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Der Geldadel entsteht

Als Thomas von Aquin seinen Lehrstuhl in Paris um 1257 als Magister regens neben dem franziskanischen Scholastiker Bonaventura antritt, ist der Handel mit Geld schon reichlich ausdifferenziert. Lombarden, Geldwechsler und Devisenmakler – die eigentlichen Bankiers – teilen sich den Markt. Unter Lombarden oder Cahorsinern (je nach Region oder Stadt benannt) verstand man die klassischen Verleiher kleiner Darlehen, die kurzfristig zurückgezahlt werden mussten, die zumeist relativ hohe Zinsen verlangten – also die klassischen Wucherer. Die nächsthöhere Schicht bildeten die Geldwechsler, die ihre Bänke (daher die Bezeichnung banchieri) oder Tische meist in der Nähe der großen Markthallen aufgestellt hatten und dort mit klassischem Währungswechsel und Edelmetallhandel ihr Geld machten. An der Spitze der Finanzhandelspyramide standen schließlich jene Financiers, die den Warenhandel auf nationaler und internationaler Ebene zum Teil selbst betrieben, zum Teil mit ihren Darlehen finanzierten.

Hier nun treten wir ein in die Paläste, staunen über den Glanz, die Glorie und manchmal auch den Bankrott der legendären Familien: bei den Alberti, den Medici, den Peruzzi und den Bardi, die in der Zeit der Kreuzzüge ihre legendären Reichtümer anhäufen. Die Kriege nutzen sie als regelrechte Geschäftsmotoren, sie finanzieren oft mehrere Jahre dauernde Handelszüge der Kaufleute bis nach China und erhalten ihr Risiko dreifach und noch höher vergolten. Der Allerhöchste selbst wird in ihren Handelsverträgen angerufen, die Verbindung für den gemeinsamen Reichtum zu segnen: „Im Namen Gottes …“, heißt die Formel, mit der solche Verträge für gewöhnlich eingeleitet werden.

Der innereuropäische Raum wird maßgeblich von den ersten Industrien bestimmt, vor allem jener der Tuchmacherei. Sie zeichnet eine Achse des Reichtums zwischen dem Südosten Englands, den Gebieten Flanderns und Nordfrankreichs und dem Niederrhein. Während die Feudalherren noch an ihren Legenden in den Schlachten im Heiligen Land weben, knüpfen Händler, Adelige und Kleriker, welche die Zeichen der Zeit erkannt haben, schon an den Netzwerken von Einfluss und Reichtum, die ihnen die Weltherrschaft sichern werden.

Ihre Methoden sind von Anfang an nicht gerade zartbesaitet. Zwischen dem mittelalterlichen Magnaten und dem nach der industriellen Revolution berüchtigten Manchester-Kapitalisten ist kaum ein Unterschied auszumachen. Das verdeutlichen unter vielen anderen Zeugnissen die Berichte über den Tuchhändler Jehan Boinebroke aus dem mittleren 13. Jahrhundert, der im nordfranzösischen Douai sein Unwesen treibt. In seiner Wollmanufaktur arbeiten eine Vielzahl von Handwerkern, Lieferanten, Arbeitern und Bauern, die er nicht nur unter unwürdigen Bedingungen beschäftigt, sondern auch zu überhöhten Mieten in seinen Häusern und Wohnungen unterbringt. Waren dürfen nur in seinen Warenhäusern gekauft werden, selbst das Werkzeug der Handwerker gehört dem Patron. Die meisten seiner Untergebenen bindet er mit Schulden an sich, andere durch simple Gewalt. Einen Aufstand seiner Weber lässt er blutig niederschlagen.45 Die drakonischen Urteile gegen die Aufständischen spricht Unternehmer Boinebroke gleich selbst, ist er doch Fabrikbesitzer und Richter in einer Person.

