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Er war glücklich, seitdem er, Karina Marie und Pia eine Familie waren. Dieses Lebensglück sollte noch größer werden, denn Karina Marie war zum zweiten Mal schwanger. Sie wollten mindestens zwei Kinder haben. Mit Anfang dreißig und finanziell bestens ausgestattet, blickten beide hoffnungsvoll nach vorne in eine Zukunft auf der Sonnenseite des Lebens.

Er stutzte. Auf der Höhe seines Hauses ein einziges Blaulichtgewitter. Streifenwagen, Feuerwehr, Notarzt, Absperrung. Davor ein Medienübertragungswagen. Ein kalter, grässlicher Schauer kroch wie in Zeitlupe von seinem Kopf über den Nacken direkt in sein Herz hinein. Er wollte es nicht wahrhaben. Es ging nicht um irgendein Haus, es ging um sein Haus, das aber dort stand wie immer. Nicht abgebrannt oder in Trümmern, nur von vielen Menschen in Uniformen und Einsatzjacken umgeben.

»Bitte umkehren!«, sagte der Beamte freundlich durch die offene Scheibe. »Die Straße ist gesperrt.«

»Ich wohne in dem Haus! Was ist passiert?«

Der Beamte wollte ihn gerade zurechtweisen, dann schaute er ihn prüfend an.

»Wie ist Ihr Name?«

»Marc Anderson, und dort wohne ich mit meiner Familie!« Der Beamte sprach kurz mit der Einsatzleitung. Er beugte sich mit einem Gesicht, das Schlimmes ahnen ließ, zu Marc. Aber er sagte nichts, und Marc fragte nicht. Solange es nicht ausgesprochen ist, ist es nicht wahr. Eine schlimme Wahrheit muss man nicht suchen. Sie kommt, wann und wie sie will. Kalt, herzlos und mit gnadenloser Brutalität ohne jegliche Rücksicht auf den Betroffenen.

»Sie können durchfahren, Herr Anderson, Sie werden erwartet.« Beinahe hätte er noch ein »mein herzliches Beileid« und »ich wünsche Ihnen viel Kraft« nachgeschoben, aber im selben Augenblick eilten zwei Menschen auf den Wagen zu, ein Reporter mit Kameramann.

»Sie sind doch Marc Anderson! Was sagen Sie zu …«

Der Polizist drängte sie energisch weg und Marc fuhr mit versteinertem Gesicht zu seinem Haus, während die Einsatzkräfte zur Seite wichen, um ihm Platz zu machen.

Am Türeingang erkannte er einen Polizeibeamten und die Freundin der Familie, Jelke Lorberg, in der lilafarbenen Einsatzjacke der Notfallseelsorge.

Die Katastrophe bekam zunehmend ihr grausiges Gesicht.

Bitte lass’ es nicht wahr sein … Bitte nicht meine Familie …

Er öffnete ruckartig die Wagentür und sprang heraus. Jelke und der Polizist standen bereits bei ihm.

»Was ist passiert? Wo ist Marie?«

»Herr Anderson, ich bin Hauptkommissar Holms. Bitte lassen Sie uns ins Haus gehen.«

Marc wollte nicht akzeptieren. Die Wahrheit jetzt! Aber der liebevoll weisende Blick von Jelke, dann die Menschen in der Nähe wie auch seine eigene verinnerlichte Professionalität sagten ihm, dass er jetzt ohne weitere Fragen ins Haus gehen sollte.

Sie standen vor der Eingangstür. Er wollte wie immer klingeln, bis ihm an den Blicken der beiden klar wurde, dass niemand im Haus war. Einen kurzen Augenblick war er erleichtert. Wenigstens kein Überfall im Haus …

Er öffnete mit dem Code die Tür, deaktivierte dadurch das Einbruchmeldesystem, das, in Verbindung mit Videokameras und Strahlern, das Haus wie einen Hochsicherheitstrakt schützte. Dieser Rundumschutz war ihm nach all den Erfahrungen immer wichtig gewesen.

»Bitte kommen Sie herein.«

Er schloss die Tür hinter den beiden.

Im Haus war es still.

Totenstill.

Er führte sie zur Sitzgarnitur. Doch er setzte sich an Maries kleinen Schreibtisch so, als solle die entsetzliche Realität nicht zu ihm kommen.

