Herr Wunderwelt

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Neigte sich die Saison der Russischolympiaden ihrem Ende entgegen, begannen die Rezitatorenausscheide. Ich verbuchte sie als zusätzliche Trainingseinheit. Die Vorbereitungen waren ein Klacks, gemessen an dem Aufwand, den ich für die Russischolympiaden betrieb. Ich blätterte in den Lesebüchern der höheren Schuljahre und suchte ein Gedicht aus. In der sechsten Klasse fiel meine Wahl auf John Schehr und Genossen von Erich Weinert. Das passte. Das Gedicht leierte ich am Nachmittag wieder und wieder herunter, zog die Verszeilen in die Länge, senkte die Stimme am Versende, flüsterte, fauchte, brüllte und probierte beim nächsten Versuch eine neue Version. Die Ballade gehörte mir. Ich war John Schehr. Ich war 1933 nach der Verhaftung Ernst Thälmanns Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands geworden. Ich wurde verraten und im Wald mit drei Nahschüssen von Nazischergen erschossen. Als ich im Kinderzimmer übte und meine Meuchelmörder anprangerte, kamen mir die Tränen. Das durfte mir beim Rezitatorenausscheid nicht passieren. Ich stellte den Wecker. Mitten in der Nacht sprang ich auf, stellte mich neben mein Bett und rezitierte. Wenn ich nicht heulte, durfte ich weiterschlafen. Sonst begann ich von vorn.

Selbstverständlich war die Delegation zum Kreisausscheid mein Ziel. Dann würde der Page 40Bezirksausscheid locken. John Schehr und Genossen half mir, meinen Klassenstandpunkt zu festigen. Unsere Republik war auf dem richtigen Weg. Die Kaufhalle in Schkopau war zum fünfundzwanzigsten Gründungstag der DDR eröffnet worden. Wer darüber meckerte, weil es dort irgendetwas nicht zu kaufen gab, hatte John Schehr und Genossen nicht begriffen. Manche Kühltruhen in der Kaufhalle waren noch leer. Sie würden später im Kommunismus gefüllt werden. Aber man hatte sie für die Zeit des Kommunismus schon hingestellt. Im Kommunismus gab es kein Geld mehr. Jeder würde sich dann das nehmen, was er brauchte. Statt sich darauf zu freuen, wurde vor den leeren Kühltruhen gemault, gelästert, gezetert, gestöhnt, und manche sahen so aus, als würden sie am liebsten in die Truhen kotzen. Ich war umgeben von Konterrevolutionären, Maulhelden und hinterlistigen Kleinbürgern. Als ob die Leute hier etwas auszustehen hatten. Es fehlte ihnen an nichts. In der Werbung des Westfernsehens wurden immer prall gefüllte Obstregale gezeigt. Das war alles bloß Plastikobst, und die Kunden mussten die Werbung dort bezahlen. Die meisten Schkopauer hatten sowieso eine Vorratsmacke. Herr Kretzschmar, unser Nachbar, legte auf seinem Wochenendgrundstück in Borkwalde ein unterirdisches Depot an, in dem er Hunderte Liter Benzin bunkerte, weil er glaubte, das Benzin werde in der DDR bald rationiert. Im Keller meiner Oma Martha befand sich ein Kleiderschrank, Page 41stets von unten bis oben gefüllt mit Spee-gekörntPackungen. Horten, das konnten hier alle. Und Gerüchte verbreiten. Das Gerücht, im Bunawerk würden nachts die Filter der Karbidschornsteine abgeschaltet werden, um Strom zu sparen, war eine Frechheit. In Schkopau roch es niemals nach Chemie, ganz im Gegensatz zum Leunawerk nebenan, wo ich mir die Nase zuhielt, weil es nach Schwefelwasserstoffen stank. Hier bei uns nie, und falls doch, dann nur ein ganz kleines bisschen. Wer das nicht mochte, konnte seine Fenster schließen. Ich mochte es, wenn durch Schkopau ein Hauch von Chemie wehte. So duftete der wissenschaftlichtechnische Fortschritt. Und statt darüber zu stöhnen oder sich in der Kaufhalle darüber aufzuregen, weil im Zeitungsregal immer nur die Sowjetfrau lag, hätte es manchem hier gut getan, seine Nase in diese Zeitschrift zu stecken. Sie war bunt und informativ. Ich erfuhr dort Neues über das Leben in der UdSSR, unserem wichtigsten Bündnispartner. An der Haltung zur Sowjetunion erkennt man einen Kommunisten, hatte Ernst Thälmann gesagt. Wie konnte es dann möglich sein, dass ausgerechnet die Sowjetfrau hier immer herumlag? Niemand außer mir schien sie zu kaufen. Die Schkopauer fragten immer nach Atze mit Fix und Fax, dem Mosaik oder FF dabei. Vielleicht lag es an dem Schild Such dir eine Zeitung aus / lies sie aber erst zuhaus. Das schreckte ab. Das Schild musste weg. Ich würde das mit Herrn Pfeiler besprechen. Wir griffen Page 42nicht hart genug durch. Im Katastrophenwinter 1978 war ich, zwölfjährig, zum Bürgermeister gegangen und hatte ihm vorgerechnet, wie viele Kilowattstunden Strom in unserer Industriegemeinde gespart werden konnten, wenn wir nach 22 Uhr die Straßenbeleuchtung ausschalteten. Wer hatte hier nach 22 Uhr noch etwas auf der Straße verloren? Wir kämpften nicht dafür, dass die Schkopauer sich nachts herumtrieben und am nächsten Tag in der Kaufhalle maulten. John Schehr hätte sich im Grab umgedreht.