Die Revolte von Douai ist kein Einzelfall: Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts kommt es immer wieder zu Arbeiteraufständen. Die „Blaunägel“, wie die Färber auch genannt werden, sind dabei die treibende Kraft. Besonders in Zeiten der damals sehr häufigen Wirtschaftskrisen, von denen Philippe de Beaumanoir um 1225 in seinen juristischen Abhandlungen berichtet, sind es Steuerdruck und die Weigerung der Vermögenden, selbst Steuern zu zahlen, die den Volkszorn anfachen: „Oft geschieht es, dass die Reichen die Regierungsgeschäfte leiten, weniger angeben, als sie schuldig sind und sie lassen den anderen reichen Leuten die gleichen Vorteile zukommen, sodass die ganze Last auf die armen Leute abgewälzt wird.“46

Primitive Kapitalisten vom Schlage eines Boinebroke sind die neuen Herren der Zeit. Bald versuchen sie, auch das gesellschaftliche Primat an sich zu reißen. So geschieht es nicht nur in Boinebrokes Stadt Douai, sondern auch im Florenz der Medici und der Peruzzi und im Augsburg der Fugger. Angesichts solcher schon auf das 18. und 19. Jahrhundert hinweisenden Figuren wird deutlich, warum die starr in Zünften und strengen Lebensordnungen organisierten Handwerker auf Dauer auf der Strecke bleiben müssen. Sie werden samt ihrem Ethos und ihrer gediegenen Wertschöpfung von den Massenproduzenten überrollt.

Zunehmend ziehen die immer größer werdenden Städte auch die bis dahin Leibeigenen und Unfreien an. „Die Bauern geraten in den Sog der städtischen Geldwirtschaft“, schreibt der Historiker Arno Borst.47 Bald werden sie alle, Feudalherren, Ritter, Handwerker und Bauern, in einem Boot sitzen – als Kunden oder Schuldner des Geldadels.

Wie aber soll die Kirche, die höchste ethische Instanz, auf diese Entwicklung reagieren? Der beginnende Kapitalismus rüttelt nicht nur an der althergebrachten Weltordnung, er reißt auch die Kirche selbst mit. Eine tiefe Kluft tut sich auf zwischen der Weltkirche und jenen Orden, die mit dem christlichen Ideal Armut und Demut verbinden und denen die Rettung der Seelen um so viel wichtiger ist als das obrigerseits geübte Bad in Gold und Silber. Ein Franziskus, ein Dominikus predigen die Abkehr von Raffsucht und Gier und leben den Reichtum des Glaubens in Lumpen, Armut und mystischen Ekstasen vor.

Das göttliche Monopol

Was also soll die Kirche jenen predigen, die in der mittelalterlichen Gesellschaft ihr Fortkommen suchen und nach Existenzverbesserung streben, die Kredite nehmen oder gewähren und Gewinn machen, die Zins nehmen und bezahlen und auch lukrative Geschäfte mit den Muselmanen abwickeln?

Die Kirchenfürsten sind in einer moralisch verzwickten Lage, ist die Kirche doch selbst eine der größten Finanzmächte des Mittelalters, die fallweise als Unternehmerin des kompromisslosesten Schlages in Erscheinung tritt. Sie fördert Kaufleute seit dem frühen Mittelalter nicht nur durch Geleitbriefe und unterstützt sie durch päpstliche Verordnungen und Konzilsbeschlüsse. Sie errichtet auch eines der ersten Monopole des Abendlandes und wohl auch eines der kuriosesten der Geschichte überhaupt: den Handel mit Alaun, wie Kaliumaluminiumsulfat im Mittelalter genannt wird. Alaun ist ein wichtiger Rohstoff für die Färberei, Weißgerberei und Tuchmacherei.48

Von diesem begehrten Material gab es reiche Vorkommen in der Nähe der Stadt Tolfa, einem Gebiet, das zum Kirchenstaat gehörte. Der Heilige Stuhl tat sich für den „Vertrieb“ des Alauns mit den Medici in Florenz zusammen, die den Verkauf in ganz Europa übernahmen. Ihre Vorgangsweise erfüllt dabei nach heutigen Gesetzen eindeutig den Tatbestand der Nötigung. Zunächst wurde ein Emissär der Medici bei den möglichen Alaun-Kunden, also Fürsten und Städten mit Tuchindustrie, vorstellig. Gab es Widerstand gegen das Angebot, drohte der Papst allen, die Alaun anderswo kaufen wollten, mit Exkommunikation. Wer sich auch davon nicht beeindrucken ließ, bekam es mit der Privatarmee der Medici zu tun, die – finanziert vom Kirchenstaat – mit dem Schwert dort eingriff, wo das Monopol mit Gottes Hilfe allein nicht herstellbar war.