»Jelke, was ist passiert? Sag’ es mir ohne Umschweife. Ist etwas mit Marie?«

Holms überlegte kurz, ob er, wie in der Dienstvorschrift klar geregelt, die schreckliche Nachricht amtlich überbringen sollte oder sie ausnahmsweise durch Jelke auszuführen sei. Er entschied sich für die Beibehaltung der Rollen und damit für den formalen, offiziellen Weg.

»Herr Anderson, wir haben eine sehr schlimme Nachricht für Sie. Ihre Frau ist tot.«

Er saß an ihrem Lieblingsplatz, Augen geschlossen, Arme auf der Lehne, fahles Gesicht. Um ihn herum drehte sich alles. Kurze, heftige Atemstöße, viel zu viele mit der Gefahr der akuten Hyperventilation.

Jelke erkannte das, aber wartete ab. Holms wollte fortfahren, doch Jelke schüttelte fast unbemerkt mit dem Kopf. »Noch nicht«, signalisierte sie.

Von der Elbe drang ein Sirenenton herauf. Die Abendsonne warf ein warmes Licht durch die Sprossenfenster auf den gedeckten Esstisch. Nebenan schlug eine Glasenuhr viermal an.

Marc presste die Lippen und seine Hände zusammen, er stoppte die Atmung für lange zehn Sekunden und atmete dann tief langsam ein und aus. Sein Blick streifte den Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch und erfasste unter seinem Foto einen Zettel:

Falls du schon da bist, bin mit Pia noch schnell zum Einkaufen und zur Bank. Ich liebe dich von hier bis ins Universum. Marie .

Der Raum begann sich wieder zu drehen. Er ließ es nicht zu. Handeln!

»Jetzt bitte die ganze Wahrheit …«

»Ihre Frau wurde vor etwa zwei Stunden unten im Park mit einem Schnitt durch den Hals tödlich verletzt. Passanten haben sie aufgefunden. Der Kinderwagen war leer.«

Marc blickte den Beamten mit weit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen an.

»Marie … mit einem Schnitt durch den Hals …«

»Es tut mir so leid«, sagte Holms.

»Wo ist mein Kind?«

»Wir wissen es nicht, Herr Anderson, die Großfahndung läuft. Wir haben von der Bank eine sehr kurze Videosequenz, die den mutmaßlichen Täter zeigt, wie er in den Park geht. Von dem Attentat selbst gibt es kein Bildmaterial. Im Kinderwagen lag dann noch ein Zettel.«

»Was steht da drauf?«

Holms versuchte, es schonend zu sagen:

»Allahu Akbar! Ali Naz!«

Der Name war kaum gefallen, da sprang Marc auf. Ein einziger markerschütternder Schrei erscholl durch das Haus:

N E I N … !!!

All die im Auto aufgestaute Angst, die Angst vor dem Undenkbaren, brach heraus.

Er weinte hemmungslos. Sein Herz raste, sein Körper zitterte. Kalter Schweiß.

Anzeichen einer schweren Kreislaufstörung mit Schock.

Jelke hoffte, dass es nur eine vagotone Schockphase war, aus der er wieder herauskommen würde. Ganter sah sie besorgt an. Sie dachten beide kurz daran, den Rettungswagen anzufordern. Doch Jelke wollte noch abwarten. Vor ihr stand ein Elitesoldat, der seinen besten Freund im Kampf verloren hatte und damals handeln musste, um nicht selbst getötet zu werden. Sie hoffte auf seine bewährte Stressbewältigungstechnik. Immer war er für alle ein Fels in der Brandung. Aber jetzt war er so stark am Boden zerstört, dass seine Erschütterung auch sie erfasste, so sehr, dass sie für einen kurzen Augenblick Gefahr lief, ihre Beherrschung zu verlieren. Sie hätte so gern mit ihm geweint, aber es war genau der falsche Moment, Entsetzen und Trauer zu teilen. Denn hier bei diesem Einsatz ging es allein um sein Entsetzen. Trotzdem war sie jetzt gerade alles andere als eine stabile Notfallseelsorgerin.

Holms erkannte Jelkes Wanken und sagte:

»Herr Anderson, es tut mir unendlich leid. Ich fühle von Herzen mit Ihnen. Sagt Ihnen der Name Ali Naz etwas?«

Marc blickte Holms fassungslos an und ließ sich auf das Sofa fallen. Seine Worte kamen leise und stockend:

»Ali Naz? Sie kennen den nicht? Das ist der iranische Terrorist, der die SUNDOWNER gekapert hatte … Ich verstehe das nicht … Den gibt es doch nicht mehr … Er wurde doch bei einem Vergeltungsschlag der Amerikaner im Iran getötet …«

Und dann brach es weinend aus ihm heraus:

»Aber er ist nicht tot! Er ist überhaupt nicht tot! Er hat Rache an mir genommen. Es ist meine Schuld!«

Jelke hockte sich vor ihn.

