tiere nicht. Er demolierte Juans Taubenvoliere und verprügelte die Katzen und Hunde. Er hatte es auch auf Faida abgesehen. Er musste sie auf derbe Weise verscheucht haben. Als sie nach stundenlangem Warten wieder aufkreuzte, wirkte sie völlig verstört. Carlos grinste mich höhnisch an. Faida knurrte böse zurück.

Unlängst hatte es erneut Streit zwischen Carlos und seinem Bruder gegeben. Carlos war ungehalten, weil er ihm angeblich nachspionierte.

„Wenn du ausplauderst, bist du dran“, fauchte er ihn an.

„Lass mich in Ruhe!“, beschwichtigte Juan. „Ich verpfeife keinen aus der Familie.“

„Das will ich dir auch raten!“, drohte Carlos. Dann gab er ihm mit der Faust einen derben Schubs vor die Brust. Juan torkelte und fiel zu Boden. Er wagte nicht, zu seinem Bruder aufzublicken. Carlos gab sich auch mir gegenüber ausgesprochen feindselig. Nahm er mir übel, dass ich mich auf Juans Seite schlug, wenn ich wieder einmal Zeuge wurde, wie er seinen Bruder demütigte, oder fürchtete er, dass ich etwas über seine Machenschaften herausbekommen könnte?

Carlos galt bei manchen Frauen als toller Bursche, aber seine Liebschaften hatten nie lang gehalten. Ich fragte mich warum. Hatte er kein wirkliches Interesse an Frauen? Munkelte man zu Recht, dass er schwul war? Warum war er dann mit Lucia Bencomo liiert? Was versprach er sich von ihr? Ging es ihm um Ansehen und Wohlstand?

Dafür sprach einiges: Lucias Vater war Geschäftsführer eines renommierten Restaurants in Puerto de la Cruz und sie dessen Sekretärin. Sie war sich ihrer Stellung bewusst und gewohnt, hofiert zu werden. Entsprechend mondän war ihr Aufzug. Sie hatte ein aufwändiges Make-up, trug luftige, mit Stickereien durchsetzte Kleider, die ihre Körperformen unverhohlen betonten, und dazu hochhackige, zierliche Stöckelschuhe. Besonders kess wirkte ein ausladender Hut, an dem eine knallrote Hibiskus-Blüte befestigt war. Sie erinnerte mich an die sogenannte „Feuerblume“, die sich die Mädchen ansteckten, wenn sie sich mit den jungen Burschen zum Tanz einfanden. Lucia war nicht nur ein kapriziöser Typ, sie hatte auch ein ausgefallenes Hobby. Wie Carlos war auch sie Mitglied im örtlichen Klub der Paraglider. Wenn sich die beiden von den Steilhängen in die Lüfte schwangen, wetteiferten sie, wer von ihnen länger in der Luft blieb. Meist war er besser. Sie konnte das nur schwer ertragen.

„Glaub bloß nicht, wir Frauen könnten nicht mithalten!“, ereiferte sie sich. „Warte nur, beim nächsten Mal bin ich besser!“

„Sieh lieber zu, dass du heil runterkommst!“, gab er spöttisch zurück. Sie konnte nicht ahnen, auf welche Weise sich das später bewahrheiten sollte!

Es war offensichtlich, dass sich die beiden nicht verstanden. Ich hatte mitbekommen, dass sie sich heftig stritten. Ich hörte, wie er sie auf die übelste Weise beschimpfte. Sie gab keineswegs klein bei und fauchte ihn an, er sei kein richtiger Mann und sie habe endgültig die Nase voll.

Auf Lugos Finca kreuzte sie nur gelegentlich auf. Man sah ihr an, dass sie sich dort nicht wohlfühlte. Wenn Lugo ihr begegnete, warf er ihr einen verächtlichen Blick zu und ging danach wortlos seines Weges.

„Das Mädchen sitzt auf dem hohen Ross!“, hatte er gewettert. „Für sie sind wir arme Schlucker! Aber ich bin der Vater und habe ein Wort mitzureden, wenn es um die angehende Frau meines Sohnes geht! Die jedenfalls kommt überhaupt nicht infrage!“ In seinen Augen war sie vom gleichen Schlag wie die biblische Eva, die Adam zum Frevel verführt hatte, und Carlos ein vom Satan besessener Sünder.

Ich traute Carlos nicht über den Weg: Ich fragte mich, ob er mich im Terminal ausgespäht und anschließend im Taxi verfolgt hatte. Der Unbekannte hatte einen Koffer vom Band gezogen, aber das musste nicht heißen, dass er zu den Passagieren gehörte. Carlos konnte problemlos in die Abfertigungshalle gelangen. Sie gehörte nicht zum Sicherheitsbereich.