Die Kirche versuchte sich in dieser Phase also zum einen in biblischer Prinzipientreue, zum anderen diskreditierte sie sich durch ihre Raffsucht selbst. Das Ergebnis: ein Meinungschaos mit härtesten innerkirchlichen Disputen und heilloser Verwirrung in den Beichtstühlen, wo es die Priester des Öfteren mit Tätern und Opfern des verpönten Wuchers zu tun bekamen. In der Not interpretierte ein jeder Priester die Bibel nach seinem Geschmack. Die einen beriefen sich auf das „Gleichnis von den anvertrauten Talenten“ (Mt 25,14 – 30), die anderen auf das Zinsverbot von Lukas, wieder andere auf die urkommunistischen Ansätze des Johannes Chrysostomos oder die Eigentumssentenzen des Apostels Paulus.

Hier nun will Thomas von Aquin eingreifen, einen Leitfaden für die verwirrten Geistlichen geben, ihnen über philosophische und religiöse Weisheit die Welt deutbar machen. Das ist der eigentliche Sinn seines Hauptwerks, der Summe der Theologie. Es ist ein ungeheures Unterfangen. Thomas arbeitet wie besessen daran. Er beschäftigt zum Teil vier Sekretäre gleichzeitig, denen er seine Gedanken zu verschiedenen Themenbereichen in die Federn diktiert. Eine Anekdote offenbart seinen fanatischen Einsatz: Als er 1269 vom französischen König Ludwig IX. zur herrschaftlichen Tafel geladen wird, ist er alles andere als ein aufgeweckter Gesprächspartner. Zunächst brütet er bloß stumm vor sich hin, bis sich die Gesellschaft ohne ihn in anderwärtige Unterhaltung vertieft. Dann erhellt sich seine Miene und von einem Geistesblitz ergriffen donnert er die Faust auf den königlichen Tisch und schreit: „Das erledigt die Manichäer! Reginald (Reginald von Piperno, Thomas’ Sekretär, Anm.), steh auf und schreib!“49

Diese Erzählung passt eigentlich nicht in das Bild, das dem Leser aus anderen Publikationen entgegenschlägt: Thomas von Aquin wird heute als öder Kirchendoktor mit einem Hang zu Spitzfindigkeiten ohne Realitätsbezug verunglimpft. Doch recht besehen war er der letzte Philosoph, der versuchte, das Göttliche mit dem Irdischen zu verzahnen und die Welt als vom Prinzip des Guten und der Hoffnung gelenkte Einheit zu sehen. Die Existenz des Menschen steht damit in ständiger Kommunikation mit dem Transzendenten. Dieses Prinzip lässt Thomas auch in seiner Wirtschaftslehre walten, in deren Zentrum Gerechtigkeit, Zins und Geld stehen.

 

Die Suche nach der goldenen Mitte

Das thomistische Denken zu Staat und Wirtschaft entwickelt sich nicht nur aus der aristotelischen Lehre, es basiert maßgeblich auf den Ansätzen zweier christlicher Denker, die Thomas vorausgehen: Otto von Freising (gest. 1158), Onkel des Kaisers Friedrich Barbarossa, und Johannes von Salisbury (1122 – 1180), Bischof von Chartres.

Otto von Freising denkt sich den vom Christentum geprägten Staat als die Überwindung des Fluchs, den menschliche Zivilisationen von Babylon bis Rom auf sich geladen haben. Besonders Babylon zieht dabei die Fantasien Ottos auf sich. Er glaubt gemäß einer ins Negative abgewandelten Entelechie-Lehre (das natürliche Streben nach einem höheren Zustand) des Aristoteles, dass jede Zivilisation bereits den Keim des Untergangs in sich trage. „Sehet Babylons Ruinen“, schreibt Otto. „Hyänen heulen in seinen Palästen.“ […] „Sehet Alexanders Reich, sehet Ägypten, sehet Rom“, ruft er. „Der Krieg ist allgegenwärtig. Der Krieg ist auch Roms Untergang.“ Nun aber – das ist Ottos Grundthese – wachsen der Gottesstaat von Augustinus und der Menschenstaat ineinander. Die Kirche, so Otto, vermag die Geschichte mit der Heilsgeschichte zu verbinden. Johannes von Salisbury ist es, der diesen Ansatz weiterentwickelt – auch er in aristotelischem Sinne. Er gilt mit seinem Werk Polycraticus als der Schöpfer der politischen Theorie. Hier einer seiner Kernsätze: „Das Gemeinwesen ist ein Körper, der sich nach dem Geheiß der höchsten Billigkeit bewegt und den die Vernunft wie ein Steuer lenkt.“50