Der Schulrezitatorenausscheid fand in der Aula der Lenin-Oberschule statt. Frau Mühlewind, Frau Schwarzbrod und Frau Brosche, die Deutschlehrerinnen, nahmen im Präsidium Platz. Am Vormittag hatten sie mit Diktaten genervt, jetzt spielten sie Jurorinnen. Sie hatten aus jeder Klasse zwei Rezitatoren bestimmt, die hier antanzen mussten. Für die meisten schien das eine lästige Pflicht zu sein. Sie standen auf und stellten sich neben das Präsidium. Während sie rezitierten, kritzelte die Jury mit ernsten Mienen auf ihre Zettel. Wie gebannt sah ich hin. Von den anderen Rezitatoren bekam ich wenig mit, ich war mit dem Entziffern der Kritzeleien beschäftigt. Schrieben sie nur Blödsinn, weil sie sich langweilten und wussten, dass sie im nächsten und übernächsten Jahr hier wieder sitzen würden? Einige Rezitatoren brachten sich von vornherein um ihre Chance, weil sie die falschen Gedichte ausgewählt hatten. Mit Humor konnte man hier keinen Page 43Blumentopf gewinnen, und schon gar nicht mit einem Liebesgedicht. Verse von Max Zimmerring standen hoch im Kurs.

Frau Brosche setzte ein Ausrufungszeichen. Ich sah es genau. Und Frau Schwarzbrod schielte zweimal auf den Zettel von Frau Mühlewind. Frau Mühlewind schielte zurück. Vielleicht kannten sie die Gedichte von Max Zimmerring schon auswendig und hörten sie zum achthundertfünfundsiebzigsten Mal. Zumindest sahen sie so aus.

Es war nicht ganz einfach, drei Lehrerinnen gleichzeitig im Auge zu behalten und ihre Notizen zu erforschen. Frau Brosche schrieb am deutlichsten und Wörter wie gut oder nein. Frau Mühlewind seufzte mehrmals. Das durfte nicht wahr sein. Hier wurden immerhin Gedichte rezitiert. Ich fühlte mich wie vor dem Zeitungsständer in der Kaufhalle.

Sabine Gebhard galt als beste Schulrezitatorin. Vermutlich, weil sie wie eine Fernsehansagerin lächelte, keinen einzigen Konsonanten verschluckte, sondern sie dem Publikum entgegen spuckte. Vor allem das T hatte es Sabine Gebhard angetan. Sie sprach es so deutlich aus, dass ich mich in Acht nahm, weil ich nicht nass werden wollte. Ihr Gedicht, Brechts Lob des Lernens, trug sie mit einer Mappe aus rotem Kunstleder mit goldenem Staatswappen vor. Mit dem Staatswappen hatte man immer den Joker in der Hand. Alle anderen hier mussten ihr Gedicht auswendig können. Sabine brillierte mit ihrer Kunstledermappe.

