Herr Wunderwelt

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In der Residenz spielte ich artiges Dummerchen. Seit sechs Monaten. Niemand sagte mir, dass ich die Probezeit bestanden hatte. Mein Name stand auf dem Dienstplan des nächsten Monats. Das genügte. Von nun an lockten Krankschreibungen. Die waren wie große Ferien und Kostproben des Rentnerdaseins. Sie versprachen Erlösung auf Zeit. Vor Doktor Max’ Praxis in der Reichenberger Straße standen die Patienten Schlange. Kleine gelbe stellte die Sprechstundenhilfe im Vorzimmer aus. Wer schwul war und drei Wochen blau machen wollte, musste mit Doktor Max essen gehen. Für vier Wochen war ein Fick fällig.

Meine Krankschreibungen nahmen immer unverschämtere Ausmaße an, und so lernte ich nach und nach alle Räumlichkeiten der Praxis um Mitternacht kennen. Doktor Max empfing mich dort in Stiefeln und Military-Hosen. Nach dem Sex musste ich mir Klagen über die Gängeleien der Krankenkassen und die Budgetierungen anhören. Es grenzte an ein Wunder, dass die deutsche Ärzteschaft noch nicht an einer Hungersnot verendet war. Ich ließ ihn jammern. Dann diktierte ich ihm die gewünschten Daten meiner Krankschreibung.

Später stellte mich Doktor Max’ Pensionierung vor neue Herausforderungen. In anderen Arztpraxen bot ich Kostproben meines schauspielerischen Talents. Fast immer wurde ich Page 59krankgeschrieben, aber meist nur für ein oder zwei Wochen. Das genügte mir nicht. Ich begann, von Krankheiten mit langwierigen Verläufen und Rückschlägen zu träumen. Ich pokerte mit meiner Gesundheit. Eine Ansteckung mit Salmonellen war kein großes Problem, zumindest nicht im Hochsommer, wenn man Döner Kebab aß, abends, wenn die Joghurtsoßen hoffentlich schon verdorben waren. Es funktionierte. In den nächsten Jahren bekam ich Salmonellen und die Ruhr, als könnte ich Krankheiten herbeizaubern. Der Preis dafür waren Krämpfe, Diäten und Gelbfärbungen. Ich zögerte die Abgabe der Stuhlproben hinaus. Nach drei negativen Ergebnissen war der Zaubertrick vorbei, und wieder drohte die Residenz.

Frau Bühling erwachte dort meist nach 22 Uhr, verließ ihr Bett und verfolgte mich mit ihrem Rollator. Frau Bühling fuhr Slalom. In jedem ihrer Tippelschritte lauerte ein Sturz. Aber sie stürzte niemals. Immer, wenn ich sie zurück in ihr Bett gebracht hatte, stand sie sofort wieder auf.

»Du spinnst doch, in der Nacht zu arbeiten!« Frau Bühling hatte Recht. Wer brauchte mich in der Villa, heute Nacht, jetzt? Heute war Samstag, und in Schöneberg im New Action tobte das schwule Leben. Ich verschloss die Villa, ging zur Haltestelle und fuhr mit dem Nachtbus zum Wittenbergplatz. Im New Action stand ich herum. Die Pornofilme auf den Monitoren störten mich. Es stank nach Bier und Pisse. Mit einer Flasche Page 60Incidinspray hätte man den Laden durchaus aufwerten können. Ich langweilte mich mehr als in der Residenz. Morgen früh würde alles auffliegen. Fristlos gekündigt wegen rektaler Auswärtsspiele. Im New Action nüchtern herumzustehen war so aufregend wie eine Teambesprechung unter Leitung der Äbtissin. Gegen vier Uhr kehrte ich in die Villa zurück, duschte, trank eine Kanne Kaffee und eröffnete die Waschstraße.

Mein Ausflug blieb unentdeckt. Von nun an übernahm ich an den Wochenenden gern den Nachtdienst. Nach Mitternacht versank ich im schwulen Bermudadreieck zwischen Nollendorf- und Wittenbergplatz. Eines Nachts sah ich dort Gregor. Ich erkannte ihn sofort. Seine Augen verrieten ihn. Ein Mann mit Mädchenaugen. Später sagte mir Gregor, mein Blick habe ihm Angst gemacht.