»Warum ist es deine Schuld, Marc?«

»Ein paar Minuten früher, und ich hätte ihren Tod verhindert! Nur ein paar verdammte Minuten früher!«

Holms wollte das entkräften, aber Jelke winkte ab.

Marc starrte sie an: »Jelke, sag’ mir, dass es nicht stimmt. Karina Marie darf nicht tot sein …«


Polizeipräsident Hendrik Mann hatte nach Kenntnis des Bekennerschreibens von Ali Naz sofort die Brisanz des Falles für seine Behörde erkannt. Die Befreiungsaktion der Geiseln durch Marc Anderson aus den Händen der von Ali Naz gekauften Terrorgruppe berührte auch Hamburg, spätestens als der Bürgermeister der Hansestadt das gesamte Befreiungsteam ins Rathaus gebeten hatte. Hendrik Mann bewunderte insgeheim Anderson, obwohl der, wie er dem Bürgermeister zugesteckt hatte, »mehr Glück als Verstand bei seiner Befreiungsaktion hatte.«

»Helden ohne Glück gibt es nur selten,« hatte der Bürgermeister wiederum kommentiert und »diese Stadt liebt ihre Helden, vor allem, wenn sie nach hanseatischer Manier so unprätentiös auftreten wie dieser junge Mann.«

Der Polizeipräsident sah durch die Runde der fünfzehn schnell aber sorgfältig ausgesuchten Beamtinnen und Beamten aus den Abteilungen LKA 1 bis 7. Die Stelle des Leiters des Landeskriminalamtes war vakant, so übernahm der Polizeipräsident die Einführung selbst.

»Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie in der SoKo KILO MIKE. Warum gerade KILO MIKE? Die Bezeichnung steht nach dem internationalen Buchstabieralphabet für Karina Marie, den Vornamen der getöteten Frau Anderson.

Dieses Tötungsdelikt zeichnet sich durch zweierlei aus. Erstens durch einen möglicherweise internationalen Hintergrund und zweitens durch ein enormes Medieninteresse. Joe Weber, Leiter des LKA 4 aus der Abteilung Kapitaldelikte, wird Sie jetzt über den Stand der Erkenntnisse informieren.«

 

Kriminaloberrat Weber, ein äußerst erfahrener, aber in den eigenen Reihen wegen seiner knallharten Art nicht immer geschätzter Kriminalbeamter, trat nach vorne. Er hatte nur sechzig Minuten Zeit gehabt, sich einzuarbeiten und die SoKo zusammenzustellen. Und ständig trafen neue Meldungen ein.

Auf dem Bildschirm erschienen eine Karte von Blankenese und diverse Fotos.

»Karina Marie Anderson wurde gegen 16.00 Uhr an dieser Stelle umgebracht. Wir können davon ausgehen, dass sich in dem Kinderwagen zuvor ein kleines Kind, Name Pia Anderson, Tochter von Karina Marie und Marc Anderson, befunden hat. Das Opfer wurde mit einem Schnitt durch den Hals getötet. Der Hals wurde vorderseitig durchtrennt und der Kopf im Wesentlichen nur noch durch die Wirbelsäule und die umliegenden Muskeln gehalten. Das erinnert stark an Tötungsrituale islamistischer Terroristen. Im Kinderwagen das Bekennerschreiben mit dem Text, den Sie hier sehen. Glücklicherweise liegt uns das Video der Bank am Rande des Parks vor, die die mutmaßliche Täterperson aufgezeichnet hat.«

Das Video zeigte, wie Karina Marie mit dem Kinderwagen den Vorraum der Bank betrat, Geld abhob und die Bank über den kleinen angrenzenden Park in Richtung Wohnhaus verließ.

»Wie Sie sehen, ist die verdächtige, vermummte Person nur ganz kurz und so ungünstig aufgezeichnet worden, dass wir kaum Anhaltspunkte haben. Wir nehmen an, dass diese Person das Opfer durch den Park verfolgt und die Tat am Ende des Parks begangen hat. Wir wissen nicht, wie die Person den Tatort verlassen hat. Es gibt derzeit keine Zeugen.«

»Gehen wir denn davon aus, dass dieser Ali Naz der Täter sein könnte? Und überhaupt, der soll doch tot sein«, wollte jemand wissen.