Johannes betätigt sich aber auch als revolutionärer Chirurg dieses Staates: Wer nicht funktioniert, muss weg. Schlechte Herrscher, Tyrannen dürfen und sollen im Sinne des Ganzen beseitigt werden – auf welche Weise auch immer. Diese Auffassung wird übrigens prägend für die Scholastik und ihre Einstellung gegenüber dem weltlichen Herrscher sein, auch für Thomas von Aquin, zu dessen Lehre wir nun endlich vorstoßen.

Wie schon seine Vorgänger meint Thomas, dass allein die Vernunft die Welt gut gestalten kann. Der Mensch gründe Gemeinschaften „aus eigener Schwäche“. Es ist ein utilitaristisches Motiv, das ihn treibt. Er ist ein „Mängelwesen“. Nur der Zusammenschluss in der Gemeinschaft garantiert die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse. Dem entsprechend sind die Funktionen des Staates geordnet: Er dient der Aufrechterhaltung der Ordnung, der Abwehr von Feinden, dem Unterricht und der öffentlichen Gesundheit.51 Der Staat ist dabei nicht Selbstzweck, sondern nur das Medium zum Erreichen der göttlichen Ordnung. Erfüllt er diese Funktion nicht, ist es auch mit der Gehorsamspflicht der Bürger vorbei. Thomas: „Zum Gehorsam sind die Untertanen nur so weit verpflichtet, als es die Gerechtigkeit erfordert.“

Aber was bedeutet das nun für den Einzelnen? Thomas legt zunächst unveräußerliche Rechte fest: auf Nahrung, auf Almosen, auf „Notwehr gegen Feinde“ und nicht zuletzt das Recht auf Eigentum. Obwohl die Güter dem Menschen von Gott nur zum Gebrauch gegeben werden, so Thomas, ist Privateigentum nicht eine Folge des Sündenfalls. Nicht allen Menschen sei alles gemeinsam. Gemeinschaft bedeute auch das Recht auf Absonderung.52 Thomas schlägt sich in dieser Streitfrage klar auf die Seite des Aristoteles. Eigentum ist demnach der „Antrieb zur Arbeit“: „Es ist dem Menschen erlaubt, Eigentum zu besitzen. Und es ist auch notwendig um dreierlei Willen: Zuerst einmal, weil jeglicher mehr besorgt ist, sich etwas zu beschaffen, was ihm alleine zukommt, als etwas, das ein Gemeinsames aller und vieler ist. Denn ein jeder überlässt aus Flucht vor der Mühe dem anderen das, was in den Bereich des Gemeinsamen fällt. In anderer Weise, weil die menschlichen Dinge geordneter behandelt werden, wenn den Einzelnen die Sorge obliegt, ein Ding zu beschaffen. Es gäbe ein Durcheinander, wenn jeder Beliebige wahllos jedes Beliebige besorgen wollte. Drittens, weil in höherem Grade ein friedvoller Zustand unter den Menschen erhalten wird. Wir sehen, dass unter denjenigen, welche insgemein und ungeteilt etwas besitzen, allzu häufig Zänkereien entstehen.“53