Es war eine laue Sommernacht, und vor Toms Bar standen Grüppchen schwuler Männer. Gregor stand allein, wie ich. Wenn mir damals, Anfang der neunziger Jahre, etwas panische Angst einflößen konnte, dann der wachsende Rechtsradikalismus in Deutschland. Die brennenden Asylantenheime, die Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien, rechte Aufkleber an Straßenlaternen paralysierten mich. Ich las alles, was ich über Rechtsradikalismus in Zeitungen und Buchhandlungen finden konnte. Oft hatte ich geträumt, von Neonazis zusammengeschlagen zu werden. Ich wusste, wer vor mir stand. Gregor Fönzke, Chef der Nationalen Page 61Alternative in Dresden. Ich ging auf ihn zu und sprach ihn an. In dieser Nacht log er mir das Blaue vom Himmel herunter. Er nannte sich William und erfand eine abstruse Biografie, einen Kauderwelsch aus Ich-bin-Kanadier-studiere-Slawistik-in-Moskau-Berlin-ist-nur-eine-Zwischenstation-just-for-fun. So stellte ich mir einen Mann von Welt vor. Kanada! Moskau! Berlin just for fun! Und ich? Irmgard-Breugel-Haus, Station 4. Gregor war ein hochintelligenter, gesprächiger Mann, der mich zum Abschied küsste. Wir tauschten unsere Telefonnummern.

»Ich heiße nicht William«, sagte er, drehte sich um und ging. Ich war einem Nazi auf den Leim gegangen. Das war die Strafe für meine nächtlichen Streifzüge. Hätte ich doch lieber Staub im Schwesternzimmer gewischt. Jeder Fluse hätte ich mich widmen können. Mit Rechtsradikalen wollte ich nichts zu tun haben. Ich wollte nur Bücher über sie lesen oder sie in Filmen sehen. Mehr nicht. In der Villa hörte ich es röcheln und rascheln, husten und schnarchen. Türen knarrten. Dann hörte ich die Stille. Dann die Angst. Die Angst lief hier umher. Sie absolvierte ihre Rundgänge und spähte in jedes Zimmer. Manche Zauberinnen lagerte sie und gab ihnen zu trinken. Ihre Kürzel fehlten zwar in den Trinkprotokollen und Lagerungsplänen. Aber ich wusste genau, dass ich die Zauberinnen in einer anderen Position gelagert hatte, ehe ich ins New Action gefahren war. Die Trinkbecher hatte Page 62ich aufgefüllt, jetzt waren sie halb leer. In der Villa ging es nicht mit rechten Dingen zu. Auf dem Fensterbrett hatte die Angst die Mirfulansalbe liegen lassen. Und den Materialwagen hätte sie ruhig mal auffüllen können. Die Angst war eine Schlampe.

Draußen läutete es. Das durfte nicht wahr sein. Gregor Fönzke war mir gefolgt. Ich beschloss, das Klingeln zu ignorieren. Es klingelte wieder. Ich lief im Schwesternzimmer auf und ab. Gott sei Dank gab es eine Gegensprechanlage.

»Was ist denn?« fragte ich betont gelangweilt.

Der Wachschutz teilte mir mit, dass ich die Fahrstuhltür mal wieder nicht abgeschlossen hatte.

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Sonntags radelte ich zu Oma Martha nach Freienfelde. Sie wartete entweder am Fenster oder unten vor dem Schuppen auf mich, voller Ungeduld, weil ich erst jetzt kam. Immerhin war es schon kurz nach zehn. Gnade mir, wenn ich sie an einem Wochenende nicht besuchte. Dann wurde ich am nächsten Sonntag mindestens eine Stunde lang mit bitterbösen, eiskalten Blicken bestraft. Spätestens dann aber löste sich alles Böse auf, und Oma Martha strahlte. Ich war da. Ich liebte meine Großmutter, und sie liebte mich abgöttisch.

