Die Mystik im Christentum und in den nichtchristlichen Religionen

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Von der Qualität wie auch von der Bestimmung her liegen Welten zwischen der Mystik eines Meister Eckhart, einer Hildegard von Bingen und einer Theresa von Avila und der New Age–Mystik, dem Okkultismus, der Magie und der Astrologie. Im einen Fall geht es um Bewusstseinserweiterung, Selbstfindung, Erleuchtung, Einweihung und Gnosis, das heißt: Erkenntnis, im anderen Fall geht es um personale liebende Begegnung mit dem Du Gottes auf der Grundlage der Offenbarung im Kontext der Gnade und um die Hingabe an den unbegreiflichen Gott.

Im esoterischen Verständnis ist Mystik, wenn man das esoterische Verständnis der Mystik zugrundelegt, weithin gleichbedeutend mit Aberglaube, mit Hinwendung zum Mythos, damit aber mit Rückschritt und Anachronismus10. Wir müssen jedoch, wie bereits betont wurde, unterscheiden zwischen der echten und der unechten Mystik, zwischen der genuinen Mystik und dem Mystizismus. Der Mystizismus ist in der Tat etwas der gesunden Frömmigkeit Widersprechendes und eine Erscheinung der Dekadenz der Frömmigkeit. Die Unterscheidung zwischen echter und unechter Mystik ist hier von großer Bedeutung. Eine unklare Begrifflichkeit stiftet Verwirrung und führt zu immer neuen Missverständnissen11.

Falsch ist es, wenn man, wie es immer wieder geschieht, auch im säkularen Kontext Menschen, die in dem Ruf stehen, ungewöhnliche Gaben zu besitzen, die medial veranlagt oder mit außergewöhnlichen paranormalen Fähigkeiten ausgestattet sind, oder solche, die die besondere Fähigkeit haben, sich die Tiefenseele zunutze zu machen oder die man einfach als Psychopathen bezeichnen müsste, als Mystiker bezeichnet. In Wirklichkeit kann man sie bestenfalls als Mystizisten bezeichnen.

Obwohl die Mystik für das Christentum, aber auch für die Religionen von großer Bedeutung ist, mehr oder weniger – in den Weltreligionen hat sie in allen Fällen ihren Ort, im Hinduismus, im Buddhismus, im Judentum und im Islam –, spielt sie im normalen Theologie-Studium kaum eine Rolle. Das ist nicht angemessen.

Dabei müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass hier nur ein bescheidener Ausschnitt eines weitverzweigten Gebietes behandelt werden kann, dass hier nur eine erste Einführung in ein sehr komplexes Thema gegeben werden kann. Was hier gesagt werden kann, ist also aufs Ganze gesehen nur wenig.

3. Mystische Kirche statt dogmatischer Kirche

Innerkirchlich oder innerchristlich plädiert man heute gern für eine mystische Kirche. Gern stellt man eine mystisch ausgerichtete Kirche – die gegenwärtige – einer dogmatischen – der Kirche von gestern – gegenüber. Immer wieder liest und hört man, die Kirche sei heute spirituell-mystisch ausgerichtet, bestimmt von einem tieferen Verwurzeltsein in Gott. Sofern damit der Ist-Zustand der Kirche gemeint ist, kann man da, abgesehen von kleineren Aufbrüchen, nur skeptisch sein – da scheint eher der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Auf jeden Fall berührt die Forderung nach einer mystisch ausgerichteten Kirche den nervus rerum unserer Zeit. Das ist nicht zu leugnen.

Christlich verstanden stehen Spiritualität und Mystik nicht im Gegensatz zum Dogma, obwohl man das immer wieder so darstellt. Spiritualität und Mystik stehen, christlich verstanden, nicht im Gegensatz zum Dogma, vielmehr ist es so, dass das Dogma der Prüfstein der Echtheit der Mystik ist.

Es gibt kaum ein Wort von dem Jesuitentheologen Karl Rahner († 1984), das so häufig zitiert wird wie jenes: »Der Fromme der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der Gott erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.« Rahner schrieb dieses Wort zum ersten Mal in seinem Aufsatz »Das neue Bild der Kirche« in der Zeitschrift für christliche Spiritualität »Geist und Leben«12. Später hat er es oft wiederholt. Wir finden dieses Wort allein zweimal im VII. Band der Schriften Rahners zur Theologie13. Im 14. Band der Schriften Rahners heißt es wiederum: »Man hat schon gesagt, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sei oder nicht mehr sei«14.

