X-World

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„Die Welt, in der wir leben, ist ein zwiespältiger Ort“, begann Ron. „Einerseits haben wir eine wunderschöne Natur, jedenfalls dort, wo sie noch intakt ist. Es gibt eine faszinierende Pflanzenwelt, Tiere von den kleinen Ameisen bis zu den riesigen Braunbären, wunderbare Sonnenuntergänge, den Mond und die Sterne.“

Er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen die Wirbelsäule entlanglief.

Was rede ich da für einen Stuss, dachte er, ich hätte mir das vorher aufschreiben sollen. Er blickte in die Gesichter seiner Mitarbeiter, aber er sah keine Spur von Spott darin, einige nickten leicht, einige sahen überrascht aus, aber alle wirkten interessiert.

„Und dann wir Menschen. Auf der einen Seite gibt es so wunderbare Dinge wie Liebe und Zärtlichkeit, Freundschaft und Vertrauen in unserem Leben, andererseits erleben wir Hass und Eifersucht, Kriminalität und eine unaufhaltsame Zerstörung dieser wunderbaren Welt.

Wie wäre es, wenn man noch einmal neu anfangen könnte, wenn die Menschen, die sich zu Tausenden in den Asphaltwüsten unserer Städte drängen und einander nur mit Misstrauen begegnen, plötzlich in eine paradiesische Welt versetzt würden? Ein einfaches Leben, umgeben von intakter Natur, ein freundliches Miteinander, das wäre doch Balsam für die vielen Gestressten in unserer Zeit. Und wahrscheinlich würde es ihr Leben verändern, solche Erfahrungen zu machen. Davon träume ich. X-World ist mehr als ein Spiel, es ist eine Philosophie, ein Lebensstil, eine … eine andere Welt eben.“

Ron trank einen Schluck, dann fuhr er fort:

„Ich glaube an das Gute im Menschen. Ich glaube, dass der Mensch von seiner Natur her gut ist, aber dass die Umstände, in denen viele gezwungen werden zu leben, dieses Gute unterdrücken. Ändern wir die Umstände, so ändern wir die Menschen.

Das klingt einfach, aber die Geschichte hat gezeigt, dass es alles andere als einfach ist, die Umstände zu verändern. Doch nun haben wir ein ganz neues Werkzeug in der Hand. Wir sind jetzt in der Lage, eine virtuelle Realität zu schaffen, deren Eindruck so intensiv ist, dass die Unterscheidung zwischen Realität und virtueller Welt schwerfällt – ja, auch nicht mehr sinnvoll ist. Wenn ich in X-World online gehe und dort eine Freundschaft mit einem anderen Menschen pflege, wenn wir gemeinsam schöne Dinge erleben und vertrauliche Gespräche führen, dann ist das mehr als Virtualität, dann ist das ein Teil meines Lebens und wird mich nachhaltig positiv beeinflussen.

Wir sind diejenigen, die die Umgebung für diese neuen Erfahrungen erschaffen – und deswegen ist es unsere Aufgabe, dies so detailgetreu und liebevoll wie möglich zu tun. Pfusch würde der Idee entgegenstehen. Was wir brauchen, ist Exzellenz. Eine Welt, die schon durch ihre Harmonie und Perfektion das Gute im Menschen anregt.

Unsere Herausforderung besteht darin, dies im gegebenen Zeitrahmen zu schaffen. Und das funktioniert nur, wenn wir uns im Team blind aufeinander verlassen können. Eine Gruppe, in der Misstrauen und Streit herrschen, kann keine Welt der Harmonie hervorbringen. Wenn die Entwickler sich von Neid und Konkurrenzdenken beherrschen lassen, dürfen sie nicht erwarten, dass ihr Produkt die Menschen zum Frieden inspiriert. Es liegt eine große Aufgabe vor uns. Ich freue mich darauf, sie gemeinsam mit Euch anzupacken. Danke für Eure Aufmerksamkeit.“

Ron setzte sich und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. Er schwitzte und fühlte sich wie nach einem Tausendmeterlauf. Besser konnte er nicht zum Ausdruck bringen, was ihn bewegte. Vorsichtig sah er in die Runde. Seine Mitarbeiter schwiegen nachdenklich.

Die Sekunden dehnten sich, die Zeit fühlte sich wie Sirup an, und Ron wusste nicht, was er tun sollte. Hatte er die Techniker mit seinen philosophischen Ideen überfordert? War es nicht vermessen, was er da gesagt hatte? Herrgott nochmal, sie sollten ein Computerspiel programmieren, und er machte ein Programm zur Weltverbesserung daraus.