Freienfelde war nur einen Kilometer von Schkopau entfernt, ein Einsprengsel inmitten von Feldparzellen, Vorgärten und neben der riesigen Jauchegrube. Für mich sah die Jauchegrube aus wie der Amazonas, in Scheiße getaucht. Für mich war Freienfelde Exotik pur. Oma Marthas Wohnung mochte kleiner, enger und dunkler als unsere in Schkopau sein. Doch sie war das Paradies. Nach meiner Ankunft dort hatte ich zuerst meine Sonntagsaufgabe zu erfüllen: Die Dekoration des Regals in der Wohnküche über dem Chaiselongue, das Oma Martha Scheeselonk nannte. Ich wischte Staub und dekorierte neu: Zwei leere Kaffeedosen von Dallmayr, vier Bücher (Die Mutter von Gorki, Wie der Stahl gehärtet wurde von Ostrowski, ihr Poesiealbum von 1923 und Courths-Mahlers Bettelprinzess, bevor ich es mitgehen ließ), zwei Page 64Sparbüchsen, gefüllt mit Ein- und Zweimarkstücken und eine winzige, rosa Dose aus Baststroh. Oma Martha belohnte mich mit Geld aus der Sparbüchse, einem Teller voller Mon Cherie, Haribo und Schoko-Crossies und einem Gläschen Eckes Edelkirsch. Dann war Trampolinzeit. Ich sprang auf dem Scheeselonk herum. Oma Martha ließ mich hüpfen und fragte mir Löcher in den Bauch. Sie wollte alles wissen. Wichtig war, jede Urkunde mitzubringen. Und das Zeugnis. Am Nachmittag würde Oma Martha mit dem Zeugnis oder der Urkunde durch Freienfelde spazieren und sie den Nachbarn zeigen. Aber jetzt noch nicht, jetzt tobte ich erst einmal, sprang vom Tisch, rannte ins Schlafzimmer, warf mich aufs Bett, spähte ins Wohnzimmer, welchen Kuchen sie für heute Nachmittag gebacken hatte. Einmal rührte Oma Martha zwanzig Eier in den Teig.

Alles war erlaubt. Tabu waren nur die Nähmaschine und die Schaumstoffkissen, die auf sämtlichen Stühlen und Sesseln ihrer Wohnung lagen. Das war die ökologische Erfindung meiner Großmutter: Wer zu Besuch kam und sich setzte, plättete, ohne es zu wissen, ihre Schlüpfer und Unterhemden, die darunter lagen. Ich lachte darüber, genauso wie über den Fliegenfänger, die eklige Kleberolle über dem Esstisch, an der lauter tote Insekten baumelten. Ich tanzte, tobte, schwebte, hüpfte weiter und lugte sogar in das winzige Klo, ob die Flaschen mit der köstlichen Vita-Cola Page 65bereit standen. Bei Oma Marta durfte ich sogar auf dem Klo Vita-Cola trinken. Meine Traumtänzerei wurde erst durch Oma Marthas brummiges »Essen« beendet. Zu Mittag gab es riesige Portionen Dosenchampignons oder Möhren mit Petersilie, in Butter geschwenkt, dazu Kartoffeln und oft eine gebratene Schweinelende. Meine Großmutter sparte Strom, davon war sie besessen, sie heizte auch an glühenden Sommertagen mit Kohle und ließ die toten Fliegen ein Jahr lang am Klebeband baumeln, weil Fliegenfänger viel zu viel Geld kosteten. Ihre jahrzehntealten Hausschuhe flickte sie mit Pflaster, das sie mit schwarzer Schuhcreme bemalte. Sie hießen Modell Berchdes Katner. Den Namen hatte Oma Martha erfunden. Mit den Berchdes Katner lief sie durch Freienfelde, und ihr war schnurzpiepe, ob jemand die schwarzgecremten Pflaster entdeckte. Beim Essen aber war nach den Jahren des Hungers und der Lebensmittelmarken die absolute Völlerei angesagt. Wir aßen und ließen uns auf das Scheeselonk fallen, kauten Simagel-Tabletten und schlummerten ein Stündchen. Dann räumten wir eilig das Geschirr ab. Abgewaschen wurde erst am Abend. Wir mussten uns sputen, weil mit der 15-Uhr-Straßenbahn Tante Anna, ihre Schwester, aus Leuna zum Mensch-ärgere-dich-Spielen und Oberhofer-Bauernmarkt-gucken kam. Oma Martha wollte mir vorher noch unbedingt etwas im Garten zeigen oder mir eine neue Geschichte über Frau Tomkowiak, ihre Nachbarin, erzählen. Frau Page 66Tomkowiak hatte für ihre vierzigjährige Tochter Maria eine Hollywoodschaukel gekauft und in ihren Garten, direkt neben den Misthaufen meiner Großmutter, gestellt. Maria stolzierte am Sonntag im giftgrünen Bikini und auf Pantoletten aus dem Haus, warf sich auf die Hollywoodschaukel und hielt sich demonstrativ die Nase zu. Immer wieder verlangte Frau Tomkowiak, Oma Martha solle eine Flasche Tosca auf den Misthaufen schütten. Aber der Misthaufen war zuerst da gewesen. Oma Martha verteidigte ihr Revier und beschloss, nachts immer mal einen Eimer Jauche aus dem Freienfelder Amazonas auf ihren Haufen zu schütten, damit es ordentlich stank. Manchmal blieb ich das ganze Wochenende bei ihr, und wir schlichen nachts zur Jauchegrube und kicherten. Das war eines unserer Geheimnisse.