Das bedeutet nun nicht, dass Thomas der Raffsucht das Wort redet. Im Gegenteil. In Notzeiten, so folgert Thomas, sei die Aufhebung des Eigentums bei lebensnotwendigen Dingen erforderlich, wenn es etwa um die Versorgung von Hungernden geht: „Was dem menschlichen Recht ist, vermag dem natürlichen Recht keinen Abbruch zu tun. Sohin wird durch die Verteilung der Dinge und ihre Zueignung, die vom menschlichen Recht ausgeht, nicht gehindert, dass einem Notstand beim Menschen aus solchen Dingen Hilfe zu bringen ist. Darum werden die Dinge, die Etwelche im Überfluss haben, aus dem natürlichen Rechte dem Unterhalt der Armen geschuldet.“54 Noch radikaler ist der Beitrag des Aquinaten zur Umverteilungsdebatte. Die Not rechtfertigt nach seinem Dafürhalten auch den Diebstahl: Die verteilende Gerechtigkeit sei auch durch „geheimes Wegnehmen“ erreichbar.55

So verstanden ist Thomas’ Lehre von der Wirtschaft, dem sozialen Handeln und der Lebenskunst ein Balanceakt zwischen Marktwirtschaft und Notgemeinschaft. Joseph Schumpeter erkennt den Lehren der Scholastiker generell die Autorschaft für die Welfare Economics zu.

Dieser Sinn für die Allgemeinheit zeigt sich auch in Thomas’ Sicht der Güterpreise. Er analysiert die Gegebenheiten und versucht, sie zu ordnen. Was also sieht er: Die ökonomischen Krisen des Mittelalters waren großteils durch Missernten ausgelöst worden und bedeuteten Hunger, Krankheit und Tod. Vor diesem Hintergrund waren natürliche Marktreaktionen auf Mängel, nämlich Preissteigerungen in gewissen Sektoren, etwa beim Getreide, in Europa damals ebenso verhasst, wie sie es heute in der Dritten Welt sind. Thomas versucht nun, die natürliche Gerechtigkeit über die Ausschaltung von Inflation zu erreichen. Sein Ziel, der justum pretium, der „gerechte Preis“, ist ein stabiler Marktpreis – stabil, aber nicht starr: „Er ist nicht punkthaft abgesteckt, sondern besteht mehr in einer gewissen Veranschlagung, sodass eine mäßige Zugabe oder Minderung die Gerechtigkeitsgleiche nicht aufzuheben scheint.“56

Dieses Ermessen sollte sich also nach den Bedürfnissen der Handelspartner und nach Maßgabe der Goldenen Regel aus dem Evangelium des Matthäus richten: Tue niemand anderem an, was du dir selbst nicht zumuten würdest. Ein Beispiel: „Nimm an, wann einer sehr bedürftig ist, irgendein Ding zu bekommen, und der andere den Schaden hat, wenn er ohne es dasteht. In solch einem Falle wird der gerechte Preis so liegen, dass nicht bloß Rücksicht genommen wird auf das Ding, welches verkauft wird, sondern auf den Schaden, den der Verkäufer aus dem Verkauf sich zuzieht. Dergestalt kann etwas erlaubterweise zu mehr verkauft werden, als es an sich wert ist, allerdings nicht zu mehr, als es Wert hat für den, der es besitzt.“57

Auf diese Weise also versucht Thomas die mittelalterliche Realität mit einzubeziehen, auch den Gewinn, den er als tolerierbar erachtet, solange damit ein sittliches Ziel verfolgt werde, etwa die Unterstützung von Bedürftigen und die Erhaltung der eigenen Familie, des eigenen Hauses oder einer Funktion für die Allgemeinheit. Der Versuch, die Reichtümer unbegrenzt zu vermehren, sodass es „ins Unendliche führt und kein Ende kennt“, so Thomas, führe allerdings in die falsche Richtung. Wirtschaftliche Aktivität müsse geordnet und gemäßigt werden.58

Wer über Preise nachdenkt, landet wie von selbst bei Geld und Zins. Beide stören nach Thomas den gerechten Preis. Geld tut das, wenn es vom Tauschmedium zur Ware wird und „sich selbst zeugt“ – durch den Zins.

Zins und Wucher

Der Zins ist tatsächlich das zentrale ökonomische Problem des mittelalterlich-christlichen Denkens: Wir haben bereits die griechischen und biblischen Verurteilungen des Zinses erwähnt: Schulden erscheinen schlicht für das Gemeinwesen abträglich – denn aus der Erfahrung der Zeitgenossen entziehen sie Vermögen und Arbeitskraft. Sowohl die von Solon bekämpfte Schuldknechtschaft der griechischen Getreidebauern wirkte in dieser Art als auch die Verschuldung der Bauern und Handwerker bei Geldverleihern und Wucherern des Mittelalters. Der Zins ist es, der den Menschen in die Schulden treibt, und der Zins ist es, der ihn darin gefangen hält.