Ein donnerndes Geräusch riss ihn schließlich aus seinen Gedanken. Zwanzig Männer und Frauen klopften mit den Knöcheln auf die Tischplatte. Ihre Gesichter strahlten, zeigten Zuversicht und Bereitschaft. Die Arbeit konnte beginnen.

7. X-WORLD GEHT EIGENE WEGE

Lutz Singer musste nicht lange warten. Zwei Tage nach seiner Rückkehr aus Frankfurt brachte ihm der Paketdienst die ersehnte Lieferung. Lutz quittierte den Empfang und zog sich mit dem Paket wieder in seine Privatgemächer zurück, die er, angeblich wegen einer Grippe, in den letzten Tagen nicht mehr verlassen hatte. Dank Tanja lief das Bit & Bytes bestens, und er hatte jetzt Wichtigeres zu tun.

Sich in ein Programm hineinzudenken, das jemand anderes verfasst hat, ist ein hartes Stück Arbeit, doch Lutz kannte Rons Handschrift, und so fand er sich einigermaßen schnell zurecht. Bislang aber hatte ihm das Cyberkit gefehlt, um X-World wirklich testen zu können. Er hatte sich lediglich einen theoretischen Überblick verschaffen können.

Ungeduldig schnitt er den Karton auf, warf das Verpackungsmaterial achtlos in eine Ecke und zog den mattschwarz schimmernden Cyberstar 3 heraus. Beeindruckt betrachtete er ihn von allen Seiten, legte ihn behutsam beiseite und befreite das Zubehör aus seinen Päckchen. Die Anschlüsse waren selbsterklärend, und so machte er es sich kurz darauf in seinem Fernsehsessel mit Helm, Handschuhen und Gamaschen bequem. Gespannt startete er X-World.

Die optische Qualität beeindruckte ihn. Das hier war wirklich etwas Besonderes. Staunend befühlte er Bäume und Blätter und lauschte auf die Geräusche des Urwaldes. Eines war ihm sofort klar: Mit diesem Spiel konnte man Millionen verdienen – wenn man es richtig anstellte.

„Tja Ron, dies wäre deine Chance gewesen – zu dumm, dass X-World schon bald für jedermann kostenlos im Internet erhältlich sein wird“, lachte er schadenfroh, während er sich einen Weg durch die üppige Vegetation bahnte. Plötzlich hörte er eine Stimme.

„Wer ist da? Yannick, bist du es?“

Er drehte sich um. Vor ihm stand eine wunderschöne junge Frau. Schlank, blond, mit ausdrucksvollen dunkelbraunen Augen. Sie trug etwas, das wie ein selbstgeflochtener Bikini aussah. Aufmerksam sah sie zu ihm herüber.

„Hallo, ich bin Betty!“

„Oh, äh, ich heiße Lutz“, antwortete er und fühlte sich für einen Moment schuljungenhaft verunsichert.

„Du bist neu hier, stimmt’s?“, fragte sie freundlich.

„Ja, das ist richtig.“

„Soll ich dir alles zeigen?“

„Das wäre sehr freundlich.“

„Dann komm mit!“, sagte sie lächelnd und sprang davon.

Lutz hatte Mühe, ihr zu folgen. Mit kindlicher Freude zeigte sie ihm die Bäume und Tiere, ließ ihn an einer Blume schnuppern, freilich ohne Erfolg, und führte ihn an die Stellen mit besonders guter Aussicht.

„Wie gefällt es dir?“, fragte sie, als sie oben auf einer Klippe mit einem herrlichen Blick über die Ebene saßen.

„Nicht schlecht – aber wo kann man sich denn hier amüsieren?“, fragte Lutz.

„Wie meinst du das?“

„Naja, dieser Garten ist ja ganz hübsch, aber für einen einsamen Mann auf die Dauer doch etwas eintönig. Wo sind die Bars, die Musik, die Mädchen?“

„Ich bin ein Mädchen“, sagte Betty unsicher.

„Das stimmt“, nickte Lutz und ließ seine Augen über ihren ebenmäßigen Körper wandern.

„Warum hast du eigentlich diese komischen Dinger an?“, fragte er mit rauer Stimme, und es kostete ihn Mühe, ihr die geflochtenen Kleidungsstücke nicht vom Leib zu reißen. Er verstand selbst nicht, warum er es nicht einfach tat, schließlich war hier alles nur virtuell, er konnte tun und lassen, was immer er wollte, ohne dass es irgendwelche Folgen hatte.