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Nach unseren Auftritten zog sich die Jury zurück und verkündete anschließend, wer am Wettstreit der Kreisrezitatoren teilzunehmen hatte. Nur wenige Namen wurden genannt. Die meisten in der Aula schienen froh zu sein, weil es sie nicht getroffen hatte. Ich wurde delegiert – allerdings mit der Auflage, ein anderes Gedicht auszuwählen, weil John Schehr und Genossen Schulstoff war. In der Bibliothek des Klubhauses »Völkerfreundschaft« blätterte ich in Gedichtbänden und blieb bei Goethes Natur und Kunst hängen. Ich war zwölf, verstand kein Wort, und genau darin lag für mich der Reiz. Ich wollte das Gedicht so rezitieren, als hätte ich es durchdrungen, damit man mir den Bescheidwisser abnahm.

Meinen Siegen beim Kreis- und Bezirksrezitatorenausscheid folgte noch die Messe der Meister von morgen. Mein Vater mit den goldenen Elektrikerhänden baute irgendetwas, ich trug es in die Schule und gewann den Jahrgangspreis. Immer noch blieb mir Zeit bis zur nächsten Russischolympiade. Im Sommer gönnte ich mir noch einen Abstecher zur Kreisspartakiade im Rollschnelllaufen. In meinem Jahrgang war ich der einzige Starter. Die Goldmedaille war mir in jedem Jahr sicher. Ich schnallte meine Rollschuhe an und übte ein paar Tage auf dem Bahnhofsvorplatz. Die Bunesen auf ihren Werksrädern wichen mir aus und beschimpften mich. Ich hörte nicht hin. Ich musste trainieren. Am Tag der Kreisspartakiade rollte Page 45ich eine Runde auf dem Parkplatz vorm Bunawerk, dann erklomm ich das Siegerpodest.

Nur manchmal wurde mir übel. Dann wollte ich weg. Olaf Knautsch aus meiner Klasse erzählte, dass man bloß nach Großkugel zum Schkeuditzer Kreuz trampen musste. Ich hatte es genau gehört. Am Schkeuditzer Kreuz war es ein Klacks, in den Westen zu verschwinden, wenn man einen Fernfahrer aufgabelte. Die Fahrer der Tanklastzüge schmuggelten gern Jungs in den Westen und verlangten dafür nichts. Man musste sich nur an die Autobahnzufahrt stellen und warten. Die Fernfahrer stopften die Jungen in die Tanks, und wer Glück hatte, überlebte, wenn die Tanks nicht völlig mit Benzin gefüllt waren. Den Fernfahrern war egal, wer im Tank ersoff. Ich träumte von Großkugel. Für meine Flucht kaufte ich schon einmal zehn Brötchen und bunkerte sie in der Mansarde. Zehn trockene Brötchen reichten, um im Tank nicht zu verhungern. Die Brötchen aus der Schkopauer Kaufhalle wurden schnell trocken und steinhart. Woche für Woche bevorratete ich mich neu. Ich traute mich nie nach Großkugel. Aber mein Fluchtproviant lag schon in der Mansarde. Meine Mutter fand sie und fragte, seit wann mir Brötchen aus der Kaufhalle schmeckten.

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Ein neues Zimmer war nicht so schnell zu finden. Ich verstaute meine Besitztümer in einem Schließfach im Bahnhof Zoo. Von hier aus war es nur ein Katzensprung in die beiden Schwulensaunen, die es damals in Westberlin gab. Abend für Abend hatte ich die Wahl zwischen einer Kabine in der Apollo-Sauna und der Steam-Sauna. Touristen übernachteten hier. Warum nicht auch ich? Hatte ich Frühdienst, weckte mich das Saunapersonal. Eines Nachts lernte ich irgendeinen Thomas kennen. Wir kifften zu viel. Ich hatte frei, und Thomas lud mich in seine Wohnung ein. Er hauste im riesigen Zimmerlabyrinth einer Kommune. Dort drehte er einen Joint nach dem anderen. Als ich den Weg zur Toilette finden wollte, stand ich plötzlich im Treppenhaus. Splitternackt. Offenbar hatte ich die Wohnungstür zugeschlagen. Aber welche? Es gab mehrere. Oder war ich im falschen Stock? Ich hüpfte ein paar Treppen hinauf und hinab. Ich klingelte irgendwo. Jemand würde mir schon öffnen. Ein erstauntes türkisches Ehepaar stand vor mir, als ich fragte: »Wohnt hier Thomas?« Wäre ich siebzig Jahre älter gewesen, hätte man für mich eine Betreuung beim Amtsgericht beantragt?