»Das Erstere wissen wir nicht«, sagte Weber, »die Fahndung hat bisher keine greifbaren Ergebnisse gebracht. Doch zunächst zu Ali Naz. Wer es noch nicht weiß, er stand als Kommandeur den iranischen Revolutionsgarden vor und – soweit uns bekannt ist – hat er in einem Terrorakt zusammen mit seinen Kommandeuren seinen obersten Religionsführer Mohammed Husseini ermordet. Er hat Terroranschläge gegen die USA mit Mittelsmännern der Hisbollah aus dem Libanon geführt und versucht, den US-Präsidenten politisch zu erpressen. Als Faustpfand nahm er sich bekanntlich die Hamburger Luxusyacht SUNDOWNER, auf der sich Sohn und Tochter des Präsidenten, die Enkelkinder und ein Gästeehepaar befanden sowie Karina Marie Anderson als Hotelmanagerin. Den Rest darf ich als hinlänglich bekannt voraussetzen. Sehen Sie hier.« Er zeigte Bilder von etlichen Pressemeldungen und einen TV-Ausschnitt aus einem Bericht des Norddeutschen Rundfunks.

»Nun zu dem zweiten Teil Ihrer Frage. Die Amerikaner flogen einen Vergeltungsangriff auf Ali Naz und seine versammelten Kommandeure bei der jährlichen großen Militärparade im iranischen Ahvaz. Angeblich wurden alle getötet, auch Ali Naz. Zumindest lassen das zuverlässige US-Quellen verlauten.«

»Dann gibt es doch nur diese Möglichkeiten«, antwortete ein Mann aus Webers LKA 4, »entweder der Mann ist tot, dann agiert hier einer seiner Getreuen in seinem Namen, oder der General hat tatsächlich überlebt und nimmt jetzt Rache.«

»Oder …«, ergänzte jemand aus der Runde, »er musste gar nicht überleben, weil er von dem Angriff wusste, und auf der Tribüne saß ein Doppelgänger. Jetzt taucht das Original auf, und Ali Naz macht öffentlich, dass er wieder im Spiel ist.«

Der Leiter LKA nickte bestätigend.

»Interessanter Aspekt. Danke, weitere erste Einschätzungen?«

»Vielleicht setzen wir zu hoch an«, meinte jemand, »und es handelt sich um einen, der mit dem Geschehen überhaupt nichts zu tun hat und hier einfach aufspringt.«

»Auch möglich« meinte Weber, »aber eher unwahrscheinlich. Dagegen spricht die Entführung des Kindes. Natürlich wollen wir brennend gern wissen, ob Ali Naz lebt. Eine Anfrage zur Klärung geht in diesem Augenblick über den Staatsschutz an unsere amerikanischen Freunde, die über das Attentat bereits informiert sind. Aber wir hier in Hamburg haben einen anderen Job. Wir müssen unbedingt den Zusammenhang zum Täterbekenntnis Ali Naz aufklären. Noch suchen wir ein Phantom.«

Allgemeines Nicken in der Runde.

»Unabhängig von der Beantwortung dieser wichtigen Frage deuten die bisherigen Erkenntnisse klar darauf hin, dass es sich um ein Tötungsdelikt mit terroristischem Hintergrund handelt, egal durch wen ausgeführt. Sei es durch Ali Naz, einer Auftragsperson oder einen sogenannten Einsamen Wolf. In allen Optionen scheint es eine Beziehungstat mit Zielrichtung Marc Anderson zu sein.«

»Oder«, sagte der junge Beamte mit Schulterholster und der Sonnenbrille im Haar aus dem Bereich LKA 2-Einsatz, »das ist erst der Anfang einer Attentat-Serie.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Weber nachdenklich, »sehr gut erkannt. Auf dem Radar des oder der Täter könnten in der Tat theoretisch alle Beteiligten stehen, die etwas mit dem Scheitern der terroristischen Aktion gegen das Schiff zu tun haben.«

»Richtig, und zwar alle Deutschen, zum Beispiel die Leute von der Maritime Security Services, das Personal der Reederei und auch US-Amerikaner«, sagte der junge Mann.