„Mir schien es irgendwie richtig“, gab sie unsicher zurück.

„Seit diesem – Vorfall“, sie zögerte, „fühle ich mich so … nackt und … ich glaube, ich gehe jetzt besser“, fügte sie hinzu. „Wir sehen uns bestimmt bald wieder.“

„Ja, das denke ich auch“, antwortete Lutz und gab sich keine Mühe, die Gier in seiner Stimme zu verbergen.

****

Die Arbeit bei PSA, wie die Mitarbeiter der „Prometheus Software AG“ ihre Firma intern nannten, ging zügig voran. Es waren allesamt fähige und kreative Köpfe, die Gerhardt Fleischmann da zusammengebracht hatte, und Ron fragte sich, wie ihm das gelungen war, denn er hatte selbst erlebt, wie schwierig es war, auch nur einen guten Mitarbeiter zu finden.

Auf das anfängliche Angebot, sein Team von Berlin aus zu führen, ging er nicht ein. Wozu? Was sollte er in seiner Wohnung? Hier hatte er Menschen um sich, die seine Sprache sprachen, seine Begeisterung teilten und seinen Lebensstil nicht infrage stellten. Eigentlich gab es für ihn nur noch einen Grund, die Brücken nach Berlin nicht vollständig abzubrechen, und das war Jonte. Und Lisa natürlich. Er seufzte.

Ein kurzes Klopfen an seiner Bürotür riss ihn aus seinen Gedanken. Michael Konrad, Teamleiter bei PSA und inzwischen fast ein guter Freund, kam herein.

„Störe ich?“, fragte er.

Wie immer lag ein lausbubenhaftes Grinsen auf seinem Gesicht. Er trug die gleiche runde Brille wie John Lennon, aber seine Haare waren nur wenige Millimeter lang und stachelten in alle erdenklichen Richtungen von seinem Kopf weg.

Ron kannte Michael mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass diese „Frisur“ hauptsächlich praktische Gründe hatte. So brauchte er nichts zu kämmen, hatte keine störenden Haare im Gesicht, alle paar Wochen einmal scheren und fertig.

Unter den Haarstoppeln wohnte ein klarer, geradezu genialer Sachverstand. Ron und er hatten sich von Anfang an verstanden.

„Wir haben gerade darüber diskutiert, ob es in X-World Kontinente geben sollte“, sagte er zur Ron, „je nachdem, wie viele Spieler wir bekommen, wäre es gar nicht schlecht, wenn man einige voneinander getrennte Welten hätte.“

 

„Aber sie können miteinander nicht in Kontakt kommen“, sagte Ron. „Die Spieler haben keine Technik zur Verfügung.“

„Das brauchen sie auch nicht“, erwiderte Michael. „Aber ich meine – mit wie vielen Usern rechnest du?“

Ron zuckte die Achseln. Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. „Ein paar Millionen werden es hoffentlich schon werden“, meinte er vage.

„Ich denke, wir sollten das Spiel für 50 Millionen auslegen und uns noch Erweiterungsmöglichkeiten offen halten“, sagte Michael bestimmt. „Wenn man sich mal die Zahlen anschaut, die populäre Games so bringen, finde ich das realistisch. Und da wir ja keine Großstädte wollen, brauchen wir viel Platz. Daher die Idee mit den Kontinenten. Wenn wir später mal zusätzliches Land benötigen, geben wir einfach einen weiteren Kontinent frei. Wer weiß, vielleicht entwickelt sich im Laufe der Zeit ja doch eine gewisse Technik – dann könnten sich ein paar Abenteurer aufmachen und Amerika entdecken.“

Er sprühte geradezu über vor Begeisterung. Es war schwer, sich dem zu entziehen – und Ron wollte es auch gar nicht. Er genoss es, nicht der alleinige Motor des Projekts zu sein, der andere ständig inspirieren und antreiben musste.

„Ich finde die Idee wirklich gut“, sagte er. „Aber wir dürfen uns vor dem Spielstart nicht verzetteln. Konzentriert euch fürs Erste auf unser Ausgangsland. Dort möchte ich alles so realistisch und detailgetreu wie möglich haben. An weiteren Kontinenten können wir auch nach der Markteinführung noch arbeiten.“

Michael grinste. „Noch drei Wochen“, lächelte er.

