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Es waren die ersten Lebenden, die ich seit fast einer Woche traf, doch meine Begeisterung darüber hätte nicht bescheidener ausfallen können. Sie waren zu dritt, ein sehr junger Weißer, der mich fatal an Sid Vicious erinnerte, ein sehr junger Schwarzer, den ich auch ohne nur die geringste Ähnlichkeit mit dem Punksänger ungerechterweise Johnny Rotten taufte, und ein Dritter, den ich nur als Schemen auf dem Beifahrersitz sehen konnte. Die Youngster waren beide unterernährt, bewaffnet mit AKs – was sonst? – und machten einen wie auch immer gehetzten Eindruck. Leute unter Schock, auf der Flucht, Zeugen oder Beteiligte von etwas Dramatischem, so was in der Art. Aufgekratzt, mit unsteten Blicken in Augen, die für ihre jungen Jahre schon zu viel gesehen hatten, kurz angebunden, mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Ich trat zu ihnen, Bella dicht an meinem Bein, auch sie angespannt. Wenn ihr eine Situation nicht behagt, gibt sie ein Knurren von sich, so tiefgestimmt, dass man es mehr spürt als hört.

»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte Sid sachlich in einem Cockney-gefärbten Englisch.

Ich nickte ein Nicken, das Verständnis seiner Worte signalisieren, aber nichts darüber Hinausgehendes versprechen sollte. Schwierig, ich weiß. Sinnlos, obendrein. Egal, was sie vorhatten, egal, was sie von mir wollten, ich hatte keinen wirklichen Verhandlungsspielraum.

Johnny hockte sich auf einen Felsen und behielt mich und Bella abwechselnd in nervösem Blick. Er schien nicht viel zu sagen zu haben.

»Du bist nicht zufällig Arzt?«

Ich schüttelte energisch, geradezu kategorisch den Kopf. Es nutzte mir nichts. Sid winkte mich mit sich zur Beifahrerseite des Pick-ups, wo der Dritte bei offener Tür saß. Die ganze rechte Flanke des Wagens entlang zog sich eine Spur von Einschusslöchern, die Ränder frisch und silbergrau, wo es den weißen Lack weggefetzt hatte. Ich begann zu verstehen. Kaum etwas rüttelt einen so durch wie unter Beschuss zu geraten.

Der Mann auf dem Beifahrersitz war schon älter, ach was, er war alt. Ein hageres, tief zerfurchtes Gesicht, ungesund bleich unter der dunkelbraunen Haut, ums Kinn ein mit Grau durchsetzter, dichter Gabelbart, eine Fellmütze auf dem Kopf, und das bei diesen Temperaturen. Afghane, ich war mir fast sicher. Er wandte mir den Kopf zu, die Augen schmal, Mimik und Bewegung steif vor Schmerz. Er trug eine bestickte Weste über einem bauschigen weißen Hemd, dazu eine Containerhose in Camouflage. Weste, Hemd, Hosenbund und selbst der Sitz darunter waren schwarz vor Blut, das offenbar weiterhin aus einer nicht sehr gekonnt verbundenen Verletzung an der linken Schulter quoll. Kein Wunder, dass er so bleich aussah.

»Ich fürchte, ich kann da nichts tun«, sagte ich ehrlich.

Er versuchte zu sprechen, winkte mich näher zu sich. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, beugte mich vor und spürte etwas Rundes, metallisch Kühles mein T-Shirt hochschieben und sich in meine linke Schulter bohren. Der Afghane krächzte etwas, das ich ohne jede Kenntnis seiner Sprache glasklar als ›Hilf mir oder teile mein Schicksal‹ verstand. Beflügelnd, es gibt kein anderes Wort dafür.