Im Anschluss an das berühmte Rahner-Wort erschien im Jahre 1979 ein Aufsatz von Harvey D. Egan unter dem Titel »Der Fromme von morgen wird ein ›Mystiker‹ sein, mit dem Untertitel »Mystik und Theologie Karl Rahners«15.

Schon im Jahre 1966 präzisierte Rahner seine Aussage, um jede esoterische und mystizistische Missdeutung abzuwehren, wenn er erklärte, dass Mystik »recht verstanden kein Gegensatz zum Glauben im Heiligen Pneuma« sei, »sondern dasselbe«16.

Wenn man unter Mystik nicht seltsame parapsychologische Phänomene versteht, sondern eine echte, aus der Mitte der Existenz kommende Erfahrung Gottes, dann wird dieser Satz in seiner Wahrheit und seinem Gewicht in der Spiritualität der Zukunft deutlicher werden müssen17. Rahner betont mit Recht, die Mystiker seien nicht eine Stufe höher als die Glaubenden, sondern die Mystik sei in ihrem eigentlichen, theologischen Kern ein inneres, wesentliches Moment des Glaubens18.

4. Rationalität und Mystik

Wenn Rahner von Mystik spricht, denkt er also nicht an absonderliche oder elitäre Erlebnisse, nicht an Zen-Erleuchtung und psychologische High-Erfahrungen, sondern es geht ihm einfach um das, was man heute gern als »Glaubenserfahrung« oder spezieller: als »Gotteserfahrung« bezeichnet, Termini, die allerdings missverständlich sind, wie bereits deutlich wurde. Es geht ihm also um eine affektive Begegnung des Menschen mit Gott aus der Mitte seiner Existenz heraus. Mit Recht klagt man heute darüber, dass diese Form der Religiosität ein wichtiges Desiderat sei, dass ihre Absenz ein verhängnisvolles Defizit sei, in der katholischen Kirche wie auch in den reformatorischen Gemeinschaften19. Die Termini »Glaubenserfahrung« und »Gotteserfahrung« sind deshalb nicht besonders gut, weil und sofern sie den Eindruck erwecken, als gäbe es in der Immanenz, in unserer immanenten Welt, einen direkten oder einen unmittelbaren Zugang zur Transzendenz. Einen Zugang zur Transzendenz gibt es für uns nur auf dem Weg über die Metaphysik – das ist der Weg des Denkens mit Hilfe des logischen Schlussverfahrens – und auf dem Weg des Glaubens – in der vernünftigen Bejahung der Offenbarung Gottes, in einem »rationabile obsequium«20.

Mit dem Desiderat, das hier angemahnt wird, ist genau das gemeint, woran im Jahre 1988 der damals in Heidelberg lehrende protestantische Neutestamentler Klaus Berger (* 1940)21 erinnert, wenn er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt: »Die Postmoderne hat mit der Frage nach Religion auch die Nachspiritualität und Frömmigkeit wieder entdeckt. Theologie täte gut daran, darauf zu reagieren, einmal weil sie sich um ihre Grundfragen kümmern und nicht davor gleichermaßen in die durch Sprachlosigkeit gezeichneten Geschwisterphänomene der Sozialethik und des Dogmatismus ausweichen sollte; zum anderen, weil sonst angesichts der besonders im Norden Deutschlands verbreiteten okkultistischen Richtungen den theologisch ausgebildeten Pfarrern bald die Augen übergehen werden«22.

5. Bedeutung für das Christentum und für die Kirche

Die Bedeutung der Mystik für das Christentum, generell und speziell in der Gegenwart, legt es nahe, dass die Theologie ihre Aufmerksamkeit der Mystik stärker zuwendet, auch im theologischen Unterricht. Das ist heute nicht zuletzt auch deswegen notwendig, weil die Seelsorge immer wieder mit der wuchernden Mystik des New Age konfrontiert oder durch sie unterwandert wird.