„Ja“, bestätigte Ron und versuchte seine Nervosität zu unterdrücken. „Noch drei Wochen.“

Sie – das heißt Gerhardt Fleischmann – hatten den Termin mit Bedacht gewählt. Vor einer Woche war der Cyberstar 3 auf den Markt gekommen, und zeitgleich hatten sie die Werbung für X-World anlaufen lassen. Der Firmengründer hatte entschieden, dass es das Beste sei, die Kunden ein wenig zappeln zu lassen. Seine Strategie war einfach: Er wollte die Werbung von Woche zu Woche steigern und dann die Spieleinführung wie eine Erlösung wirken lassen. Ron hatte sich widerspruchslos diesem Plan angeschlossen. Er selbst war kein Geschäftsmann und hatte den Eindruck, dass Gerhardt Fleischmann genau wusste, was er tat.

Der Zeitplan, der sich daraus für Ron und sein Team ergab, war knapp, aber durchaus zu bewältigen – solange keine größeren Probleme auftauchten, was er jedoch für unwahrscheinlich hielt. Auf ihrer To-do-Liste standen jetzt nur noch Kleinigkeiten. Davon gab es allerdings mehr als genug.

„Also, ich geh dann mal wieder“, sagte Michael fröhlich. Ron war sich gar nicht bewusst, dass er immer noch in seinem Büro stand.

„Ja, gut“, sagte er zerstreut, „wir sehen uns zum Mittagessen.“

In diesem Moment stürmte Kathrin ins Büro. Ihre braunen Locken wippten.

„Ihr werdet es nicht glauben“, keuchte sie, sichtlich außer Atem. „Ron, ich habe dir eben einen Link geschickt, den musst du dir ansehen! X-World ist online!“

„Wie bitte?“ Ron sah sie entgeistert an. Mit einer ungeduldigen Handbewegung zeigte sie auf seinen Computer. Ron setzte sich, öffnete den Link und fand sich in einem Gamerforum wieder.

„Hackerrekord“, las er. „Meist dauert es etliche Wochen, bis ein neues Game kostenlos verfügbar ist, weil freundliche Zeitgenossen den lästigen Kopierschutz entfernt haben. Dieser Hack aber ist rekordverdächtig: Schon drei Wochen vor dem offiziellen Spielstart kann X-World kostenlos gespielt werden. Hier geht es zum Download.“

Ron folgte dem Link und wurde blass. Der Zähler auf der Seite stand schon bei über 20.000 Zugriffen.

„Das darf nicht wahr sein“, murmelte er. „Wie ist das nur möglich?“

„Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung“, sagte Kathrin kalt. „Einer von uns muss dahinterstecken.“

„Wer es auch ist, wir werden ihn kriegen“, knurrte Michael grimmig. „Hast du die IP-Adresse überprüft? Wo steht der Server?“

„Irgendwo in Singapur, würde ich sagen. Keine Chance, da heranzukommen.“

„Na warte, wenn ich den Kerl in die Finger bekomme … Wer kann das bloß gewesen sein?“

„Tobias vielleicht? Er ist sowieso eher ein Außenseiter …“

„Hört auf damit!“, sagte Ron so bestimmt, dass die beiden zusammenzuckten. „Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Team auseinanderfällt, weil jeder jeden verdächtigt. Außerdem könnte noch ein ganz anderer infrage kommen – ich habe da so eine Ahnung, aber dafür müsste ich überprüfen, welche Version im Internet herumgeistert. Laden wir sie doch erst mal herunter.“

Ron beugte sich über seine Tastatur und startete den Download. Michael sah ihm über die Schulter. „Au Mann, wie langsam geht das denn? Da kannst du ja jedes Bit per Handschlag begrüßen!“

„Entweder der Server taugt nichts, oder es laufen Hunderte von Downloads parallel“, sagte Ron. „Wir müssen etwas unternehmen. Wenn das so weitergeht, ist unsere Firma pleite, noch bevor wir an den Markt gehen.“ Er griff zum Telefon. „Ich werde Gerhardt Fleischmann informieren.“

„An deiner Stelle würde ich mir das gut überlegen.“ Erstaunt blickten beide Männer auf Kathrin. „Ich arbeite schon etliche Jahre mit ihm zusammen, und glaub‘ mir, du willst nicht, dass er es weiß. Wir müssen einen anderen Weg finden.“

****

Yannick funktionierte in diesen Tagen rein mechanisch – er kam sich vor wie ein Bot. Wenn er Schicht hatte, spulte er seinen Dienst an der Tankstelle ab, ging schlafen, wachte auf, aß kaum und hatte bei allem, was er tat, den Eindruck, sich selbst zuzuschauen. Den Bezug zur Zeit hatte er längst verloren. Sein Knie schmerzte nicht mehr, und der Bluterguss war blasser geworden, daraus schloss er, dass sein Versuch, auf das Geländer der Eisenbahnbrücke zu klettern, schon einige Tage zurücklag.