Die Größte der Gasflammen des Herds fauchte unter dem Nudeltopf. Zwischen Werkbank und Schreibtisch waren zwei stählerne Böcke untergebracht, die ich hervorzog und im Rausgehen Johnny zuwarf. Von der Seitenwand des Trucks löste ich die beiden Sand­bleche, legte sie oben auf die Böcke, darauf rollte ich eine Isomatte aus und ging wieder rein. Ich fand eine Aldi-Tüte, die ich mit der Öffnung über den jetzt schnell heißer werdenden Kochtopf stülpte und mit Gaffer-Tape notdürftig fixierte. Die Youngster bug­sierten den Afghanen Schritt für Schritt zu unserem improvisierten OP-Tisch, während ich die Anästhesie vorbereitete. Kaum lag der alte Mann, stellte ich den Klapptisch mit Brenner, Alufolie und einer Stange Opium neben ihn. Er nickte und brauchte offenbar keinerlei Instruktionen. Sid, unverkennbar aus einer sozialschwachen englischen Vorstadt, dessen punktvernarbte Arme mir so ziemlich alles über ihn erzählten, sah das Opium, sah zu mir, wieder zurück und schluckte sichtbar. Ich wies ihn an, dem Afghanen Weste und Hemd auszuziehen und den Verband vom Leib zu schneiden. Johnny, dem irgendwie alles Städtische abging, der auf eine ungelenke Art mehr wirkte wie ein afrikanisches Landei, mehr Kral als Kiez, konnte seine Augen nicht von Bella lassen, die wieder­um seine Angst spürte, was sie noch misstrau­ischer und knurriger machte. Wenn ein Bewaffneter sich vor deiner Hündin fürchtet, bist du gut beraten, sie aus der Schusslinie zu holen, deshalb nahm ich sie mit rein, schloss die Tür.

Die Aldi-Tüte blähte sich prall mit Dampf gefüllt über dem Topf. Ich stellte das Gas aus, pellte die Tüte ab. Unter der Werkbank fand ich die übliche, angebrochene und schon lange zu Gummigelee erstarrte Silikonkartusche, schraubte und zerrte die Spitze ab, schnitt sie mir passend und zog sie kurz durch das noch ganz leicht kochende Wasser.

Draußen hatten sie inzwischen den Oberkörper des Afghanen, dem dünner Opiumqualm aus allen Kopföffnungen quoll, freigelegt. Einer der Vorbesitzer des Trucks hatte eine Schwäche für hochprozentigen

Wodka und mir einen Karton voll hinterlassen. Ich schnappte mir eine der Pullen und riss im Rausgehen noch einen Meter Küchenkrepp ab.

Während ich das Wundumfeld mit Wodka abrieb, besah ich mir die Verletzung. Schusswunde, Eintrittsloch vorn wie oft eher klein, Austrittsöffnung hinten glücklicherweise nicht allzu groß. Blut quoll nur aus der vorderen Wunde, was mir nicht gefiel.

Mein Vorhaben war, die Verwundung im Ganzen, von vorn bis hinten, zu säubern. Natürlich hätte ich ihn auch einfach nur neu verbinden und mit einem aufmunternden Klaps weiterschicken können, doch wir befanden uns zwei Tage von der nächsten Oase entfernt, ein Zeitraum, der bei einer solch tiefen und zweifellos verschmutzten Verletzung eine sichere Entzündung bedeutete. Gründlich säubern und verbinden war das Mindeste und das Einzige, was ich für ihn tun konnte. Sollte sich herausstellen, dass eine Arterie zerfetzt war, würde er das Ende des Tages nicht mehr erleben, sollte ein Knochen verletzt sein, könnte er die Schulter verlieren, und den Arm dazu. In beiden Fällen, so spürte ich, würde man den Deutschen mit dem komischen Truck zumindest mitverantwortlich machen. Alles, was ich also tun konnte, tun musste, war die imminente Entzündungsgefahr so gut es ging einzudämmen und dann aufs Beste zu hoffen. Die Wüste ist eine absolute Scheiß­gegend, um sich Feinde anzulachen. Du weißt nie, wann und wo du sie wiedertriffst.

Drinnen im Truck schnitt ich eine Ecke der mit Dampf sterilisierten Aldi-Tüte ab, drückte die Kartuschenspitze hindurch und befestigte sie mit Gaffer-Tape. Das Wasser im Topf war inzwischen so weit abgekühlt, dass man die Finger reinhalten konnte, wenn auch nur kurz. Doch ich wollte es heiß.

Der Afghane musterte mich reglos, wie ich, Tüte unterm Arm, Verbandskasten unterm anderen, Kochtopf in Händen, die Tür hinter mir schloss. Johnny stand an seiner Seite, also reichte ich ihm den Topf, bedeutete dem Afghanen, sich hinzulegen und so weit nach oben zu rutschen, dass die Schulter ins Freie ragte. Er tat, wie verlangt, hielt aber dabei wie die ganze Zeit schon eine Hand auf seiner Pistole, eine Attitüde, die ich mir fest für meinen nächsten Zahnarztbesuch vormerkte.