»Die Frage ist«, meinte jemand aus Webers Abteilung, »warum nimmt sich der Täter nicht gleich Marc Anderson vor, sondern seine Frau?«

»Ist doch klar, Kollege« erwiderte eine Kommissarin, ebenfalls aus der Abteilung Einsatz, »er trifft Anderson dort, wo er am verletzbarsten ist. Die Täterseite weiß natürlich aus den Medien, dass Anderson diese Frau zweimal gerettet hat und macht sich jetzt zum Zerstörer seines Lebens. Aber sie lässt ihn leben, noch. Hier kommt das acht Monate alte Kind ins Spiel. Der oder die Täter haben noch etwas vor. Keine Entführung ohne Forderung.«

»Vielleicht wird es nie eine Forderung geben«, sagte jemand von ganz hinten, »vielleicht wurde das Kind verschleppt, oder es ist bereits tot.«

»Das glaube ich nicht«, meinte die Kommissarin, »das Baby musste überleben. Der oder die Täter haben einen Plan.«

»Okay«, sagte Weber, »Sie sehen, das wird hier ganz großes Kino. Mord, Kindesentführung, islamistischer Hintergrund, internationale Verflechtungen. Es gibt also viel zu tun. Aber fangen wir ganz unten an, so wie wir es gelernt haben. Ein Kleinkind unbemerkt zu versorgen, das geschieht nicht einfach mal so. Also Spurenauswertung, ermitteln in alle Richtungen, auf Täterkontakt bei Anderson einstellen, präventive Gespräche mit allen Betroffenen und bitte alles, was wir über Ali Naz und seine Komplizen in unserer Stadt herausfinden können. Hat noch jemand eine Frage?«

»Wenn nicht, dann Herr Mann – Sie noch zum Abschluss?« »Gerne. Wir werden zusätzlich den Generalbundesanwalt informieren. Noch aber ist das eine Sache unserer Behörde. Ich setze absolute Verschwiegenheit voraus. Medienarbeit ist Chefsache. Ich werde diese SoKo bis auf Weiteres eng begleiten. Joe Weber hat die volle Unterstützung des Hauses. Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr wieder. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren!«


Jelke hatte Marcs Schuldvorwurf nicht kommentiert, wissend, dass sie niemandem Schuldgefühle nehmen konnte. Im Gegenteil, so konnte Marc die Illusion aufrechterhalten, dass in Zukunft so etwas nicht mehr passieren kann, wenn er besser aufpassen würde. Hauptsache er redete, sprach sich aus. Das Relativieren der starken, bohrenden Schuldgefühle, so hatte sie erfahren, würde ohnehin später von selbst eintreten, wenn alles wieder normal liefe. Wenn.

Marc hatte sich etwas gefangen. Er war sogar in die Küche gegangen und hatte gefragt, ob jemand einen Kaffee haben möchte. Er selbst wollte einen Tee trinken, doch die Hand zitterte so stark, dass Jelke dazu kam und ihm die Zubereitung abnahm.

»Wo ist meine Frau jetzt, Herr Holms?«

»Sie wurde in die Rechtsmedizin gebracht und wird dort obduziert.«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie sieht sie aus?«

»Ich weiß es auch nicht, Herr Anderson. Aber was ich vermittelt bekommen habe ist, dass alles sehr schnell ging und sie nicht gelitten hat.«

»Sagen Sie das, um mich zu beruhigen?«

»Nein, das ist Fakt.«

»Ich möchte sie auf jeden Fall noch vor der Obduktion sehen.«

»Das werde ich durchgeben.«

»Und wirklich keine Hinweise zu Pia?«

»Leider nein, Herr Anderson. Die Kollegen arbeiten intensiv. Sobald wir etwas wissen, sind Sie der Erste, der es erfährt.« »Danke, Herr Holms, ich brauche jetzt eine Pause.«

»Natürlich, Herr Anderson, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Ich fühle mit Ihnen. Ich wünsche Ihnen alle Kraft und Gottes Segen.«

Marc sah ihn verbittert an und sprach leise: »Den brauche ich jetzt wirklich nicht, der hat mir gerade meine Familie genommen.«

Er schwankte leicht, doch es gelang ihm, den Polizeibeamten zur Tür zu bringen. »Danke, Herr Holms, für Ihren Einsatz.«

Marc hockte zusammengesunken auf der Couch. Das Zittern seines Körpers verstärkte sich. Jelke eilte in die Küche, kam mit einem Glas Wasser zu ihm und legte sanft ihre Hand auf seine Schulter, so, als wolle sie das Zittern abmildern. Als Nächstes würde sie ihn bitten, sich auf die Couch zu legen, die Beine anzuwinkeln, und sie würde ihn zudecken. Doch das schien nicht nötig. Noch nicht. Sie reichte ihm das Wasser. Er blickte sie kurz wie aus weiter Ferne an, schien zu verstehen, trank.