 

Ihre Nachbarschaft war für mich ein Kuriositätenkabinett. Im Block vor ihr wohnte die lahme Schmidt, die in den Courths-Mahler-Romanen aus Omas Leihbücherei nicht richtig durchblickte, im hinteren Gretchen, die an ihrem Geburtstag im Konsum am Bäckerplatz erwischt worden war, als sie ein Stück Butter klauen wollte. Herr Kuhfuß aus dem Nebenhaus hatte Oma Martha für fünf Mark die Kiepe verkauft, den riesigen Tragekorb aus Weidenruten, mit dem sie Montag bis Freitag zum Freienfelder Bäcker ging und ihn mit Brötchen füllen ließ. Oma Martha schnallte die Kiepe auf den Rücken und lief zur Page 67Straßenbahnhaltestelle. Schon in der Straßenbahn zum Bunawerk verkaufte sie die ersten Brötchen zum Selbstkostenpreis. Meine Großmutter verdiente damit keinen Pfennig. Seit ihrem sechzigsten Lebensjahr war sie Rentnerin, doch sie arbeitete selbstverständlich weiter. Mittlerweile war sie in der Abteilung Wohnungswesen tätig. Ihre Arbeit bestand darin, Bäckerbrötchen aus Freienfelde mitzubringen, für die Kolleginnen Frühstück zu machen und für sie in der Ladenstraße vor den Toren des Bunawerks einkaufen zu gehen, weil es vormittags dort das Meiste zu kaufen gab. Das war Oma Marthas großer Deal: Sie schleppte sich mit Brötchen und gefüllten Einkaufsnetzen ab und durfte die Konsummarken für alles behalten, was sie in der Ladenstraße einkaufte. Die Konsummarken waren ihr Trinkgeld. Meine Oma war konsummarkensüchtig. Sonntags klebten wir gemeinsam ihre Wochenausbeute in das Markenheft, und dabei glänzten ihre Augen. Oma Martha hielt sich für eine reiche Frau. In den Ferien begleitete ich sie zur Arbeit. Niemand in der Abteilung Wohnungswesen legte sein Veto ein, wenn meine Oma mich mitbrachte. Ich half ihr beim Schleppen der Einkaufsnetze und Dederonbeutel, und immer waren es meine schönsten Ferientage.

Bei der Einkaufstour zur Ladenstraße nahmen wir nicht den umständlichen Weg durch den Fußgängertunnel, sondern überquerten einfach die F 91. Einmal erwartete uns ein Verkehrspolizist am Page 68anderen Straßenende. Meine Großmutter lief zu Hochform auf.

»Nach Paragraf 27b StVO ist das in besonderen Fällen erlaubt«, sagte sie dem verdutzten Schnurrbart.

Woher sie das wisse, erkundigte er sich.

»Genosse, jedes Gesetz, das bei uns erscheint, lese ich«, sprach Oma Martha fast andächtig, nahm meine Hand und schritt am Genossen Verkehrspolizisten vorbei. An der Straßenbahnhaltestelle erzählte sie abends den Passanten, mein Zwillingsbruder Mischka würde in Moskau trainieren und werde bald als zweiter DDR-Fliegerkosmonaut nach Siegmund Jähn die Erde umkreisen. Oma Martha log, weil sie sah, dass ich mich vor Lachen bog und mir die Tränen kamen. Oma Martha konnte unverschämt gut lügen. Erzählte sie, hing ich an ihren Lippen. Oma Martha war nicht konfirmiert worden, weil sie vor der Konfirmandenstunde Brombeeren im Pfarrgarten geklaut hatte, mit blauverschmiertem Mund zum Unterricht erschienen war und bei der Prüfung vor der Gemeinde immer wieder aufstand, um den Satz zu sagen: »Herr Oberpfarrer, das weiß ich nicht.« Und als Maria, die Muttergottes, dran kam, rief sie: »Die denkt ooch, sie is was Besonderes, die Maria!« Gott war etwas für Leute, die nicht durchblickten. In der Weimarer Republik hatte Oma Martha immer KPD gewählt. »Jetzt hab ichs nicht mehr so mit der Politik«, sagte sie. In die SED trat sie nicht ein, die Page 69Politik überließ sie nun ihren beiden Söhnen, beide Genossen, und mir.