In der katholischen Kirche ist die Mystik zentraler als in den reformatorischen Gemeinschaften. Der evangelische Theologe Gerhard Ruhbach, Professor für Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule in Bethel schreibt im Jahre 1989: »Für die Katholiken ist sie (die Mystik) ein Randphänomen und für die Protestanten typisch katholisch«23. Er artikuliert damit einen anderen Aspekt des Phänomens. Daran ist auf jeden Fall vieles richtig.

Die Mystik ist von existentieller Bedeutung für das Überleben des Christentums. Das ist nicht zu leugnen. Das ahnen viele schon seit Jahrzehnten, über die Grenzen der Konfessionen hinweg. Im Jahre 1987 wurde die Gesellschaft der Freunde christlicher Mystik e. V. gegründet, 1988 führte sie in der Evangelischen Akademie Bad Herrenalb ihre erste Tagung durch. Die entscheidenden Träger dieser Gemeinschaft sind der evangelische Pfarrer Wolfgang Böhme, früher Direktor der Akademie Bad Herrenalb, und der Jesuit Josef Sudbrack.

Zum Teil bemüht man sich heute, auch über die Grenzen der Konfessionen hinweg, die Mystik wirksam werden zu lassen in der Pastoral. Allein, in der Theologie wird sie noch immer nur am Rande thematisiert. Der Durchschnittstheologe erfährt in seinem Studium nicht viel über die Mystik, höchstens am Rande und in der Regel auch nicht besonders qualifiziert. Selbst in der religiös-spirituellen Ausbildung der Priesteramtskandidaten in den Priesterseminaren hat das Phänomen der Mystik eigentlich keinen Ort oder sieht man es als ein Phänomen an, das nur wenige Auserwählte betrifft, und verlegt man sich stattdessen nicht selten auf die Psychologie, speziell in der Gestalt der Gruppendynamik. Es wäre viel gewonnen, wenn die Beschäftigung mit der Mystik die Psychologie in der Priesterausbildung verdrängen würde. Einstweilen setzt man hier seine Hoffnung jedoch noch mehr auf die Psychologie, was freilich gänzlich der innerkirchlichen Säkularisierung und der Horizontalisierung der Botschaft der Kirche entspricht.

Die Theologie muss schon deshalb ihre Aufmerksamkeit der Mystik zuwenden, weil die Pastoral immer mehr mit der wuchernden Mystik in der Form des Okkultismus konfrontiert wird, wobei das, was man unter Mystik versteht, wenn es nicht im Bereich der Parapsychologie seinen Ort hat, im Bereich des Magischen angesiedelt ist: Mystik als Magie. Das gilt speziell für die neue Weltanschauung des New Age. In ihr spricht man gern von »Neo-Mystik«, von der »Neuen Mystik«: Dem »Neuen Zeitalter«, dem »New Age«, entspricht die »Neue Mystik«. In dieser Mystik werden nicht zuletzt auch bewusstseinserweiternde Drogen eingesetzt, wie LSD, Meskalin und Heroin. Mit ihrer Hilfe will man die Selbstentdeckung und die Bewusstseinserweiterung erleichtern

 

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6. New Age–Mystik, Irrationalismus,

Plädoyer für das Andere der Vernunft

In der Mystik des New Age nimmt man vielfach die christlichen Mystiker in Anspruch, interpretiert sie aber anders. So betrachten die New Ager vor allem Meister Eckhart, aber auch die anderen bedeutenden Mystiker des christlichen Mittelalters, als zu ihnen gehörig und deuten sie dementsprechend.

Wo immer man im New Age die christlichen Mystiker und die christliche Mystik in Dienst nimmt, verfremdet man sie im Sinne von Selbstentdeckung und Vergöttlichung des Individuums auf dem Hintergrund einer pantheistischen Weltsicht. Dabei unterwandert der Mystizismus des New Age die christliche Mystik unmerklich im Sinne der »sanften Verschwörung des Wassermanns«, die das Grundprinzip dieser diffusen Bewegung ist, bzw. man bemüht sich um eine solche Unterwanderung. Letztlich geht es in der Mystik des New Age immer um das Göttliche im Menschen. Dieser Mystizismus läuft von daher stets auf eine Identifizierung des Menschen mit dem Göttlichen hinaus. Die Mystik des New Age ist von daher Mystik der »Immanenz des Göttlichen« oder besser Mystizismus der »Immanenz des Göttlichen«.