Bald hatte ich meine Schlafplätze in den Saunen satt. Auch Martin wohnte in einer Kommune. Ein Mitbewohner war gerade ausgezogen. Ich Page 47nahm den Bus zum Hermannplatz. Die Fahrt zog sich in die Länge. Als der Bus durch die Oranienstraße fuhr, bekam ich Angst. Ich kannte Kreuzberg bisher nur von Fernsehbildern der alljährlichen Krawalle am ersten Mai. Jetzt sah ich heruntergekommene Häuser und Menschen mit frustrierten Gesichtern. Das revolutionäre Kreuzberg war eine dreckige Kleinstadt mit zu groß geratenen Häusern. Und Martins Kommune befand sich nicht einmal in Kreuzberg, nur an seiner Grenze, im noch erbärmlicheren Neukölln.

Als der Bus endlich den Hermannplatz erreicht hatte, fiel mir ein, dass ich erst am nächsten Tag in der Kommune verabredet war. Heute zu klingeln, wagte ich nicht. Ich beschloss, mich umzuschauen, wenn ich schon einmal hier war. Zum ersten Mal genoss ich meinen fehlenden Orientierungssinn und schlenderte durch graue Straßen, ohne zu wissen, wo ich war. Auf den zweiten Blick war Kreuzberg gar nicht so übel. Schlesisches Tor klang zwar nicht gerade nach Weltrevolution – offenbar hatten die Vertriebenenverbände hier die Straßen und U-Bahnhöfe benannt: Sie hießen Glogauer und Oppelner Straße. Das ließen sich die Linksautonomen gefallen? Und General Wrangel kannten sie offenbar nicht. Über einer Tür in der Muskauer Straße las ich das Schild Café Anal. Kreuzberg war verrückt. Und mitten in der Nacht tauchten jetzt auch noch Karawanen hupender Trabantfahrer auf und jubelten. Später füllten sich Page 48die Straßen mit Menschen, die sich in die Arme fielen und So ein Tag, so wunderschön wie heute sangen.

Mir wurde es allmählich zu viel. Wahrscheinlich hatte Gott einen Joint geraucht und stellte heute Nacht Berlin auf den Kopf. Ich war nicht bekifft, nur müde und trat den Rückweg zur Residenz an. Im Isozimmer würde ich mich für ein paar Stündchen aufs Ohr legen. Aber die Trabantkarawanen wurde ich nicht mehr los. Sie überholten mich. Sie überfluteten den Kurfürstendamm. Ich halluzinierte. Die vielen Frühdienste und das ewige Hin und Her zwischen der Residenz und den Nächten in verrauchten, dröhnenden Schwulensaunen zehrten an meinen Nerven. Kein Bus kam. Ich ging zu Fuß. Berlin war außer Rand und Band, und ich wollte ins Isozimmer. Jemand rief mir zu, die Mauer sei gefallen. Für Zonis gab es Bananen, Schokolade und Umarmungen. Wie praktisch, dass ich sächselte. Mein Vorrat an Bananen, Schokolade und Umarmungen war für Wochen gesichert.

In der Residenz trudelte am nächsten Morgen die Äbtissin gegen neun Uhr ein. Meine anderen Kolleginnen bekam ich erst kurz vor dem Mittagessen zu sehen. An diesem Tag dachte ich zum ersten Mal, dass ich gern hier arbeite. In der Residenz war ich sicher.