Zudem beschlich mich der Verdacht, dass er in den Mord im Barranco Ruiz verwickelt sein könnte. Bislang war mir nur bekannt, was das „Wochenblatt“ zu dem Fall hatte verlauten lassen. Die Zeitung informierte deutsche Urlauber über das aktuelle Geschehen, machte sie mit dem Leben auf Teneriffa vertraut und gab einschlägige Tipps über Hotels und Ausflugsziele. Mein Chef hatte mir dringend ans Herz gelegt, Kontakt mit dem Herausgeber aufzunehmen.

Die Suche nach dem Täter sei noch in vollem Gange, hieß es in dem Blatt, und auch über die Identität des Toten lägen noch keine Erkenntnisse vor, da er keine Papiere bei sich getragen habe. Um einen Raubmord könne es sich indes nicht handeln: Alle Wertsachen seien noch vorhanden gewesen.

Wanderer hatten die Leiche in einem Gebüsch entdeckt. Der Anblick war grauenhaft: Der Tote hatte in einer Blutlache gelegen. Seine Augen waren weit aufgerissen, als habe er den Mörder noch immer vor sich, und seine Hände verkrampft, als ob er sich noch immer gegen den Angreifer wehren wollte. Die Leiche war grässlich verstümmelt. Am Schädel und im Nackenbereich wies sie tiefe Stichwunden auf, die von einer Machete zu stammen schienen. Demnach musste es sich bei dem Täter um einen Einheimischen handeln.

Man hatte die Machete in der Nähe des Tatortes gefunden. Dass der Täter sie aus Achtlosigkeit liegengelassen hatte, war auszuschließen, musste er doch befürchten, dass sie ihn verraten würde. Wurde er überrascht, war sie ihm auf der Flucht aus der Hand geglitten? Dann aber hätte er sie schleunigst wieder an sich bringen müssen! Wollte er, dass man sie findet, und warum?

Das Opfer verkehrte angeblich in einem Gayclub in Puerto de la Cruz. Der Club befand sich in der Avenida Betancourt y Molina. Die Straße lag unweit der Strandpromenade und war das Zentrum der Schwulenszene. Man munkelte, dass dort auch mit Drogen gehandelt wurde.

Zeugen wollten bemerkt haben, dass Carlos am Eingang des Clubs mit jemandem in Streit geraten war. Es war zu diesem Zeitpunkt bereits dunkel und der Ort des Geschehens so gut wie unbeleuchtet, sodass es sich nicht sagen ließ, wer der andere war.

Die Ermittler gingen davon aus, dass es sich um die gleiche Person handelte, die im Barranco Ruiz tot aufgefunden wurde. War das ein mit Carlos befreundeter Schwuler? Wusste er von seinen Machenschaften? Wollte er Carlos erpressen? Hatte Carlos ihn deshalb beseitigt?

Lugo schwor heilige Eide, dass Carlos mit dem Mord nichts zu tun habe, denn sein Sohn sei zum Zeitpunkt der Tat nachweislich zu Hause gewesen.

Was sollte ich sagen? War das ein stichhaltiges Alibi? Wenn es um die Ehre der Familie ging, mochte Lugo jedes Mittel recht sein!

Dann aber fand man an der Tatwaffe auch Spuren von Lucia. Als man sie ins Verhör nahm, wies sie jeden Verdacht weit von sich. Zur Tatzeit war sie angeblich oberhalb des Playa Socorro mit ihrem Gleitschirm aufgestiegen. Außer einem Sportkameraden, der sie begleitet hatte, gab es allerdings keine Zeugen. Dass es an der Machete Spuren von ihr gab, war angeblich nicht verwunderlich. Sie hatte die Machete gelegentlich in der Hand gehabt, was jedoch nicht heißen wollte, dass sie den Mord begangen hatte.

Nachträglich hatte man in der Nähe des Tatortes auch ein Etui mit Schminkutensilien gefunden. Carlos benutzte nachweislich keine Schminke. Als man auf dem Etui Spuren von Lucia fand, räumte sie ein, dass es ihr gehörte. Sie trug es angeblich immer bei sich. Vermutlich war es ihr bei einem Flug mit dem Paraglider abhandengekommen.

 

Ich fragte mich, warum Lucia den Mord begangen haben sollte. War es eine Eifersuchtstat? Aber warum hatte sie nicht Carlos, sondern dessen Liebhaber umgebracht? Wollte sie Carlos verschonen? Liebte sie ihn doch? Hoffte sie, ihn zurückgewinnen zu können?