Ein prominenter Vertreter der New Age–Mystik ist oder war der Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker († 2007), der sich seinerzeit mit großem Enthusiasmus der fernöstlichen Mystik zugewandt hat. Zwar finden wir bei ihm nicht den Begriff des New Age, aber es ist unbestreitbar, dass er ein profilierter Vertreter dieser Ideologie gewesen ist, sofern sie sich einer »ökologischen Spiritualität« und einem »religiösen Synkretismus« verschrieben hat24. In seinem Buch »Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie«25 beschreibt er eine Reihe von Erleuchtungen, die ihm angeblich in diesem Kontext zuteil geworden sind. Besonders hebt er dabei ein Erlebnis hervor, das er am Grab eines großen indischen Weisen hatte. Dieses Erlebnis beschreibt er mit folgenden Worten:

»Als ich die Schuhe ausgezogen hatte und im Ashram vor das Grab des Maharshi trat, wusste ich im Blitz: Ja, das ist es! Ich saß neben dem Grab auf dem Steinboden. Das Wissen war da und in einer halben Stunde war alles geschehen! Ich nahm die Umwelt noch wahr, den harten Sitz, die surrenden Moskitos, das Licht auf den Steinen. Aber im Flug waren die Schichten, die Zwiebelschalen durchstoßen, die durch Worte nur anzudeuten sind: Du, Ich, Ja! Tränen der Seligkeit. Seligkeit ohne Tränen. Ganz behutsam ließ die Erfahrung mich zur Erde zurück ... Ich war jetzt ein völlig anderer geworden«26.

In seiner Begeisterung für die fernöstliche Mystik – in der Gestalt des New Age – schreibt von Weizsäcker an anderer Stelle: »Dass ich als Christ getauft bin, beweist nicht die Falschheit asiatischer Religionen«27, und er bemerkt dann, seit er in Amerika mit den dortigen Quäkern in Berührung gekommen sei und auch Mahatma Gandhi († 1948) gelesen habe, sei er gezwungen gewesen, die herrschende westliche Politik zu kritisieren28. Mahatma Gandhi, der politische und geistige Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung – man hat ihn als eine der faszinierendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts bezeichnet –, lebte von 1869 bis 1948.

Charakteristischerweise schreibt von Weizsäcker in dem bereits zitierten Buch »Der Garten des Menschlichen«: »Die Realität hat vielleicht nie jemand deutlicher gesehen als der Buddha«29. Ein wenig bissig hat ein kritischer Autor – ein protestantischer Theologe – die Hinwendung von Weizsäckers zur fernöstlichen Spiritualität – also zum New Age – als Kapitulation eines Physikers und Philosophen vor der Irrationalität bezeichnet, die bedingt sei durch die Tatsache, dass ihm in seinem Fachgebiet nichts mehr eingefallen sei30.

Es ist nicht zu bestreiten, dass die New Age–Mystik, eine säkularisierte Form der Mystik, eine spezifische Versuchung für Intellektuelle ist, vor allem, wenn sie pantheistisch und positivistisch denken und wenn sie Naturwissenschaftler sind. Sie ist unverbindlich und entfaltet sich auf dem Hintergrund eines eher pantheistischen Weltbildes. Die Mystik des New Age ist zwar weithin dem Hinduismus und dem Buddhismus entlehnt, von ihrem religiösen Kontext hat sie sich jedoch weit entfernt.

Carl Friedrich von Weizsäcker schreibt in seinem Buch »Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung«31, er bekenne sich zu Fritjof Capras Schau von der Einheit aller Dinge und aller Religionen. Fritjof Capra (* 1939) – Physiker wie auch von Weizsäcker – ist der bedeutendste Protagonist des New Age. Geboren ist er in Wien im Jahre 1939, studiert hat er bei dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg († 1976), als Physiker, Philosoph und Autor lebt er in Kalifornien32. Auch wenn von Weizsäcker nicht den Begriff des New Age verwendet – darauf wurde bereits hingewiesen –, ist er doch unbestreitbar ein profilierter Vertreter dieser Richtung33.