Schüttelfrost. Sie legte eine Decke über ihn.

Jelke sagte nichts. Kein Wort der Beruhigung, kein Wort des Trostes, kein Wort über das verschwundene Kind, kein Wort über die tief empfundene Schuld.

SCHULD.

Schuld hatte ihn in Sekundenbruchteilen mit einem galaktischen Sog in das schwärzeste aller Löcher des Universums gezogen. Marc war nicht mehr in seiner alten Haut. Schuld hatte die Regie übernommen.

Niemand sagte etwas.

Die Notfallseelsorgerin war einfach nur da. Sie gab keine Ratschläge, Analysen oder Deutungen. Ihre völlige Zurückhaltung war nicht feige oder Ausdruck der Unsicherheit, ganz im Gegenteil. Sie wartete. Irgendetwas würde passieren. Aber nicht proaktiv von ihrer Seite, sie wartete auf eine Aktion von Marc.

Hier geschah, was Jelke in der Ausbildung als für sie schwerste psychosoziale Intervention überhaupt gelernt hatte: qualifiziertes Schweigen. Wenn notwendig über lange Zeit. Es war sogar möglich, dass überhaupt nicht geredet wurde. Darauf stellte sie sich jetzt ein.

Er legte sich auf die Seite – von ihr abgewandt.

»Bleib’ bitte hier«, sagte er unvermittelt.

»Ich bleibe, solange du möchtest.«

»Marie ist deine beste Freundin, Pia ist dein Patenkind.«

»Ja, Marc.«

Ihr Herz schlug bis zum Halse. Er hatte logischerweise die persönliche Beziehungsebene hergestellt.

»Wie wirst du damit fertig?«

»Schlecht, Marc, miserabel. Doch jetzt geht es um dich.«

Er warf die Decke zur Seite und sprang auf.

»Ich muss sehen, wo es passiert ist!«

Jelke war kurz entsetzt aber realisierte auch, dass er so versuchte, die Situation anzunehmen und war doch noch vollkommen instabil.

»Okay, dann machen wir das.«

Sie wusste nicht, was am Tatort wenige hundert Meter weiter geschehen würde und fragte sich, ob das wirklich eine gute Idee sei. Doch Marc war nicht aufzuhalten. Sie ging voraus zur Tür, öffnete sie und warf sie sofort wieder ins Schloss.

Draußen standen Journalisten und Fotografen.

Einer rief: »Können Sie uns sagen, wo das Baby ist?«

Marc drängte Jelke – völlig die Beherrschung verlierend – zur Seite, riss die Tür auf und schrie in die Kameras:

»Ihr Bastarde, lasst uns in Ruhe!«

Jelke zog ihn energisch zurück, schloss die Tür und führte ihn zur Couch.

Er kippte in die Kissen. Ein erneuter Schüttelfrost überkam ihn. »Entschuldige, Jelke. Es ist zu viel. Ich weiß nicht, wie ich das klar kriegen soll.«

»Soll ich dir etwas zu essen machen?«

»Danke, nein. Wir gehen nachher zum Tatort, wenn die Meute weg ist.«

»Ich mach’ dir trotzdem ein Brot. Du entscheidest, ob du es möchtest. Darf ich an den Kühlschrank gehen?«

 

Er antwortete nicht. Es war ihm vollkommen gleichgültig.

Sie saßen sich gegenüber. Er bekam keinen Bissen herunter, vergrub seinen Kopf in den Händen, versuchte sich zu konzentrieren. Es war nicht möglich. Sein Gehirn war wie abgestellt. Dann rasten die Gedanken wieder wie wild, überschlugen sich.

Er rannte zur Toilette. Jelke hörte, wie er sich erbrach.

Er kam zurück, sah sie verweint an. »Jelke, sag’, dass es nicht wahr ist. Das ist alles ein furchtbarer Irrtum. Marie ist mit Pia bei ihren Eltern. Sie ist bei den Eltern, ganz bestimmt.«

Sie kam zu ihm, schaute ihn so fest und eindringlich an, wie es ihr möglich war.

»Nein, Marc, Karina Marie ist tot. Ich bete, dass Pia lebt und ihr nichts geschieht.«

Er beugte sich zu ihr herunter. Sie ließ ihn an ihrer Schulter weinen.

Nach einer Weile sagte er fast flüsternd: »Wir müssen ihre Eltern benachrichtigen.«

Marc hatte selbst die Jokerfrage in der Erstberatung initiiert. Benachrichtigung von Angehörigen oder Freunden bedeutete Handeln. Wer benachrichtigte, war gleichgültig, Hauptsache, die Notwendigkeit war bewusst geworden. Es war der erste kleine Schritt zurück in die Welt da draußen.