Es war schon in Ordnung, dass er den Sprung vermasselt hatte, so ein Abgang wäre dann doch zu billig gewesen. Aber dies hier war auch nicht wirklich ein Leben. Da war ja eine Pflanze lebendiger als er. Er musste einen Weg finden, um aus diesem emotionalen Loch wieder herauszukommen.

Yannick kramte seine Jacke aus einem großen Stapel Wäsche heraus und machte sich auf den Weg zum Bit & Bytes. Allmählich sollte Lutz doch wohl mit seiner Grippe durch sein.

War er aber nicht. Tanja stand hinter dem Tresen. Als sie ihn hereinkommen sah, lächelte sie. „Hallo Yannick, lange nicht gesehen! Ich hab schon gedacht, dir wäre was passiert!“

Er sah sie erstaunt an. Seit wann gab es Menschen, die sich um ihn sorgten?

„Nee, gar nichts ist passiert. Ich hab gearbeitet.“

„Ach so.“ Tanja sah nicht sehr überzeugt aus. „Kaffee?“ „Ja, gerne!“

Tanja stellte einen Becher vor ihm auf den Tresen.

„Ist Lutz immer noch krank?“

„Keine Ahnung. Er hat sich lange nicht bei mir gemeldet. Ich hoffe nur, dass er noch lebt und mir meinen Lohn pünktlich zahlen kann.“ Yannick erschrak. „Meinst du, ihm könnte was passiert sein?“ „Keine Ahnung, aber wenn, dann würden wir es als Erste erfahren, oder nicht?“

Er sah sie nachdenklich an und schwieg.

„Vielleicht arbeitet er auch an einem neuen Projekt“, versuchte Tanja das Gespräch am Leben zu halten. „Jedenfalls scheint er im Haus gewesen zu sein. Gestern habe ich im Papiercontainer einen Karton von einem CS 3 gesehen.“

„Wird der denn schon verkauft?“

„Sag mal, du kriegst wohl gar nichts mehr mit? Schon seit zwei Wochen! Und dieses Spiel, für das sie so groß Werbung gemacht haben …“

„X-World?“

„Ja genau. Hast du nicht sogar mal daran mitgearbeitet?“

„Ja – aber das ist vorbei. Was ist damit?“

„Es ist eine gecrackte Version herausgekommen, noch vor dem offiziellen Verkaufsstart. Das ist Rekord. Wahrscheinlich hat einer der Mitarbeiter …“

„X-World ist online?“ Yannick richtete sich so heftig auf, dass er beinahe vom Barhocker gefallen wäre.

„Klar, schon seit Tagen! Blöd nur, dass man diesen Cyberhelm braucht, um das zu spielen. Ich hätte es sonst gerne mal angetestet. Aber 1200 Tacken – und das nur für ein einziges Game! Obwohl – einige spielen auch Wo W mit Helm und sind total begeistert. Sie sagen, damit ist man so richtig mittendrin im Geschehen.“

Sie begann, den Tresen abzuwischen. In Yannicks Kopf überschlugen sich die Gedanken. X-World war online. Es konnte eigentlich nur Lutz dahinterstecken. Ob Betty noch existierte?

„Und Lutz ist wirklich nicht da? Ich müsste dringend was mit ihm besprechen!“

„Willkommen im Club. Ich glaube, er ist nochmal weggefahren. Ich habe jeden Tag bei ihm geklingelt, aber es macht keiner auf. Und an sein Handy geht er auch nicht. Aber eins sage ich dir: Wenn ich nicht bald was von ihm höre, dann sperre ich den Laden hier zu. Der soll nicht denken, er könne sich alles mit mir erlauben.“

Es klang vollkommen ernst, wie sie es sagte, aber Yannick zweifelte dennoch an ihren Worten. Sie liebte diese Kneipe. Und mittlerweile konnte sich keiner der Stammgäste das Bit & Bytes ohne Tanja vorstellen. Sie gehörte einfach hierher.