Ich fragte: »Bereit?«, und er nickte. Dann nahm ich die Tüte, drückte die Kartuschenspitze in die Eintrittswunde, der Afghane saugte Luft zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch, ich hielt die Tüte auf, befahl Johnny, das Wasser hineinzuschütten, und, als das passiert war, verzwirbelte ich die Tüte obenrum und presste sie so fest ich nur konnte zusammen. Der Afghane war ein zäher alter Knochen und hatte obendrein mittlerweile genug Opiat in den Adern, um eine ausgewachsene Kuh von den Hufen zu holen, und trotzdem schrie er mir dermaßen gellend ins Ohr, dass es noch Minuten später darin klingelte. Doch die Spülung funktionierte, was immer den Schusskanal blockiert hatte, prustete raus, gefolgt von schönem, rotem Blut. Und erschossen hat er mich auch nicht. Ein flotter erster Verband unter der Achsel hindurch, je ein dicker Wattebausch auf beide Wunden, ein strammer zweiter Verband um die Brust und unter der Achsel hindurch und das Ganze noch zweimal rum, und das Operationsteam trat geschlossen einen respektvollen Schritt zurück, um in spontanen, minutenlangen Applau-

Ein wütendes Kläffen, mein Kopf fuhr herum, wo ich Sid rückwärts die Treppen des Trucks runtertaumeln und unten auf den Arsch fallen sah, grimmig beobachtet von Bella, oben auf der Treppe. Wollte wohl mal nachsehen, ob ich drinnen noch mehr von dem guten Zeug gebunkert hatte, der kleine Scheißkerl. Noch auf dem Hintern riss er seine Waffe hoch, zielte auf Bella. Ein Schuss peitschte, Sid gefror mitten in der Bewegung und wir sahen uns an, ich über den leicht zitternden Lauf der Pistole des Afghanen hinweg. Nicht gesichert, das Ding, da knallt’s dann schon mal, wenn jemand wie ich danach grapscht.

Ich sagte erst mal nichts, hielt die Pistole auf die englische Vorstadtratte gerichtet, ging seitwärts zum Truck, die Treppe hoch, bugsierte Bella mit dem Hintern zurück in den Aufbau und schloss die Tür von draußen mit dem Fuß. Sid und ich zielten weiter aufein­ander, Johnny lugte aus der Deckung des Pick-ups, AK im Anschlag. In Momenten wie diesen fließen tausend Schweißtropfen und du spürst jeden einzelnen davon.

›Und jetzt?‹, stand riesengroß im Raum, und keiner von uns dreien schien darauf eine Antwort zu haben.

Der Afghane hatte sich aufgesetzt, hielt sich den linken Arm, blickte stoned und genervt zugleich drein, bellte einen kurzen Befehl in die Runde, worauf Sid und Johnny langsam ihre Waffen sinken ließen, rutschte vom Tisch und kam Schritt für Schritt zu mir gehumpelt, verlangte seine Waffe zurück. Er hatte die Situation unter Kontrolle, nichts würde geschehen, ohne dass er es anordnete, und was er befahl, würde passieren, ohne dass jemand widersprach. Er wirkte, als ob er sein Leben lang Kommandos gegeben hätte.

 

Ich packte die Pistole beim Lauf und händigte sie ihm aus. Er nickte, prüfte den Stand der Sonne, blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren, und sagte etwas auf Arabisch, das wie ›Abmarsch‹ klang. Sid antwortete auf Englisch, dass sie nicht genug Benzin hätten. Johnny klopfte gegen den Tank des Trucks und fragte: »Gazole?« Es war das erste Wort, das er bisher geäußert hatte. Ich nickte. Die drei steckten die Köpfe zusammen, und ich sah sie schon fröhlich mit meinem Laster davonfahren, während mein Gerippe in der Sonne bleichte.

Ich sagte: »Moment«, ging zur andern Seite des Trucks, wo eine Halterung voller Zwanzig-Liter-Kanister unterm Aufbau hängt, zog zwei davon raus, trug sie zum Toyota und stellte sie ab. »Benzin«, sagte ich. Gefunden, auf dem Dach eines gestrandeten und verlassenen Pkws, und mitgenommen, für eine Gelegenheit wie diese. Man hilft ja, wo man kann.

Johnny öffnete die Kanister, roch dran, verschloss sie wieder und packte sie in den Pick-up, der Afghane nahm den Bunsenbrenner und den Rest des Opiumstabes an sich, ließ sich vorsichtig auf den Beifahrersitz sinken, Johnny schwang sich hinters Lenkrad, Sid kletterte auf die Ladefläche, nahm mit dem Rücken zur Fahrerkabine Platz, der Motor des Toyotas sprang an und sie fuhren los.