»Ein Kollege ist bereits bei ihnen«, erwiderte sie.

»Das ist gut, danke, Jelke, danke, ich könnte das jetzt nicht. Mein Gott, ihre Mutter ist dement und der Mann schwer herzkrank.«

»Das ist ein wichtiger Hinweis, Marc. Ich werde das durchgeben. Ist sonst noch jemand zu informieren? Das muss nicht jetzt sein.«

»Sie hat sonst niemanden mehr. Ich auch nicht.«

Es klingelte an der Haustür.

Jelke war darauf eingestellt, Medien abzuweisen. Sie schaute durch das seitliche Fenster.

Draußen standen Tom, Ale, Thunder, Hermy und Mike.

»Marc, dein Team möchte dich besuchen, ist das okay für dich?«

Er nickte.

Marc stand auf und blickte seine Brüder so abwesend an, wie sie ihn noch nie erlebt hatten. Weder im Kampf, noch im Training, weder im Gespräch noch in vertrauter Runde. Dieser Mann hatte ganz offensichtlich seinen Kompass verloren.

Einer nach dem anderen kam zu ihm, fast wie aufgereiht. Der Hüne Tom, Marcs Weggefährte von Anfang an, legte die Hand auf Marcs Schultern. Sie sahen sich an. Es gab nichts zu sagen.

Der Berliner Ale heulte. »Mann Alter, so ’ne Scheiße.« Beinahe wäre ihm sein Standardspruch über die Lippen gegangen: »Det kriegen wir hin.«

Thunder stieß ihm rechtzeitig in die Seite und legte seinerseits den Kopf an Marcs Stirn. Dann heulte auch er.

Hermy nahm Marc in den Arm. Er streichelte ihn liebevoll.

Mike konnte mit der Situation am wenigsten umgehen. Er ging durch das Zimmer … auf und ab. Dann wollte er Marc einen Faustcheck geben, er war völlig durch den Wind. Marc blickte hinter ihm her. Jelke glaubte für einen winzigen Moment, in Marcs Augen ein sanftes Lächeln gesehen zu haben. Aber es war wohl ein Irrtum.

»Entschuldigt mich, ich muss unter die Dusche«, sagte Marc, »in der Küche steht Bier.«

Die fünf hockten mit der Notfallseelsorgerin um den Couchtisch herum. Sie hatte Tom angerufen, der sofort die anderen alarmiert hatte. Alle machten umgehend auf dem Weg vom Stützpunkt nach Hause kehrt. Sie wollten nur eines, Marc zur Seite stehen, wussten jetzt aber nicht, wie man das macht. Sie hatten bei ihm alles gelernt, um siegreich zu überleben, aber nicht, wie man mit der Trauer eines Marc Anderson umgeht.

Jelke wies sie in die Geschehnisse ein. Als sie den Namen »Ali Naz« aussprach, war es vollkommen still im Raum. Keiner brauchte weiter zu fragen. Sie wussten, das ging sie alle an. »Was machen wir jetzt?«, fragte Thunder.

»Ich denke«, meinte Jelke, »er möchte nachher für sich sein, wir sollten ihn fragen.«

Marc kam herunter. Er war barfuß, seine Haare waren nass, sein Gesicht wie zerstört. Er trug eine Trainingshose und ein T-Shirt, das er im Schrank zufällig zu fassen bekommen hatte. Es war mit einem großen griechischen »O« bedruckt.

Weder er noch seine fünf Brüder dachten sich etwas dabei, außer Jelke, die die christliche Bedeutung von Alpha und Omega kannte. Sie sagte nichts dazu.

Sie rückten für ihn zur Seite, aber er hockte sich abseits auf den Fußboden an die Wand.

»Möchtest du auch ein Bier?«, fragte Ale. Er verneinte.

Seit der Überbringung der Todesnachricht waren keine drei Stunden vergangen, aber es kam Marc vor wie eine Ewigkeit.

Tom war an die Bücherwand gegangen, direkt auf das Porträtfoto von Karina Marie zu. Jelke sah das. Tom wollte Abschied nehmen. Sie fragte vorsichtig zu Marc herüber: »Ist das okay, wenn wir sie in unsere Mitte nehmen?«

Marc nickte.

Sie stand da als Schwarz-Weiß-Foto, lachend mit Pia auf dem Arm, als sie gerade vier Wochen alt war.