Der New Age–Autor Stanislav Grof beschreibt die Neue Mystik als Abenteuer der Selbstentdeckung. Stanislav Grof, Medizinphilosoph, Psychotherapeut und Psychiater, Begründer der Transpersonalen Psychologie, geboren 1931 in Prag, steht ganz im Einflussbereich der New Age–Mystik. Nachdrücklich plädiert er auch für den Einsatz psychedelischer Drogen. Er kritisiert am Christentum und an den etablierten Religionen, dass sie eine Vorstellung von Gott vertreten, »wonach das Göttliche eine Kraft ist, die sich außerhalb des Menschen befindet und zu der man nur durch die Vermittlung der Kirche und der Priesterschaft Zugang gewinnen kann«. Er bemerkt: »Im Gegensatz dazu erkennt die Spiritualität, die sich im Prozess einer tiefgehenden Selbsterforschung offenbart (er meint hier die Spiritualität des New Age), Gott als das Göttliche im Menschen. Mit Hilfe verschiedener Techniken, die den unmittelbaren erlebnismäßigen Zugang zu transpersonalen Wirklichkeiten vermitteln, entdeckt man seine eigene Göttlichkeit. Bei spirituellen Übungen dieser Art sind es der Körper und die Natur, die die Funktion des Gotteshauses übernehmen«34. Das ist eine Mystik, deren Fundament, wie gesagt, die »Immanenz des Göttlichen«35 ist.

7. Was die Hinwendung zur Mystik heute bedingt

a) Abwendung von der kalten Vernunft

Die gegenwärtige Hinwendung vieler zur Mystik, speziell in der Gestalt des New Age, ist im Grunde eine Absage an einen vermeintlichen oder wirklichen Rationalismus unserer Zeit, entstanden aus dem Überdruss an unserer nüchternen, technisch durchrationalisierten Welt. Sie wird damit zu einem Ausdruck der Hoffnung, das Glück oder das Heil im Irrationalismus zu finden, und das auf der Suche nach dem »Anderen der Vernunft« – so der bezeichnende Titel eines Buches von Hartmut und Gernot Böhme36.

Was die Aufbrüche der so genannten neuen Religiosität, der Religiosität des New Age, verbindet, das ist die Absage an die Moderne bzw. die Absage an die Vernunft als entscheidendes Kriterium unserer Orientierung in der Welt und die entschlossene Hinwendung zum Irrationalismus. Den Beweis für die Richtigkeit eines solchen Verhaltens sieht man in der Orientierungslosigkeit und in den Gefühlen der Ohnmacht, die heute nicht wenige Menschen beschleichen angesichts der immer komplizierter werdenden Welt der Moderne.

Auch in feministischen Kreisen tritt man heute werbend ein für die Mystik. Die evangelische Theologin Susanne Heine (* 1942) klagt in ihrem Buch »Wiederbelebung der Göttinnen?«37 darüber, dass das weibliche Element, das emotionale Element im Christentum zu kurz komme, dass das »mystische« Element darin missachtet werde, dass das rationale männliche Element dagegen dominant sei. Sie plädiert dabei dann allerdings für eine Verbindung von Kopf und Herz, wie sie es nennt38.

Das Interesse für die Mystik ist groß, speziell in der Form des Mystizismus des New Age, aber auch im Christentum bzw. in den großen christlichen Gemeinschaften sucht man heute häufiger mystisches Erleben. Innerhalb der katholischen Kirche prägt sich das nicht zuletzt aus in der Begeisterung wachsender Kreise für das Außergewöhnliche und für das Wunderhafte, für Privatoffenbarungen und obskure Wallfahrten, in der Leichtgläubigkeit, der man hier vielfach begegnet. Man sucht hier offenbar etwas, fällt dabei aber nicht selten auf das Falsche herein.

Auch der wachsende Einfluss der so genannten charismatischen Erneuerungsbewegung innerhalb wie auch außerhalb der Kirche ist ein Zeichen für eine neue Hinwendung zur Mystik, wenngleich gerade hier die Grenze zwischen echter Mystik und gespieltem Enthusiasmus nicht immer leicht zu ziehen ist. Vieles spricht dafür, dass das meiste hier künstliche Theatralik ist oder Massensuggestion, sowohl das begeisterte Gebet als auch die angeblichen Krankenheilungen, weshalb man dem Phänomen der charismatischen Erneuerung eher skeptisch gegenüberstehen sollte. Immerhin zeigt sich darin jedoch, wohin heute die Erwartung und die Sehnsucht vieler Menschen gehen.