Gern geschehen, dachte ich gallig, und beehren Sie uns nicht wieder, als Sid seine Waffe ruckartig hochnahm und einen Schuss abfeuerte, nur einen, doch den in die Hecktür des Trucks, auf Kniehöhe. Ich stand geschockt da, er schwenkte die Waffe in meine Richtung, zielte, ich stand immer noch, wie gelähmt, erwartete die spitze Flamme aus dem Rohr schießen zu sehen und den fürchterlichen Aufprall zu fühlen, der dich von den Beinen reißt, dir den Atem raubt und, sofern du noch lebst, den Tod in gleichem Maße fürchten wie herbeisehnen lässt. Doch Sid grinste nur mit seinen Cola-Zähnen, nahm die Waffe runter und zeigte mir den Finger. Ich starrte ihm hinterher, bis ihn die Staubwolke des Toyotas verschluckte. Dann rannte ich zum Truck.

Meine Hand auf der Türklinke zitterte. Ich drückte sie runter, zog die Tür auf, Bella und ich sahen uns an und betrachteten dann noch eine ganze Weile die zipfelförmige Ausbuchtung im Alublech der inneren Türbekleidung. »Wenn du willst«, sagte ich und schlang meinen Arm um ihren Hals, zog sie zu mir, »suche ich und finde ich und töte ich dieses Arschloch.«

Sie lehnte sich gegen mich und leckte mir über die Wange. Wenn es nach ihr ging, waren wir fertig mit dem Thema, doch ich habe einen Charakterzug, manche sagen: einen -fehler, mit dem ich schon mein ganzes Leben lang konform gehe: Ich bin nachtragend.

Vermutlich jeder einzelne der zahlreichen Vorbesitzer hat ein paar Änderungen vorgenommen, nachdem sie den Truck gekauft hatten. So auch ich. Eine davon war, die Innenseite der Rückwand mit zwei Lagen Reifengummimatte und dickem Aluriffelblech zu armieren, eine, wie sich gerade gezeigt hatte, vorausschauende Entscheidung.

Der Toyota verschwand am Horizont. Sie hatten es eilig, als ob sie vermuten würden, verfolgt zu werden. Ich fragte mich, was das für mich bedeuten könnte, wenn bald schon die nächste Horde Bewaffneter angeprescht kommen sollte. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nix mehr, war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Mann, ich war alle. Also machte ich das in meinen Augen einzig Gescheite. Räumte auf. Wusch das Blut von der Isomatte, hängte die Sandbleche zurück, faltete die Böcke zusammen und verstaute sie. Irgendwas roch hartnäckig nach Schießpulver. Ich nahm meine rechte Hand hoch, schnupperte dran – sie war’s – und stellte zu meiner Verwunderung fest, dass sie den Hals der Wodkaflasche umklammert hielt.

Eine halbe Stunde später befand ich mich seelisch wieder halbwegs im Gleichgewicht. Seelisch, wie gesagt. Körperlich war ich möglichweise ein ganz klein wenig außer Balance, einen Hauch wackelig auf den Beinen, aber egal.

Die Sonne sank. Ich hantierte herum, sprach eine Menge mit Bella, kochte ihr aus Kartoffelflocken, Trockenmilch, Öl und Wasser einen schönen Topf Püree, das sie liebt. Einmal dabei, setzte ich einen Hefeteig an und stellte ihn abgedeckt auf die Werkbank. Im Küchenschrank fand ich eine Dose gebackene Bohnen, die ich mit nach draußen nahm und zehn Schritte weit wegtrug, ehe ich mit abgewandtem Gesicht die Deckellasche zu mir zog. Doch nichts sprühte übelriechend in die Gegend, also machte ich mir die Bohnen warm, tat zu viel gekörnte Brühe und viel zu viel Chili dran, was aber irgendwie total gut mit zu viel Wodka harmonierte, echt ein Geheimtipp. Ich schlabberte mir das Zeug rein, torkelte eine Weile unter den Sternen herum, bis ich irgendwann meine Decken rausholte, mich einmuckelte und darauf wartete, dass die Milchstraße zu rotieren begann, oder zumindest zu dröhnen.

Was immer du dir abends mithilfe von Alkohol vom Leib schaffst, es holt dich am nächsten Morgen wieder ein wie ein Bumerang vor die Birne. In meinem Fall war es das zutiefst beunruhigende Gefühl, in die Läufe von gleich zwei Sturmgewehren geblickt zu haben. Warum der Afghane mich verschont hatte, blieb mir schleierhaft, aber die nüchterne Erkenntnis war, dass ich ohne seine Autorität diesen Morgen nicht gesehen hätte. Womit die Frage aufkam, was wohl anstünde, sollte der alte Mann die Nacht nicht überlebt haben. Zeit zu verschwinden, entschied ich. Zeit, mich zu verlieren, bis ich selbst nicht mehr wusste, wo ich war.