Am nächsten Tag fuhr ich wieder zum Hermannplatz. Ich nahm einen zweiten Anlauf. Berlin war noch immer im Rausch. In Martins Page 49Kommune jubelte niemand. Das war wohltuend nach den Heulkrämpfen, dem endlosen Gewinke und der Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung auf den Straßen. Begrüßt wurde ich mit der Bemerkung, dass es bei Penny heute keine Salzstangen mehr zu kaufen gab und nicht einmal Katzenfutter. Die Zonis würden alles wegkaufen. Die Katzen können doch nun wirklich nichts dafür! Fünf Linksautonome, drei Frauen und zwei Männer, starrten mich an. Martin, mein James-Dean-Nachtpfleger, verwandelte sich in einen RAF-Sympathisanten, als wir über Politik sprachen. Bald sollten wir nur noch über Politik sprechen. Es waren die Jahre vor Bad Kleinen und dem Ende der RAF. Noch waren die in der DDR untergetauchten Terroristen nicht enttarnt, noch agierte die dritte RAF-Generation im Untergrund. Der Mauerfall war für die RAF und die Katzenfutterkommune eine Katastrophe. Angeblich hatten Ulrike Meinhoff und Gudrun Ensslin hier Tee getrunken. Das genügte, um die Wohnung zur Gedenkstätte zu erklären. Zur dritten RAF-Generation hielt die Kommune angeblich konspirativen Kontakt, so konspirativ, dass der Kontakt mir nach der Beschwerde über das fehlende Katzenfutter bei Penny sogleich aufs Brot geschmiert wurde. Ich passte nicht hierher. Aber das freie Zimmer hatte einen Balkon. Es war hell, nur die Wände müsste ich weißen. Der Blick aus dem Fenster lockte. Sogar ein Stück Himmel war zu sehen. Marion deutete aus dem Fenster und Page 50erklärte mir, dass sich auf der anderen Straßenseite ein Puff befinde. Der Puff sei aber in Wirklichkeit ein Nest des Bundesnachrichtendienstes, um die Kommune zu observieren. Die Kommunardinnen und Kommunarden standen Nacht für Nacht am Fenster und beobachteten durch ein Opernglas, wer den BND-Puff betrat.

Ich sah aus dem Fenster. Es war später Abend, und tatsächlich klingelten dort immer nur einzelne Herren. Dann wurde zuerst ein Fensterchen geöffnet, anschließend die Tür. Die Kommune hatte den Dandy-Club, eine Schwulenbar, im Visier. Ich lud sie ein, auf ein Bier mitzukommen, und erntete enttäuschte Gesichter. Ich hatte das schöne Spiel verdorben.

In den nächsten Jahren spielte ich Radikalinski, auf jeder Demonstration, an der ich teilzunehmen hatte, wenn die Kommune das beschloss. Kreuzberg wurde am ersten Mai zum Mekka für Linksautonome, und ich vermummte mich so großartig, dass ich unerkannt im Lesbenblock mitmarschieren konnte. Sobald ich die Presse sah, drängelte ich mich nach vorn. Blitzten Kameras, lief ich zu Hochform auf. Auf der Titelseite der taz erschien ein Foto: Ich, ganz in Schwarz, vermummt mit Arabertuch und bitterbösem Blick. Ich halte ein Transparent, auf dem DEUTSCHLAND HALT’S MAUL steht. Eine Demonstration gegen die Wiedervereinigung. DEUTSCHLAND HALT’S MAUL war ein dämlicher Satz. Aber ich hatte schon einen Page 51Futon und einen Schreibtisch für mein Zimmer gekauft. »Feuer und Flamme für jeden Staat! Feuer und Flamme fürs Patriarchat!«, schrie ich und hob die Faust. Die Miete für das Zimmer war sagenhaft günstig.

Nur manchmal ertrug ich meine Heuchelei nicht mehr. Dann legte ich Amiga-Langspielplatten auf, die ich aus der DDR mitgebracht hatte. Durch die Wohnung schallten die Lieder von Veronika Fischer und Jürgen Walter. Das war meine Rache an der Kommune.