Jemand rief nach ihr, es gab wohl ein Problem mit dem Rechner. Tanja ging zu ihm, und Yannick hatte wieder Zeit, in seinen Gedanken zu versinken.

X-World war online. Er musste herausfinden, ob Betty noch dabei war. Aber wie?

Finanziell kam er gerade so eben über die Runden. Was an Krediten möglich war, hatte er längst ausgeschöpft. 1200 Euronen lagen also weit außerhalb seiner Möglichkeiten. Lutz konnte er nicht erreichen, und der einzige andere Mensch, von dem er wusste, dass er einen CS 3 besaß, war Ron. Aber auch das war eine Sackgasse. Bestimmt gab er ihm die Schuld dafür, dass X-World jetzt im Netz stand. Nicht ganz zu Unrecht, wie er zugeben musste. Er hatte es zwar nie gewollt, aber durch ihn war alles so gekommen.

Yannick sah zu Tanja hinüber, die immer noch mit dem streikenden Rechner beschäftigt war. Umständlich kramte er zwei Euro aus seiner Hosentasche, legte sie auf den Tresen, zog sich seine Jacke über und ging hinaus in die Dunkelheit.

Die kalte Luft tat gut. Yannick fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Es gab eine Chance, Betty wiederzusehen, mit ihr durch die Wildnis zu streifen und zu reden, so wie früher. Genüsslich ließ er die Bilder in sich aufsteigen. Jetzt schmerzten sie nicht mehr, jetzt motivierten sie ihn. Er musste nur irgendwie an einen CS 3 kommen!

Fieberhaft ging er die Liste seiner Verwandten und Freunde durch, aber diejenigen, die genug besaßen, um ihm Geld leihen zu können, hatte er schon vor Urzeiten angepumpt. Sein halber Tankstellenlohn ging für die Rückzahlungen drauf. Er musste eine andere Lösung finden. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, ohne recht zu merken, wohin er ging, während er über sein Problem nachdachte.

Nach einiger Zeit blickte er sich überrascht um, denn die Gegend kam ihm seltsam bekannt vor. Langgezogene, mehrstöckige Wohnhäuser mit Rasenflächen dazwischen. Müllcontainer in Drahtkäfigen. Pflanzeninseln mit niedrigem Buschwerk und breiten Trampelpfaden. Dann erkannte er es: Seine Füße hatten ihn zu Rons Wohnung getragen. Kurzentschlossen ging er zum Eingang mit der Nummer 7 und drückte auf den Klingelknopf. Er hatte keine Ahnung, was er Ron sagen wollte, aber er musste einfach mit ihm sprechen. Irgendetwas würde ihm schon einfallen.

Er wartete auf das vertraute Knacksen in der Sprechanlage, auf den Summer, der ihm die Tür öffnete, doch nichts geschah. Erneut klingelte er. Stille. Anscheinend war keiner zu Hause.

Yannick ging über den Rasen zur Rückseite des Häuserblocks und sah zur zweiten Etage hoch. In Rons Wohnung war alles dunkel.

Er beschloss zu warten, kramte Tabak und Papier heraus, drehte sich eine Zigarette. Während er rauchte, versuchte er seine Gedanken zu sortieren und so etwas wie einen Plan zu entwickeln. Was wollte er Ron denn sagen, wenn er vor ihm stand? Etwa sich bei ihm entschuldigen und im gleichen Atemzug darum bitten, sein Cyberkit benutzen zu dürfen, um Betty wiederzusehen? Es hatte doch alles damit begonnen, dass Ron sie ihm wegnehmen wollte – angeblich, weil das besser für ihn wäre. Ärgerlich stieß er den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Er hasste es, wenn sich andere Menschen in sein Leben einmischten, vor allem, wenn sie es gut meinten.

Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Könnte es sein, dass Ron verreist war? Wollte er nicht nach Frankfurt zu dieser Computerfirma, die sein Spiel gekauft hatte? Yannick war sich nicht ganz sicher, aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr meinte er, sich daran zu erinnern, dass Ron von einer Reise nach Frankfurt gesprochen hatte. Nachdenklich blickte er die Häuserfassade empor. Das Wechselspiel von hellen und dunklen Fenstern erinnerte ihn an einen Computercode. Dazwischen hingen die Balkone – dunkel und geheimnisvoll, wie riesengroße Vogelnester.