Ich war ihr Silberprinz. Keine ihrer Enkeltöchter hob sie dermaßen in den Himmel. Ging ich zum Geburtstag meiner Oma Olga, biss Martha sich auf die Lippen und nannte mich Himmelhund, Schappeklapp und Lord Kacke. Ich wusste, was es heißt, der Silberprinz zu sein. Jeder Pionier und jeder FDJler sollte sich nach der Schule in einer Arbeitsgemeinschaft nützlich machen. Das galt auch für mich. Ich konnte nicht das ganze Jahr für die Russisch-Olympiade und ein paar andere Wettbewerbe nutzen. So wurde ich meiner Vorbildfunktion nicht gerecht. Ich fuhr ins Buna-Klubhaus »Völkerfreundschaft« und ging dort zweimal in der Woche zur Kindertanzgruppe, außerdem zum Zirkel schreibender Schüler und in die Bücherei. Zu Weihnachten trat ich in der »Revue Spuk« im Spielzeugladen als Zirkusclown auf. Die Gründung des Kabaretts »Die Chlorreichen« ging leider in die Hose, und für den Zeichenzirkel waren meine Strichmännchen zu dürftig. Nur während der Hochtrainingsphase kurz vor der Russischolympiade zog ich mich aus allen Arbeitsgemeinschaften zurück.

Als ich zehn Jahre alt wurde, erschien mein erstes Gedicht im Aufwärts, der Buna-Betriebszeitung:

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Mein Vorbild

Im Jahre siebzehn wars geschehn

Die Herren mussten endlich gehen.

Das Volk die Macht nun übernahm.

Die lang ersehnte Freiheit kam.

Unter Lenins Führung

der Aufbau dann begann.

Er war sehr schwer und mühsam.

Nur langsam gings voran.

Heut geht’s im Sowjetland

vielmal so schnell voran.

Denn Lenin zeigte uns den Weg

Das Volk erkennts ihm an

Ja Lenin, diesen Helden,

werden wir stets vermissen.

Er kämpfte für das Volk.

Das sollten alle wissen!

Für die fünfte Strophe war im Aufwärts kein Platz mehr gewesen. Aber das machte nichts. Wir liefen durch Freienfelde, den Aufwärts in der Hand. Oma Martha hatte ihre Lesebrille auf, las laut vor, und ich ergänzte meine fünfte Strophe. Nur die lahme Schmidt wollte nicht zuhören.

Im Zirkel schreibender Schüler war ich der Page 71Star, Frau Metz schrieb einen Artikel im Börsenblatt über mich, und in der Tanzgruppe war ich eine Katastrophe. Frau Sohle hatte mich nur genommen, weil selten ein Junge in die Tanzgruppe wollte, und die wenigen, abgesehen von mir, schafften den Sprung zur Palucca-Schule nach Dresden oder zur Fachschule für Bühnentanz nach Leipzig. Ich verstolperte den Einsatz, hatte O-Beine und verlor bei den Drehungen das Gefühl für den Takt. Aber zwischen den besten Kinder- und Jugendtanzgruppen im Bezirk Halle tobte ein Wettbewerb, und er faszinierte mich. Als wir beim Leistungsvergleich endlich nicht mehr mit dem mickrigen Prädikat Mittelstufe sehr gut abgespeist wurden, sahen wir mit Verachtung auf die Tanzgruppen aus Merseburg und Leuna herab, die in gelben Röckchen und Schlüpfern herumhüpften, während Chris Doerk Kinder der Sonne sang. Oder sie tanzten Cancan und hoben die Röcke, aber nie die Beine. Sie hatten keinen einzigen Tanz, mit dem sie beim Leistungsvergleich punkten konnten. Wie konnte man nur so doof sein. Doch das war nicht unser Problem. Wir hatten den Olymp der Tanzgruppen mit dem Prädikat Oberstufe erklommen. Dort gab das Kinder- und Jugendballett Wolfen (Oberstufe ausgezeichnet) den Ton an. Die Wolfener waren Weltspitze und sowieso nicht zu schlagen. Aber die Tanzgruppe des VEB Waggonbau Ammendorf räumte ab und war nur ein einziges Prädikat besser als wir. Frau Sohle beobachtete sie genau. Die Page 72Ammendorfer probten vor dem Leistungsvergleich fünfmal in der Woche. Sie brillierten mit Massentänzen, in denen vierzig Mädchen zur Mazurka über die Bühne fegten. Die Ammendorfer waren beim letzten Leistungsvergleich gerade so an einer Pleite vorbei geschrammt, als sie gewagt hatten, mit dem Tanz »Der kleine Flirt« auf Erotik zu machen. Die Jury hatte den Ammendorfern die Leviten gelesen, denn das war viel zu früh für unser Alter. Frau Sohle erzählte pausenlos während der Proben im Ballettsaal. Ich hörte ihr zu. Deshalb ging ich zur Tanzgruppe.