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Zweimal im Schuljahr hatten wir vier Wochen lang Schwimmunterricht im Buna-Bad. Im Sommer im Freibecken, über das im Winter eine riesige Kautschukplane gestülpt wurde. Wir nannten sie die Buna-Blase. In der Buna-Blase war die Luft ein bisschen dünn, es hallte und dröhnte sonderbar. Das Echo aus Harpos Horoscope ließ sich dort mühelos nachahmen. Aber nicht einmal Harpos Echo konnte mich seit der sechsten Klasse dazu bringen, das Buna-Bad zu betreten. Damals beschloss ich, nie wieder dorthin zu gehen. Ich würde mich nicht noch einmal dem geifernden Befehlston der Sportlehrer aussetzen. Als Fräulein Blei den Rest der Klasse aufforderte, am Beckenrand Platz zu nehmen und mir dabei zuzusehen, wie ich mich abmühte, einen Kopfsprung hinzubekommen und stattdessen mit dem nächsten Bauchklatscher im verchlorten Wasser landete, war das Maß voll. Nie wieder. Bis zur zwölften Klasse hielt ich durch.

Meiner Mutter eine Erkrankung vorzuspielen, war keine große Kunst. Morgens im Bett rieb ich mir die Stirn heiß und schüttelte das Fieberthermometer hoch. Manchmal schlug die Quecksilbersäule zu weit aus, doch Gott sei Dank schöpfte meine Mutter keinen Verdacht, wenn das Thermometer 41,5 Grad Celsius anzeigte. Sie sagte, ich sähe aus wie das Leiden Christi. Ich wusste nicht, wie das Leiden Christi aussah, durfte aber im Bett bleiben.

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Stand dienstags Schwimmen auf dem Stundenplan, bekam ich am Dienstagmorgen hohes Fieber, das erst nach einer Woche ganz langsam abklang. Am Mittwoch ging ich wieder in die Schule, um am folgenden Dienstag einen heftigen Rückfall zu erleiden, der mir wieder genau eine gesamte Woche Zeit im Bett und auf der Couch im Wohnzimmer schenkte. Mit dieser Masche tilgte ich alle vier Schwimmunterrichtstermine im Schulhalbjahr. Ging meine Mutter zur Arbeit in die Konsumdrogerie, schlief ich bis zehn. Dann begann das Vormittagsprogramm von ARD und ZDF. Am liebsten sah ich Schwarzwaldklinik, Ich heirate eine Familie, Traumschiff und ZDF-Hitparade. Ich sah alles, was ich mir sonst verbot, lag auf dem Sofa, wickelte mich in Muttis Mollydecke und machte Urlaub. Meine wissenschaftliche Weltanschauung war mir schnuppe. Ich erholte mich von der Russischolympiade, Herrn Pfeiler und den Kirchlis. Ich konnte nicht mehr. Ich war todmüde. Das DDR-Fernsehen interessierte mich nur, wenn die Schlagersendung Bong! lief.

Nach dem Mittagsschlaf las ich Die Bettelprinzess von Hedwig Courths-Mahler. Ich hatte es auf dem Bücherregal meiner Oma Martha entdeckt. Wahrscheinlich hatte es seit Jahren dort gestanden. Der Roman war für mich eine Offenbarung. Natürlich wusste ich, dass Courths-Mahler Schund- und Schmutzliteratur schrieb und eine kleinbürgerliche Kitschautorin war, weil sie die Page 54Klassenunterschiede übertünchte. In der DDR waren ihre Bücher verboten. Meine Oma Martha las ausschließlich Kitschromane und brachte sie von ihren alljährlichen Westreisen mit. Sie nähte die Schmöker in ihr Mieder, ehe sie den Interzonenzug nach Halle an der Saale betrat. Zu Hause in Freienfelde betrieb Oma Martha eine illegale Leihbücherei, von der ihre Söhne nichts wissen durften, ausschließlich mit verbotenen Schmökern aus dem Westen. Als ich Die Bettelprinzess lesen wollte, war ihr das zunächst nicht recht. Oma Martha sagte, solche Bücher würden nur für alte Frauen geschrieben. Auf ihrem Bücherregal stand auch Die Mutter von Maxim Gorki. Das sei etwas für mich, befand Oma Martha. Schließlich würde ich später sowieso einer von den Hohen werden. Oma Martha wollte sich keinen Ärger mit meinem Vater einhandeln. Andererseits war ich ihr einziger Enkel. Ich ließ Die Bettelprinzess mitgehen und bediente mich aus den Stapeln mit den Erika-Luxus-Romanen. Gott sei Dank führte Oma Martha ihre Leihbücherei schlampig, sie stapelte ihre Schwarten in Schuhkartons. Allerdings hatte sie die Schwarten nummeriert. Fehlten mal ein paar Nummern, fragte Oma Martha mich nie.