Ein Zeichen für die Hinwendung zur Mystik, für das Interesse an ihr, ist auch die wachsende Anerkennung der Bedeutung der Spiritualität für die Religion, ganz allgemein, für die Religion überhaupt, zumindest verbaliter.

Hier ist schließlich auch an die Anthroposophie zu erinnern, die heute eine gewisse Hochkonjunktur hat, nicht zuletzt deshalb, weil bei ihr die Mystik sehr groß geschrieben wird. Vielleicht kann man sagen, dass die Anthroposophie in der Öffentlichkeit noch nie so viel Sympathie gefunden hat wie in der Gegenwart, obwohl es dort im Moment spezifische innere Schwierigkeiten zu geben scheint.

Die positive Wertung der Mystik ist einerseits Ausdruck einer Ahnung, Ausdruck einer dunklen Erkenntnis unserer geistlichen Unterernährung, Ausdruck eines spirituellen Defizits unserer Zeit. In der Angst und in der Sinnentleerung unserer Zeit erwarten viele Hilfe durch die Hinwendung zur Transzendenz oder zum Übersinnlichen. Andererseits signalisiert die positive Wertung der Mystik aber auch eine allgemeine Glaubensunsicherheit, einen schwachen Glauben, einen Glauben, der »experimentelle« Bestätigung sucht.

Das neue Interesse an der Mystik ist vor allem bedingt durch den Überdruss an dem vermeintlichen oder wirklichen Rationalismus unserer technisch durchrationalisierten Welt. Enttäuscht vom Rationalismus und seiner überdrüssig geworden, wendet man sich nun dem Irrationalismus zu. Damit folgt allerdings dem einen Extrem das andere. Das eine Extrem ist allerdings so falsch wie das andere.

Auf dem Boden dieser Enttäuschung sprießt auch die so genannte postmoderne Kulturkritik, die freilich rein formal ist und inhaltlich leer bleibt, wenn sie sich in reiner Negativität erschöpft. Dazu ist in letzter Zeit eine Reihe von Werken erschienen. Nur einige seien hier genannt: Hans Poser, Hrsg., Philosophie und Mythos, Ein Kolloquium, Berlin 1979; Hans Peter Duerr, Hrsg., Der Wissenschaftler und das Irrationale, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981; Kurt Hübner, Hrsg., Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Rationalität, Stuttgart 1982; Manfred Frank, Der kommende Gott, Vorlesung über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982; Renate Grabsch, Identität und Tod. Zum Verhältnis von Mythos, Rationalität und Philosophie, Frankfurt 1982; Helmut Holzhey, Rationalitätskritik und neue Mythologien, Bern 1983; Raimund Panikkar, Rückkehr zum Mythos, Frankfurt 1985; Karl Albert, Mystik und Philosophie, St. Augustin 1986.

Man spricht in diesem Zusammenhang gern von dem »Anderen der Vernunft«. So lautet der Titel eines Werkes, das im Jahre 1985 bereits in 2. Auflage erschienen ist: Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt 21985. Auf dieses Werk wurde bereits hingewiesen39. Das Andere der Vernunft, das sind die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle40. Auf der Suche nach dem »Anderen der Vernunft« wird die Mystik zu einem Ausdruck der Hoffnung, das Glück oder das Heil im Irrationalismus zu finden. Das Andere wird dabei je nach der Herkunft der vielfältigen Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft in einem anderen Licht gesehen: »Es wird (dann – etwa in Gestalt der Sinnlichkeit und der Phantasie –) als Gegenkraft eingefordert oder einfach ›als uneingestandene eigene Bestimmung entlarvt‹ (etwa als Aufklärung in der Gestalt des Mythos)«41.

In diesem Zusammenhang macht man der Aufklärung gern den Vorwurf, sie habe das Nicht-Rationale aus der Welt herausgetrieben und damit den Verlust des Zusammenhangs des Menschen mit den Tiefen der menschlichen Psyche zu verantworten. Der Preis dieser »Vergewaltigung der Wirklichkeit« sei die Tatsache, dass das Subjekt sich nun absolut fremd und unheimlich vorkomme in seiner Welt. – Sieht man das Andere nicht als das Unvernünftige, sondern als »das durch Vernunft an der Grenze der Vernunft Erfahrene und in ihrem Licht Gesehene«42, plädiert man hier also nicht für eine Abwendung von der Vernunft, so bekommt man damit eine durchaus wichtige vielseitige Wirklichkeit in den Blick, die ein simpler Rationalismus in der Tat übersieht.