Zum anderen fragte ich mich, ob eine Frau überhaupt in der Lage war, mit einer Machete umzugehen. Lucia war ein sportlicher Typ, aber es bedurfte doch einer merklichen Kraftanstrengung, um einen Menschen damit zu töten! Warum hatte sie nicht zu Gift gegriffen?

Ich sprach Juan an. „Glaubst du, dass dein Bruder den Mord begangen hat?“

Er nickte.

„Wie kommst du darauf!“

„Ich habe gesehen, dass sich Carlos zur fraglichen Zeit auf den Weg zum Barranco Ruiz gemacht hat!“

Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich von der Schuld seines Bruders überzeugt war. Wollte er ihn hinter Gitter bringen, um ihn endlich loszuwerden? Das wollte ich ihm eher nicht unterstellen. Das war ganz und gar nicht seine Art!

„Bist du bereit, das vor Gericht zu bestätigen?“

Er winkte ab: „Ich verpfeife meinen Bruder nicht!“

Ich wunderte mich, dass Juan bei seiner Vernehmung dann doch aussagte, was er beobachtet hatte. Hatte Lucia ihn unter Druck gesetzt? Ich wollte das nicht ausschließen, aber womit sollte sie Juan in der Hand haben?

Die Ermittler wussten nicht, wem sie Glauben schenken sollten. Unter diesen Umständen musste man Lucia und Carlos, wenn auch unter strengen Auflagen, vorläufig wieder auf freien Fuß setzen. Lucia triumphierte. Carlos schäumte vor Wut: „Dass Juan mich zur Tatzeit im Ruiz gesehen haben will, ist erlogen! Das ist die Rache eines Schwächlings! Dem werde ich es noch zeigen!“

Ich fragte mich, ob ich mich hätte einmischen sollen. Ich hätte den Ermittlern mitteilen können, was ich über Carlos und Lucia wusste, aber auch ich war mir nicht sicher, wer von den beiden den Mord begangen haben könnte. Im Grunde geht dich das nichts an, sagte ich mir. Was Sache ist, müssen die Ermittler herausfinden!

Carlos ließ sich kaum blicken. Lugo wollte wissen, was Sache war. Er hatte sich zur Schlafkammer seines Sohnes aufgemacht. Carlos lag im Bett und rührte sich nicht. Lugo rüttelte ihn wach. Sein Sohn blickte ihn mit glasigen Augen an.

„Steh endlich auf!“, herrschte Lugo ihn an.

Carlos rührte sich noch immer nicht. Lugo zog die Bettdecke weg. Carlos raffte sich mühsam auf und torkelte schwankend auf seinen Vater zu.

„Hast du wieder das Zeug genommen?“, fauchte Lugo ihn an.

Carlos stierte ihn böswillig an, stieß einen wilden Fluch aus und es hatte den Anschein, als wollte er sich auf Lugo stürzen.

Auch Juan hatte Verdächtiges festgestellt: Er führte mich zu einem verwilderten, von Kakteen und Wolfsmilchgewächsen überwucherten Bereich der Finca. Dort tat sich ein Hohlraum auf, der sich vor Urzeiten in den glühenden Lavamassen gebildet hatte. Ich war sowohl von den Ausmaßen als auch vom Aussehen der Kaverne beeindruckt. Das ineinander verkeilte Deckengestein wirkte wie die Kuppel einer Kathedrale und die aus den Wanddurchbrüchen strömenden Sonnenstrahlen versetzten den Raum in ein sanftes Dämmerlicht.

Auf dem Boden waren Felsbrocken zu einer Feuerstelle aufgeschichtet. Verkohltes Holz deutete darauf hin, dass man vor nicht allzu langer Zeit ein Feuer entzündet hatte. Am hinteren Ende mündete die Kaverne in einen Gang, der sich angeblich bis weit in das Innere des Berges erstreckte und an einer Meeresbucht unterhalb von Lugos Finca mündete. Nachdem sich vor Jahren zwei Kinder in dem Höhlensystem verirrt hatten und danach nicht mehr aufzufinden waren, hatte man den Zugang zu der Kaverne mit einem schweren, eisernen Tor verschlossen, aber unlängst war Juan aufgefallen, dass man es aufgebrochen hatte.

Er war auf Lauer gegangen und hatte beobachtet, dass Carlos durch das Gelände schlich.

„Hast du eine Ahnung, was er dort vorhatte?“, wollte ich wissen.