Von mir aus konnte Hedwig Courths-Mahler eine verlogene Sonstwasautorin sein. In ihren Büchern tauchte sie das Leben in Zuckerguss, und ich verschlang Seite für Seite. Ich wollte Gesellschaftsdame werden, bei einer Fürstin oder Gräfin. Page 55Oder im Westen in einem Reihenendhaus wohnen, wo ein Zwergkaninchen über den Rasen vor der Terrasse hoppelte, und im Sommer immer nach Italien in den Urlaub fliegen, in ein Hotel aus dem Reiseteil des OTTO-Katalogs. Meine Tante Irene aus Münster hatte zwei herausgerissene Seiten dagelassen. Nach der Kitschromanlektüre widmete ich mich den Reiseangeboten. Nie konnte ich mich entscheiden. Jedes Hotel im OTTO-Katalog lockte. Meinem Vater hatte Tante Irene einen Shell-Atlas geschenkt. Dort fand ich die Routen der Fähren nach Italien. Sie waren mit roten, dünnen Linien gekennzeichnet, darüber stand die Fahrtdauer. Am kürzesten war es von Dubrovnik nach Venedig. Vorher müsste ich es nach Jugoslawien schaffen. In der Jungen Welt hatte ich gelesen, dass die FDJ-Reisebüros sogar Reisen in das nichtsozialistische Ausland anboten. Ich nahm die Straßenbahn nach Merseburg. Im Jugendreisebüro sagten sie mir, ich solle wiederkommen, wenn ich achtzehn und in der Partei wäre, da man in Jugoslawien zwar einen Sozialismus aufbaue, aber einen, den wir nicht befürworteten.

 

Seit der achten Klasse wurde über meine Fehlzeiten im Schwimmunterricht gelacht. Meine Mitschüler prophezeiten, an welchem Tag ich wieder hohes Fieber bekommen würde. Ich wollte, dass sie sich schämen. Vor dem Schwimmunterricht hatten wir eine Stunde Englisch, und neben mir saß Steffen Schlumm mit den gut Page 56gepolsterten Oberschenkeln. In der Englischstunde simulierte ich einen Ohnmachtsanfall und landete auf Steffens Polster. Als der Krankenwagen kam und mit Blaulicht nach Merseburg fuhr, verstummten selbst die größten Lästermäuler in meiner Klasse. Im Krankenhaus würden sie entdecken, dass ich kerngesund war. Doch ich hatte vorgesorgt und mir ein paar blutdrucksenkende Tabletten aus dem Nachtschränkchen meiner Mutter eingepfiffen. Zur Beobachtung musste ich ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Das ließ hoffentlich die letzten Zweifler in meiner Klasse verstummen. Die Lehrer sprachen mich nie an. Ich bekam nur zu hören, dass sie in jeder Schwimmstunde beim Eintrag der Anwesenheit das Gesicht verzogen, wenn sie meinen Namen nannten.

Ich war der FDJ-Sekretär mit gesundheitlichen Handicaps. Erst in der zehnten Klasse riss Herrn Hoffmann, meinem Sportlehrer, der Geduldsfaden. Wieder hatten wir Englisch vor der Schwimmstunde, und ich wollte mich verdünnisieren und nach Hause gehen. Dieses Mal hatte ich die Rechnung ohne Herrn Hoffmann gemacht. Er wartete vor dem Unterrichtsraum auf mich, packte mich mit der rechten Hand am Nacken und ließ mich erst los, als wir das Buna-Bad erreicht hatten. Herr Hoffmann wartete vor der Umkleidekabine auf mich. Dort legte ich einen epileptischen Anfall vom Feinsten hin, krampfte, würgte und lallte. Der Krankenwagen kam nach wenigen Minuten, Page 57und Herrn Hoffmann wurde angst und bange. Ich durfte nie wieder auch nur eine Kletterstange berühren. Das war mehr, als ich erhofft hatte. In Sport erhielt ich eine Eins.