 

Der dritte Balkon von unten gehörte Ron. Yannick wusste es genau, er hatte oft genug dort gestanden und geraucht. Wenn er nur ein bisschen sportlicher wäre – der Balkon schien eigentlich gar nicht so hoch zu sein, und von dort aus konnte man sicher auch irgendwie in die Wohnung gelangen. Vielleicht könnte er beim untersten Balkon anfangen und sich dann hocharbeiten. Oder an der Dachrinne hochklettern oder …

Du planst nicht wirklich einen Einbruch, oder?, ermahnte er sich selbst. Dafür kannst du in den Knast kommen …

Na und, wenn schon, gab er trotzig zurück. Viel schlimmer als die letzten Tage kann es dort auch nicht kommen. Außerdem brauche ich mich ja nicht erwischen zu lassen.

Er wandte sich wieder den Balkonen zu. Es waren einfache Betonplatten, die von einem Stahlgitter eingefasst wurden. In Bauchhöhe gab es ein waagerechtes Brett für Blumentöpfe; gut 30 Zentimeter darüber war ein waagerechtes Stahlrohr angebracht, vermutlich als Absturzsicherung. Wenn man auf das Rohr des unteren Balkons kletterte, konnte man die Betonplatte darüber erreichen und sich daran hochziehen. Theoretisch. Wenn man Klimmzüge konnte. Er seufzte. Es musste einen anderen Weg geben. Eine Leiter oder so. Seine Mutter besaß eine Klappleiter aus Metall, die sie zum Fensterputzen benutzte. Damit müsste man den darüberliegenden Balkon eigentlich erreichen können. Yannick beschloss wiederzukommen.

Es sah ein bisschen nach Umzug oder Renovierung aus, als der junge Mann mit der Klappleiter unter dem Arm und einem Rucksack auf seinem Rücken durch die Straßen wankte. Nur die Uhrzeit passte nicht recht dazu – um halb drei Uhr morgens war es deutlich zu früh zum Arbeiten.

Außer ihm war kein Mensch unterwegs. Selbst die notorischen Frühaufsteher schliefen noch. Vereinzelt leuchteten Fernsehbilder aus den Fenstern und warfen ihr bläuliches Licht in die Dunkelheit. Trotz der Kälte war Yannick schweißnass. Alle hundert Meter musste er die Leiter absetzen.

Anfangs war sie ihm ganz leicht erschienen, aber inzwischen wurde sie mit jedem Schritt schwerer. Obwohl er sich bemühte, leise zu sein, gab sie jedes Mal, wenn er sie auf den Boden stellte, ein furchtbar lautes Scheppern von sich, das von den Häuserwänden widerhallte.

Keuchend erreichte er schließlich den Rasen hinter dem Häuserblock, in dem Ron wohnte, und blickte sich um. Alles war ruhig. Man konnte ihn von der Straße aus nicht sehen. Yannick rieb sich die Schulter, die von der ungewohnten Arbeit schmerzte. Sein Plan war einfach: Er wollte mit der Leiter auf den ersten Balkon klettern, sie dann mit einem Seil zu sich hochziehen, und anschließend von dort aus den nächsthöheren in Angriff nehmen.

Entschlossen blickte er zu seinem ersten Ziel hinauf. Die Betonplatte lag etwa eineinhalb Meter über dem Boden, dann folgte das Gitter. Die Bewohner hatten es mit einer grünlichen Plastikverkleidung versehen, aber das sollte kein Problem sein. Er klappte die Leiter auf und stellte sie auf den Rasen. Dann zog er eine Paketschnur aus dem Rucksack. Ein Seil hatte er nicht finden können, aber die Schnur war ziemlich stabil. Er hatte es ausprobiert, sie konnte das Gewicht spielend tragen.

Yannick knotete den Bindfaden am oberen Ende der Trittleiter fest und steckte den Rest des Knäuels in die Hosentasche. Dann schloss er seinen Rucksack, streifte ihn sich über die Schulter und begann mit dem Aufstieg.

Schon bei der zweiten Stufe überkam ihn das seltsame Gefühl zu schrumpfen. Verwirrt blickte er nach unten. Sein Gewicht drückte die Gummifüße in die weiche Erde. Er unterdrückte einen Fluch und kletterte weiter. Die Leiter sackte noch ein Stückchen weiter ab, dann gab sie nicht mehr nach. Vermutlich lag die unterste Sprosse jetzt auf dem Boden auf.