„Nein, aber mit Sicherheit nichts Gutes!“

„War er allein?“

„Da war noch eine andere Person dabei.“

„Hast du sie erkannt?“

„Nein! Dafür war es bereits zu dunkel. Zunächst dachte ich, es sei Lucia, aber von der Stimme her, muss es ein Mann gewesen sein.“

War das ein Kumpan? Wollten sie Geld oder Drogen in der Höhle verstecken oder handelte es sich um Houseman oder Tötemeier?

„Du erinnerst dich, dass uns am Flughafen ein Taxi gefolgt ist!“, pirschte ich mich vorsichtig vor.

„Ach was, das will nichts heißen!“

„Vielleicht doch! Es gibt Leute, die hinter mir her sein könnten. Kann sein, dass sie sich in meiner Nähe aufhalten. Hast du bemerkt, dass sich Fremde in der Gegend herumtreiben?“

„Nicht dass ich wüsste! Die Hunde melden sofort, wenn ein Fremder auftaucht!“

Tags darauf hatte ich Hilde im Hörer. „Ich muss dir unbedingt mitteilen, was sich vor deiner Abreise getan hat!“, sagte sie. „Vielleicht hat das mit deiner Vermutung zu tun, dass jemand hinter dir her ist. Ich hätte dir das früher mitteilen können, aber seinerzeit konnte ich das noch nicht wissen.“

Sie war im Kurpark von Bad Salzuflen. Sie brauchte Entspannung. Sie musste mal raus und auf andere Gedanken kommen. Sie war durch die Anlagen gebummelt, hatte sich an der Pracht der Blumenbeete und der alten Baumbestände erfreut, hatte die Teiche, Wasserfälle und Springbrunnen bestaunt, hatte in der Wandelhalle das Heilwasser getrunken und anschließend unter dem Kupferdach der Rotunde Platz genommen und dem Gesang der Vögel gelauscht.

„Alles wirkte so friedlich“, meinte sie, „aber dann klingelte mein Handy. Ich dachte, du wärst es, doch es meldete sich ein Unbekannter. Er gab sich als Mitarbeiter der Detmolder Polizei aus. Dass er seinen Namen nicht nannte, machte mich auf Anhieb misstrauisch. Er habe eine wichtige Mitteilung für dich, sagte er. Die Sache sei vertraulich. Doch er habe dich weder in Dalborn noch an deiner Arbeitsstelle angetroffen. Als er wissen wollte, wo du dich zurzeit aufhältst, hatte ich den Eindruck, dass er mich aushorchen wollte, und gab zu verstehen, dass ich nicht gewillt war, Auskunft zu erteilen.“

„Gut zu wissen“, sagte ich. „Du solltest Dunkelmann verständigen!“

„Mach du das!“, sagte sie.

Ich ließ es bei ihm läuten. Er roch umgehend Lunte: „Der Anrufer war nicht von der Polizei. Dort weiß man, wo Sie sich zurzeit aufhalten. Es war richtig, dass sich Ihre Frau bedeckt gehalten hat!“

Unkenrufe

Auf dem Gipfel des Teide lag noch Schnee, aber hier unten grünte und blühte es allenthalben. In Lippe herrschte noch tiefster Winter. Es würde noch eine Weile dauern, bis man die vom Frost gebeutelten Beete abräumen und sich in den Gartenmärkten mit Primeln und anderen hartgesottenen Frühsorten eindecken würde. Hier wurde bereits geerntet. In wenigen Monaten würde die nächste Pflanzperiode beginnen.

Die Bauern in Dalborn hätten gestaunt: „Drei Ernten im Jahr? Wie ist das möglich?“

Aber von allein wachse auch auf der Insel nichts, hätte ich sagen können. Die Campesinos müssten noch zu Hacke und Schaufel greifen, denn moderne Landmaschinen kenne man kaum.

Das Wichtigste war die Wasserversorgung. Die schmalen, wegen der Hanglage terrassenförmig angelegten Beete waren mit ausgeklügelten Bewässerungssystemen ausgerüstet. Früher floss das Wasser durch gemauerte Kanäle. Inzwischen strömte es aus Plastikrohren. Im Sommer wurde das Wasser knapp. Wenn der im Winter in der Balse gespeicherte Vorrat nicht reichte, musste für teures Geld nachgekauft werden. Lugo hatte die Leitungen der Nachbarn angezapft. Er war ein gottesfürchtiger Mensch, aber für ihn gehörte das zu den lässlichen Sünden, die der Herr den Seinen verzeiht.

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