Wie sieht das also Thomas von Aquin? Zunächst ist an seiner Analyse nichts für die damalige Zeit Auffälliges. Er tut es seinen Lehrern gleich, die den Zins im Sinne der aristotelischen „Chrematistik“ verdammt haben: „Zins zu nehmen für geliehenes Geld ist an sich ungerecht. Denn da wird verkauft, was es nicht gibt, wodurch offenkundig eine Ungleichheit begründet wird, die im Gegensatz zur Gerechtigkeit steht.“59

Aber wird dieses Verbot der Realität Europas im 13. Jahrhundert gerecht? Nein. Thomas anerkennt die Umstände und er behilft sich mit einem sozialen Argument: Mit Zins bekommen die Armen in Notzeiten von den Reichen wenigstens ein Darlehen, das grundsätzliche Mängel, vor allem an Nahrung, beheben kann. Ohne Zinsen und also ohne Gewinn geben die Reichen kein Geld und der Bedürftige verhungert. Was bleibt daher zu tun mit der Zinsnahme? Thomas plädiert für praktische Toleranz statt weltfremder Verbote: „Die menschlichen Gesetze lassen manche Sünden straflos wegen der Lage der unvollkommenen Menschen, bei denen vieles Nützliche unterbliebe, wenn alle Sünden streng durch Strafanwendung verhütet würden. Darum hat das menschliche Gesetz die Zinsnahme gestattet, nicht als ob sie der Gerechtigkeit entspräche, sondern damit der Nutzen vieler nicht verhindert wird.“60

Dazu gibt es auch noch Ausnahmen, welche die Zinsnahme in gewissem Rahmen eben doch erlauben: zum einen das damnum emergens, der entstehende Schaden beim Darlehensgeber: „Wer ein Darlehen gibt, kann ohne Sünde mit demjenigen, der das Darlehen nimmt, ein Entgelt für den Schaden vereinbaren, durch welchem ihm etwas entzogen wird, was er haben soll. Und es kann sein, dass der Empfänger des Betrages einem größeren Schaden entgeht, als ihn der Geber erleidet. Weswegen der Darlehensnehmer mit Nutzen für sich den Schaden des anderen entgilt.“61 Zweite Ausnahme: die Beteiligung an einem Handelsgeschäft oder als Gesellschafter eines Handwerksbetriebes.

Bei Thomas Nachfolgern gesellt sich dazu noch das lucrum cessans, also der dem Darlehensgeber entgangene Gewinn durch die Fortgabe des Geldes. Außerdem waren Risikozuschläge bei gefährlichen Handelsunternehmen erlaubt sowie die Einnahme von Verzugszinsen bei nicht geleisteter Rückzahlung.62

Nur um keine Zweifel an der grundsätzlichen Weltsicht des Thomas von Aquin aufkommen zu lassen: Ein Freund der Finanzwirtschaft und generell der irdischen Genüsse war er nicht. Niemals könne wahres Glück, so schreibt er in seinen Abhandlungen, in sinnlichen Freuden oder weltlichen Gütern erlangt werden, sondern nur durch die Schau Gottes.

Die übermenschlichen Anstrengungen seiner Arbeit und der Raubbau an seinen Kräften fordern am 6. Dezember 1273 ihren Tribut: Thomas bricht während einer Messe zusammen. „Ich kann nicht mehr“, stammelte er, „alles, was ich geschrieben habe, erscheint mir wie Stroh.“ Sein Assistent Reginald wird den Meister in den kommenden Wochen hauptsächlich ins Gebet vertieft erleben. Das Skriptorium bleibt leer. 1274, auf dem Weg zum Zweiten Konzil von Lyon prallt Thomas mit dem Kopf gegen einen quer über den Weg ragenden Baum und muss in die Zisterzienserabtei Fossanova gebracht werden. Bei seiner Ankunft streicht er mit der Hand über den Türpfosten und seufzt: „Da ist nun meine Ruhe für immer.“ Er stirbt am 4. März 1274.