»Ich habe eine Kerze dabei, auch okay?«, fragte sie.

Marc überlegte, dann nickte er wieder.

Jelke hatte ein Ritual begonnen. Sie fragte aber nicht weiter, zum Beispiel, ob man gemeinsam beten wolle. Im Gegensatz zu Karina Marie war Marc nicht gläubig. Die Kirche war ihm so fremd, wie die Vorstellung an einen Gott.

Die Männer schwiegen. Tom hätte gern laut ein Gebet gesprochen, aber er traute sich nicht. So saßen sie vor der Kerze und blieben jeder für sich.

Sie hatten den Lebensweg der beiden in entscheidenden Phasen miterlebt. Am längsten Tom, der mit Marc zusammen Karina Marie an der Küste Algeriens aus den Händen des damaligen Islamischen Staates befreit hatte. Alle waren bei der Hochzeit der beiden in der weißgeschmückten evangelischen Kirche in Blankenese dabei gewesen, wo Karina Marie bereits getauft worden war. Sie hatten Spalier gestanden. Sie waren auch in derselben Kirche zur Taufe von Pia erschienen.

Mike erinnerte sich, wie sie sich vor Karina Maries Befreiung von der SUNDOWNER im Wasser in den Arm genommen und skandiert hatten: »Einer für alle, alle für eine, für Karina Marie!« Mike musste innerlich schmunzeln. Er hatte bei dem Wort alle damals einen Schwall Meerwasser geschluckt.

Sie waren so oft mit dem Tod konfrontiert. Aber es betraf immer die anderen.

Marcs Kopf sank herunter. Nach einer Weile raffte er sich auf, ging zur Kerze und drückte sie aus. Wohl, weil er das Treffen beenden wollte. Aber es war vielleicht mehr. Nur Jelke wusste um die wichtige Bedeutung, wenn ein Trauernder das Licht auslöscht.

»Ich muss in die Falle. Es wäre schön, wenn ihr mir die Medien draußen vom Halse haltet. Und Jelke, könntest du heute im Haus bleiben? Das Bett im Gästezimmer hat Marie bezogen.«

Er hatte kaum den Namen ausgesprochen, da drohte er wieder wegzusacken. Tom sprang auf ihn zu und führte ihn die Treppe hoch. Marc nahm es dankbar an.

ALPHA 1 sicherte in dieser ersten Nachthälfte das Gebäude, dann übernahm ALPHA 2. Am nächsten Morgen würden sie sich bei Jelke kurz abmelden. Jelke meldete ihrerseits den Einsatz bei der Notfallseelsorge als beendet, holte ihr Nachtzeug aus ihrer Wohnung und kam nur wenig später zurück. Sie sah, dass die Tatortreiniger die Straße wieder gesäubert hatten, nur die Reste einer Kreidestrichzeichnung waren noch zu sehen. Es war gut, dass Marc das nicht mehr wahrnehmen musste.

Jelke saß allein im Wohnzimmer und schaute sich um. Alles, was sie in diesem Haus sah, zeigte die Handschrift ihrer besten Freundin. Die leichten skandinavischen Möbel und Lampen, die weiße, schlichte Bücherwand mit umfangreicher Reiseliteratur und Bildbänden von Schiffen. Die Glaskunst an den Sprossenfenstern, deren zarte weiße Gardinen, der kleine Kapitänsschreibtisch, das Geschenk ihres Vaters und Pias Wiege, deren Kleidungsstücke und Spielsachen, die so herumlagen, als würde sie gleich hereinlaufen.

Wo war Pia wohl? War sie verschleppt worden? Wie würde sie behandelt werden, und worum ging es hier?

Sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt einen Schluck Alkohol gebrauchen könnte und fand auf einem Beistelltisch eine angebrochene Flasche Eierlikör. Sie wusste, dass Karina Marie ihn selbst gemacht hatte. Er schmeckte wunderbar.

Jelke war tief gläubig. Was immer geschah, vom Anfang bis zum Ende, ergab für sie einen Sinn. Sie zürnte nicht mit ihrem Gott, dass er dieses entsetzliche Unglück zugelassen hatte, sie nahm es an. Schon deshalb, weil sie in ihrem Leben einen Gott sah, der sie frei agieren ließ, und sie stets, so glaubte sie, wieder aufhob, wenn sie gefallen war. Glaube und Vertrauen waren ihr Fundament, nicht ihre Zweifel, sonst hätte sie gar keine seelsorgerische Tankstelle für andere Menschen sein können.