Ich weiß nicht, ob es gute Orte gibt, um mit einem Wod­ka-Schädel aufzuwachen, aber selbst im Vergleich zu einer russischen Ausnüchterungszelle gehört die Wüste definitiv nicht dazu. All das unausweichliche grelle Licht und die rasch steigende Hitze haben brutal entziehende Tendenzen. Ich kochte mir einen steifen Pfefferminztee, den ich mitnahm, als Bella und ich noch mal hoch auf die Felsen stiegen, wo ich mich nach allen Seiten umsah. Keine Staubfahnen, überhaupt keine Anzeichen von Bewegung irgendwo. Grandiose Menschenleere, Balsam für die Nerven.

Zurück im Truck mischte ich Trockenfutter mit Püree und sah zu, wie Bella sich mit einem Ausdruck nahe der Verzückung darüber hermachte. Mir selbst reichte ein Keks, und noch ein Tee gegen den trockenen Hals. Becher in der Hand, drehte ich eine Runde um den Truck, kontrollierte, ob alles reisefertig ist. Etwas wie ein Schatten war über mein Nomadendasein gezogen, eine neue Verunsicherung, eine gefühlte Notwendigkeit, den Risikofaktoren der Gegend besser gewappnet zu begegnen. Nur einer nachsichtigen Laune des Afghanen gehorchend noch am Leben zu sein, weckte den intensiven Wunsch, nicht noch mal eine solche Ohnmacht erleben zu müssen. Ich musste Mombassa sehen, mir seinen Rat holen. Also zurück nach Tamanrasset, mehr oder weniger meinen Spuren folgend. Eher weniger, beschloss ich. Wir waren so ziemlich mittig durch die beiden großen Ergs hergekommen, doch die Mitte ist in dem Fall die naheliegendste Route, mit den wenigsten Verwerfungen und damit einfacher zu fahren und ökonomischer, was den Spritverbrauch anging, immer ein Thema, wenn liegenzubleiben dich mehr kosten kann als nur ein bisschen Zeit und Ungemach. Demnach ist die naheliegendste Route aber auch die, auf der man am ehesten Verkehr begegnet, etwas, auf das ich im Moment noch weniger Bock hatte als eh schon. Mein Dieselvorrat war ausreichend, um einen Tag oder auch zwei durch eine der den Ergs vorgelagerten, mittelschweren Dünenformationen in Kauf nehmen zu können. Ich musste mich nur entscheiden, welche. Die südliche würde größere Nähe zur Grenze bedeuten und damit ein höheres Risiko, von misstrauischen Pa­trouillen gestoppt und unter die Lupe genommen zu werden. Seit die EU Milliarden in die Kontrolle der Grenzregionen der südlichen Sahara pumpt, um schwarzafrikanische Migranten möglichst früh abzufangen und erst gar nicht mehr bis zum Mittelmeer kommen zu lassen, quert man diese Grenzen am besten zügig und im stumpfen Winkel, man jückelt nicht an ihnen entlang. Deshalb fiel es mir nicht schwer, mich für die nördliche Variante zu entscheiden. Also los.

Irgendwie fühle ich mich immer besser, sobald ich am Steuer sitze und unterwegs bin. Die Illusion von Kontrolle, wahrscheinlich, das Gefühl, mit dem Lenkrad in der Hand und dem Fuß auf dem Gas Herr über sein Schicksal zu sein. Nun denn, ich gab mich ihm hin. Wir rollten in Richtung Osten, über festen Grund, dem neu aufkommenden Wind entgegen, der die Staubfahne hinter uns verwirbelte. Das Vorwärtskommen verlief problemlos, die Sicht war frei, die Ebene verlassen.

Gegen Mittag hielt ich an, kletterte auf den Dachgepäckträger. Wir waren der Mittelpunkt eines kreisrunden Horizonts, und nach wie vor allein. Allmählich löste sich meine Beklemmung. Wie lange war ich hier jetzt schon unterwegs? Und was war mir bisher zugestoßen? Ein paar unangenehme Begegnungen, aber die hat man am Rhein-Herne-Kanal genauso. Ordnungsamtsmitarbeiter, um nur ein Übel beim Namen zu nennen. Gestern war eine Ausnahmesituation gewesen, aber zusammen mit dem Fund der beiden toten Briten auch ein Weckruf. Wollte ich mich und meinen Hund besser schützen, musste ich etwas ändern, das war beschlossene Sache.