Bei mir reichte es zu Auftritten in der Gaststätte der Kleingartenanlage »Gute Hoffnung 2« oder beim Lehrerball im B13, dem Vergnügungsbau des Bunawerks. Dort legte ich mit Sabine Gebhard, der Superrezitatorin, eine Charlestonnummer hin. Herr Pfeiler applaudierte heftig, und auch Oma Martha sah mir zu und klatschte.

Als sie siebzig wurde, hatte sie ihren Konsummarkenarbeitsplatz gekündigt. Nun wusch sie abends das Geschirr im B13 ab. Sie sammelte die Wurst- und Fleischreste und kochte sie zu Hause in Freienfelde ein. In wenigen Wochen quoll ihr Keller von Gläsern voller Wurst und Fleisch über. Ihre Kinder schüttelten den Kopf. Aber Oma Martha hielt ihren neuen Arbeitsplatz für den großen Wurf, so wie ich meine Charlestonnummer und mein Lenin-Gedicht für große Würfe hielt.

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Eine hagere Dame mit silberweißem Haar erschien in der Villa. Ich hatte Spätdienst. Etwas in ihrem Blick verriet mir, dass sie weder nach einem Heimplatz Ausschau hielt noch eine Zauberin besuchen wollte. Es war ein zögerlicher, skeptischer Blick. Zwei Männer begleiteten sie.

»Schön, dass es ein Heim geworden ist«, waren ihre ersten Worte.

Die Dame hatte hier ihre Kindheit verbracht. Die Villa hatte ihrem Vater, einem Berliner Rechtsanwalt, gehört. 1936 war die Familie nach New York emigriert. Berlin hatte die Dame seitdem nicht mehr besucht. Nun wollte sie ihren beiden Söhnen den Ort ihrer Kindheit zeigen. Nur das Mosaik an der Wand der Eingangshalle erinnerte noch an die einstigen Besitzer. Früher waren dort die Torarollen aufbewahrt worden. Jetzt standen dort Rollstühle. Ich führte die Dame durch die Residenz. Nach einer Viertelstunde dankte sie mir und verabschiedete sich.

Bei der Dienstübergabe am nächsten Tag erwähnte ich ihren Besuch. Die Äbtissin erstattete Meldung bei der Heimleitung. Frau Schwalbe bat mich umgehend in ihr Büro. Sie forderte mich auf, den Vorfall zu schildern, und wollte wissen, ob ich mich an das Gesicht der Person erinnern könne. Tage später wurde ich wieder in den Verwaltungstrakt zitiert. Neben Frau Schwalbe thronten jetzt Page 74drei graumelierte Herren, das Kuratorium der Irmgard-Breugel-Stiftung. Drei pensionierte Rechtsanwälte. Einer fragte mich, wie ich dazu käme, hier den Fremdenführer zu spielen. Ob die Person mir ihren Pass gezeigt hätte. Ich dachte an Irmgard Breugels Porträt in der Empfangshalle. 1938. Drei Villen. Großzügige Schenkung.

Die Herren starrten mich an. In diesem Moment überlegte ich, ob sie jemals in einem der Wohnbereiche gewesen waren. Hatten sie schon einmal mit einer Zauberin gesprochen? Ich lud sie zu einer Führung durch die Villa ein.

»Es reicht jetzt«, bekam ich zu hören. »Gehen Sie wieder wischen.«

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