Yannick trat auf die kleine Plattform der Trittleiter, aber die Höhe reichte nun nicht mehr ganz aus. Immerhin konnte er das obere Querrohr des Balkons mit den Händen erreichen. Er klammerte sich daran fest, stellte einen Fuß auf den runden Bogen oberhalb der Plattform seiner Leiter und hievte das andere Bein über das Balkongitter. Dann nahm er alle seine Kräfte zusammen und zog sich vollends hoch.

Geschafft. Er stand auf dem ersten Balkon. Vorsichtig beugte er sich über die Brüstung und zog an der Paketschnur. Sie spannte sich, aber nichts passierte. Die Leiter steckte im Boden fest. Yannick spürte eine leise Panik aufsteigen. Verzweifelt zerrte er an der Leine, dann gab es einen kurzen Ruck, die Schnur riss, und er stolperte rückwärts auf das Balkonfenster zu. Dabei stieß er gegen einige Gartengeräte, die in einer Ecke standen und dezent klapperten. Offensichtlich nutzten die Bewohner das Fleckchen Erde neben ihrem Balkon, um darauf Blumen zu ziehen.

Das brachte Yannick auf eine Idee. Er tastete nach einer Harke und stocherte damit in der Finsternis jenseits der Balkonbrüstung herum. Er suchte und fand den oberen Bügel der Leiter und bewegte ihn mit der Harke einige Male hin und her. Endlich bekam er die Trittleiter frei. Mit einem lauten Scheppern klappte sie zusammen und knallte gegen die Plastikverkleidung.

Der junge Mann bekam sie gerade noch zu fassen, bevor sie ganz umkippen konnte, zog sie hektisch über die Brüstung und warf sich auf den Boden. Dort wartete er eine Weile, ob irgendwo Licht anging. Nichts passierte. Nochmal Glück gehabt.

Also weiter. Er rappelte sich hoch und stellte die Leiter wieder auf, was ihm diesmal fast geräuschlos gelang. Erneut knotete er die Paketschnur fest, dann stieg er auf die kleine Plattform. Diesmal konnten die Gummifüße nicht wegsacken, aber es war trotzdem nicht so einfach, den nächsten Balkon zu erreichen, denn Yannick musste sich erst um die Bodenplatte über ihm herumwinden.

Seine Muskeln brannten, als er endlich oben angekommen war. Hier gab es keine Gartengeräte, und ein künstlicher Rasen auf dem Boden dämpfte die Geräusche. Vorsichtig zog Yannick die Leiter zu sich hinauf. Das war doch gar nicht so schwer, ermutigte er sich. Nur noch ein Balkon.

Er stellte die Trittleiter in Position und kletterte hoch. Diesmal wusste er, wie er sich bewegen musste. Als er sein Ziel erreicht hatte, fasste er nach der Schnur. Behutsam zog er die Leiter zu sich in die Höhe. Allmählich hatte er den Bogen raus, die innere Anspannung ließ etwas nach. Gerade wollte er nach dem Bügel greifen, als sich der Knoten löste – und bevor er es verhindern konnte, fiel die Leiter herunter. Schradong! Sie knallte auf den unteren Balkon, drehte sich in der Luft und schepperte auf den Rasen.

Yannick ging in Deckung. Diesen Lärm musste jemand gehört haben. Minutenlang blieb er in der Hocke, bis seine Beine schmerzten. Was nun?

Auf jeden Fall unten bleiben. Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht nach hinten. In der Nachbarschaft ging das Licht an. Eine Balkontür öffnete sich, und ein Mann im Bademantel ließ den Lichtkegel einer starken Taschenlampe über den Rasen wandern. Offensichtlich hatte er nicht genau gehört, woher der Lärm gekommen war, denn der Lichtfleck huschte am gegenüberliegenden Häuserblock vorbei.

Yannick rutschte noch weiter nach hinten, drückte sich weg vom Balkongitter. Die Taschenlampe erlosch, der Mann im Bademantel schlurfte zurück in seine Wohnung, bald darauf wurde das Fenster wieder dunkel.

Yannick atmete auf. Er lehnte sich an das Balkonfenster und streckte seine schmerzenden Beine aus. Wie sollte es nun weitergehen? Wie kam er vom Balkon in die Wohnung? Er konnte unmöglich jetzt auch noch die Scheibe einschlagen. Ohne Leiter gab es aber auch kein Zurück für ihn. Sobald es hell wurde, würde man sie dort unten liegen sehen und ihn finden. Sackgasse. Mal wieder. Zornig schlug er mit der Faust gegen den Türrahmen.