Nach einem ausgiebigen Nickerchen vertraten Bella und ich uns die Füße, fanden die Gegend aber bald langweilig und nahmen unsere Plätze in der Fahrerkabine wieder ein.

Gegen Abend bekamen wir den ersten weichen Sand unter die Reifen. Da sich das die nächsten beiden Tage kaum ändern würde, hielt ich an und holte das Manometer aus der Werkzeugkiste. Die Wüstentruckreifen haben flexiblere Flanken als normale Lkw-Reifen, so dass man Druck ablassen kann, bis sie unten in die Breite gehen, ohne damit die Karkasse zu schädigen. Wer jemals den Fuß eines Kamels betrachtet hat, wird ahnen, woher die Inspiration für diese Konstruktion gekommen sein mag. Reifen weich und breit, fuhren wir weiter, bis die Sterne aufgingen, und stoppten dann hinter einer der ersten richtigen, sich über die wellige Fläche erhebenden Dünen. Die Mondsichel kam über den Horizont gekrochen, ich holte Tisch und Stuhl raus, fütterte Bella. Mir selbst rührte ich eine Paste aus Kräutern, Tomatenmark und Öl zusammen, knetete den tags zuvor angesetzten Hefeteig durch, rollte ihn auf einem Backblech aus, schmierte die Paste obendrauf und schob das Blech in den Ofen. Ein paar Minuten später war die Pizza fertig, dazu eine Kanne Tee. Ich nahm beides mit hinaus.

Keine Drogen heute, nur ein vernünftiges Abendessen, ein ausgedehnter Spaziergang, eine lange, kontemplative Betrachtung des Himmels, begleitet vom kaum wahrnehmbaren Zischeln, das der Sand verursacht, wenn ihn der Wind bewegt.

Ich erwachte erholt und voller Tatendrang. Wälzte mich aus meinen Decken, stand auf, sah mich blinzelnd um. Der Wind hatte zugenommen, sein Sandgehalt auch. Unsere Spuren vom Vorabend waren weggeblasen, sowohl die Reifen- als auch die Fußspuren, nicht mal mehr zu ahnen. Was einen beim Anblick von Wüstendünenlandschaften immer am meisten in den Bann schlägt ist dieser Eindruck vollkommener Unberührtheit, die sich am ehesten mit Neuschnee vergleichen lässt. So gesehen fühlt man sich hier jeden Morgen aufs Neue wie der Zeitungsbote nach einem stürmischen nächtlichen Wintereinbruch. Okay, ohne die Kälte, die nassen Socken und die ganzen verfluchten Zeitungen, natürlich. Und ohne dass einem die übereifrigen Räumfahrzeuge die ganze Pracht noch vor dem Morgengrauen zu unansehnlichen Haufen zusammenschieben und den Rest mit Streusalz in Matsch verwandeln. Aber so ähnlich, halt. Vollkommene Unberührtheit, unglaubliche Weichheit der Linien, atemberaubende Schönheit, das war, worauf ich hinausgewollt hatte, bevor es ein bisschen mit mir durchging.

Der Tag wurde bei allem Liebreiz der Umgebung fahrerisch hart, lang und zäh. Im weichen Sand musst du dir Zeit lassen, mit einem nervösen Gasfuß kommst du meist nicht weit. Das Beste ist, man schraubt das Standgas hoch, legt sämtliche Sperren ein, wählt einen Gang, mit dem der Motor glücklich zu sein scheint, und lässt den Truck sich seinen Weg durch die Dünen bahnen wie ein Schiff durch raue See. Mein Job dabei war, die Richtung im Auge zu behalten und alles zu umkurven, was mir zu hoch oder zu steil vorkam.

Gegen Mittag hielt ich an, stieg aufs Dach und ließ meinen Blick schweifen über eine Welt aus Sand. Zum Glück ist Wüstensand zu rundkörnig für die Betonherstellung, sonst wäre die halbe Sahara wohl schon längst durch den Mischer gewandert und irgendwo auf der Welt zu kantiger Infrastruktur erstarrt.

 

Bella und ich teilten uns eine Decke, rollten uns im Schatten zusammen und verschliefen die Mittagshitze. Danach brühte ich mir einen Instantkaffee, kippte ihn in einen Thermobecher, den ich mit nach vorn nahm. Wir fuhren mit kurzen Pausen weiter, bis die Dunkelheit hereinbrach, und dann noch ein Weilchen. Der Mond nahm jetzt Nacht für Nacht weiter zu, sein Licht hell genug, um bei langsamer Fahrt die Scheinwerfer aus lassen zu können, was ich auch tat. Irgendwann wurde ich müde und Bella unruhig, und ich war drauf und dran, anzuhalten, als es am Horizont vor uns aufblitzte. Dann noch mal. Ich ließ den Truck noch eine Düne erklimmen, stoppte. Scheinwerfer wippten über einen Kamm, verschwanden in einem Tal, leuchteten gen Himmel, in unsere Richtung, in die Tiefe, verschwanden, nur um gleich darauf wieder aufzutauchen. Ein leichtes Geländefahrzeug, das sich mit einigem Tempo auf uns zubewegte. Noch war die Distanz zu groß, als dass sie uns hätten sehen können, unbeleuchtet, wie wir waren, doch schon bald würde das anders sein. Was ich bei meiner Routenwahl möglichst nah am nördlichen Erg vorbei nicht recht bedacht hatte war, hier unter Umständen auf Leute zu treffen, die genau wie ich nicht gesehen werden wollten.

Ich kuppelte ein, der Truck senkte seine Nase, ich drehte das Lenkrad nach links, Richtung Norden, Richtung Erg. Wir wühlten uns durch ein mäanderndes Dünental, dessen Hänge links und rechts beständig steiler wurden, unpassierbarer, bis nach einer Biegung Schluss war. Wir hatten uns in einen Trog vorgearbeitet, eine Sackgasse. Ich brauchte die Bremse nicht zu berühren, in Sand von dieser Tiefe trittst du die Kupplung und stehst.

Hier würden wir bleiben, entschied ich, und uns morgen bei Tageslicht irgendwie wieder rausackern aus diesem Labyrinth.

Ich ließ die Treppe runter und nahm Bella mit auf einen Erkundungsgang. Wir erklommen die nächste Düne, schweißtreibend selbst in der Kühle der Nacht, der Untergrund weich wie Babypuder, so dass längst nicht jeder Schritt bergan auch einen Höhengewinn brachte, doch schließlich erreichten wir den Kamm, s-förmig geschwungen in sanftem Auf und Ab, flirrend hell auf der Mondseite, anthrazitgrau auf der anderen. Wir kamen gerade rechtzeitig, um einen weißen Pick-up passieren zu sehen, zwei Personen stehend hinter der Fahrerkabine, also wahrscheinlich vier Mann insgesamt. Sie kamen ungemütlich dicht an uns vorbei, vor allem wegen unserer Reifenspuren, doch es war Nacht, die Spuren undeutlich, und der Pick-up fuhr, ohne zu verzögern, weiter in Richtung Westen.

Beruhigt drehte ich mich um und stoppte mitten in der Bewegung. Gegenüber, zwei Dünen weiter, klebte ein schwarzer Kasten am Hang. Auf halber Höhe, schwarz und glänzend. Ein G-Klasse-Mercedes, und auf einer Seite davon, im Schatten von Mond und Wind, saß eine Gestalt mit dem Kopf auf der Brust. Als ob sie schliefe, oder mich unter gesenkten Brauen hervor beobachtete, in ihrem Schoß etwas, das auf einer Seite in einem matt glänzenden Metallrohr endete. Natürlich hätte es ein Golfschläger sein können, eine Angelrute oder ein längliches Blasinstrument. Trotzdem war mir einen Moment lang danach, mich hinter die Düne zu werfen und einen Umweg zurück zum Truck in Kauf zu nehmen. Aber die Gestalt rührte sich nicht, ließ mir Zeit, die Situation einzuschätzen. Mein Blickwinkel war nicht ideal, doch schien mir die G-Klasse bis zum Bodenblech eingesunken zu sein, viel problematischer geht’s nicht, und das schon länger. Reifenspuren gab’s keine mehr und, jetzt wo ich genau hinsah, auch keinerlei Fußspuren. Bella hob die Nase und ließ ihr Wolfsheulen hören, bestätigte damit meine Vermutung, dass die Gestalt da wohl schon länger saß.

»Lass uns nachsehen«, sagte ich, und wir machten uns auf den Weg.

Man nennt es das Grinsen der Verdörrten, das eintritt, wenn sich die Gesichtshaut im Mumifizierungsprozess zusammenzieht und die Zähne freilegt. Kein schöner Anblick, aber zeig mir eine schöne Leiche. Ich stieg daran vorbei, setzte mich einen Meter oberhalb in den Sand und bat den Toten, mir seine Geschichte zu erzählen. Er trug einen teuer aussehenden Anzug, dazu gepflegte Halbschuhe. Seinen Händen entglitten, quer über seinen Oberschenkeln, lag eine Automat Kalaschnikow 47 – was sonst? Er trug einen Anzug, wie jemand, der erwartet hatte, die Wüste vollklimatisiert und völlig problemlos mit seinem Luxus-SUV zu queren, und den dann irgendetwas von seiner geplanten Route weg- und schließlich halb eine sechzig Meter hohe Wanderdüne hochgejagt hatte. Vor einiger Zeit. Sein Auto war mittlerweile auf einer Seite bis fast an die Türgriffe zugeweht, und auch auf der windabgewandten Seite begann sich der Sand um die Ecken zu schmiegen.

Noch einer, dachte ich kopfschüttelnd. Als ob ich’s drauf anlegte, als ob es ein morbides Hobby von mir wäre. Oder als ob ich es bezahlt bekäme. Morgen würde ich den Fund dokumentieren, wie die anderen. Doch morgen erst.

»Abendbrot?«, fragte ich Bella, und sie führte mich mit großer Bereitwilligkeit auf dem kürzesten Weg dorthin.

Soweit bei Tageslicht feststellbar, hatte der Mann im Anzug keine äußeren Verletzungen, keine Löcher im Kopf oder sonst wo, das heißt, er war seinen Verfolgern erfolgreich entkommen, nur um dann der Wüste zum Opfer zu fallen, oder besser gesagt: der Hitze, der Trockenheit, der Isolation. Die Wüste bringt niemanden um, sie hat kein Interesse daran. Zu seiner Rechten stand, schon halb voll Sand geweht, ein aufgeschnittener Wasserkanister. Zum Schluss trinken sie immer das Kühlwasser.

Ich bückte mich und nahm mit einer im Grunde unnötigen, pietätvollen Vorsicht die Waffe an mich. Sein Gürtel war, wie mir dabei auffiel, gelöst, die Hose stand offen. Ganz zum Schluss trinken sie dann ihren eigenen Urin.

Der Gürtel erschien mir in der Mitte dicker als entlang der Nähte und – ich schnickte die Schnalle mit dem Finger beiseite – war auf der Innenseite mit einem Reißverschluss versehen. Ich packte die Schnalle, zog dran und der Lederriemen glitt geschmeidig aus den Schlaufen. Er war schwer genug, um jemanden damit zu erschlagen. Ich schnallte ihn mir um die Hüften.

Die G-Klasse war auf der Flanke mit ›Biturbo V8‹ beschriftet und hatte reguläre holländische Kennzeichen. Ich machte ein paar Fotos. Das Wageninnere präsentierte sich wie neu, feinstes, weiches Leder und all die anderen als luxuriös empfundenen Materialien, die Kunden dieser Preisklasse so erwarten dürfen. Im Kofferabteil drängten sich Benzinkanister, auf der Rückbank lagen zwei Sporttaschen voll Anzieh­sachen und Reiseutensilien. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Im Handschuhfach fand sich ein holländischer Pass mit dem Foto eines unauffällig aussehenden Mannes mittleren Alters mit holländischem Namen. Ich schoss ein Bild. Der Pass wies kein algerisches Visum oder einen entsprechenden Einreisestempel auf. Nicht dass mich das etwas anginge. Ich speicherte die GPS-Daten. Verabschiedete mich mit einem Nicken. Mit einem Nicken, seinem Gürtel und seiner Wumme. Ich weiß, es nennt sich Leichenfledderei und ist der gesellschaftlichen Ächtung unterworfen, doch rational betrachtet enden sämtliche Besitzansprüche mit dem Ableben des Inhabers, und ich mag sie nun mal, die rationale Sicht.

Das bogenförmige Magazin des Gewehrs war voll, die Waffe als solche deutlich abgegriffen, wirkte gleichzeitig aber auf diese ernste, nüchterne Art, die Schusswaffen so an sich haben, absolut funktionstüchtig. Ich packte sie zu dem kurzläufigen Revolver der Briten und ihrem Senfglas voll Opium in das Fach für meine diskreteren Besitztümer. Dafür hatte ich, kurz nach Erwerb des Trucks, einen obenrum aufgeflexten Tank im Zwischenraum des Leiterrahmens unter dem Aufbau installiert, danach, zusammen mit der Rückwand, den Boden des Aufbaus mit Riffelblech ausgelegt, wobei die Sektion über dem Tank als aufnehmbarer Deckel fungiert. Ein paar dicke Fetzen Schaumstoff sorgen dafür, dass die Dinge in diesem Abteil ruhig liegen.

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