 

In diesem Sinne ist das Rationale ohne sein »Anderes« nicht bestimmbar, ohne dass es sich dieses einverleiben dürfte. Das Andere als solches muss jedoch seinerseits eine Beziehung zur Vernunft suchen, will es nicht »zum Platzhalter von Unverstand und Aberglaube werden«43. Die Vernunft muss sich bemühen, auch die »vor-, meta- und nicht-kognitiven Elemente«44 in den Blick zu bekommen.

Die Lösung liegt darin, dass das Andere nicht als Alternative zur Vernunft gesehen wird, sondern dass die Vernunft eine vernunftgemäße Beziehung zu ihm sucht. Die Vernunft muss ihrerseits ihren entscheidenden Rang behalten als das eigentliche Medium der Orientierung des Menschen. Alles andere ist absurd und führt letztlich in den Abgrund.

b) Abwendung von einer Welt der Leistung – Suche nach Sinn

Die Hinwendung zur Mystik ist bedingt durch die Abwendung von einer kalten Vernunft. Sie ist aber auch bedingt durch die starke Betonung der Leistung in einer – zumindest äußerlich – rationalen Welt. In einer Welt der Sinnentleerung bricht so die Frage nach dem Sinn qualvoll auf. Ob man sich nun der Meditation, dem Yoga, dem Zen, dem New Age–Mystizismus oder der christlichen Mystik zuwendet, immer ist es das Gleiche. Hier tut sich eine Lücke auf, die leider zur Zeit oft vermarktet wird. Hemmungslose Anbieter und Anbiederer schlagen Kapital aus einer Verlegenheit. Dabei wird freilich die Sache, um die es geht, oft mysteriös, das heißt, sie gleitet ab. – Der Philosoph Ludwig Wittgenstein († 1951) definiert das Mystische als das, von dem man nicht reden kann, das sich aber zeigt. Er erkennt in ihm ein Heraustreten aus der Rationalität der Gegenwart. Der evangelische Theologe Jürgen Moltmann (* 1926) sprach vor Jahren im Zusammenhang mit der modernen Mystik von einem seelischen Ausgleichssport, den man abgehetzten Aktivisten, Industriebossen und Wirtschaftskapitänen anpreist, um damit noch indirekt ihre Leistung zu steigern45, sofern hier das, was wir mit Mystik meinen, in depravierter Form durch eine Art von Psycho-Management übernommen werde46.

c) Angst vor den technischen Errungenschaften

Ein weiterer wichtiger Grund für das gegenwärtige Interesse an der Mystik dürfte darin gelegen sein, dass die abendländische Fortschrittsidee sich selbst »ad absurdum« geführt hat. Der Mensch hatte gehofft, alles in den Griff zu bekommen und erkennt nun seine Ohnmacht angesichts der Tatsache, dass ihm die technischen Möglichkeiten entgleiten, dass ihm der rasante technische Fortschritt davonläuft, ganz nach dem Motto des Zauberlehrlings: »die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los«. Daher flüchtet er angesichts der Trümmer seines Bestrebens, die Wirklichkeit rational und technisch zu meistern, ins Emotionale, ins Affektive, ins Irrationale. So geschieht es in dem im Jahre 1981 erschienenen Buch des Frankfurter Professors für neue deutsche Literatur Hans Dieter Zimmermann, »Rationalität und Mystik«, wenn er darin Mystik mit Irrationalität gleichsetzt und dezidiert die These vertritt, Mystik beginne da, wo die Rationalität aufhöre.

Die Bestimmung von Mystik als das Affektive, das Emotionale, das Irrationale trifft nicht die Mystik, wenn wir sie im strikten Sinne verstehen. Die Mystik fängt nicht da an, wo die Rationalität aufhört, sondern sie ist als solche rational, wenn auch nicht im diskursiven oder analytischen Sinn. Weil sie rational ist, deshalb muss sie sich stets vor dem diskursiven oder analytischen Denken verantworten. Das gilt jedenfalls, sofern man ihrem überkommenen Selbstverständnis folgt. Die überlieferte Mystik des Christentums hat sich stets als rational verstanden, nicht im diskursiven oder analytischen Sinn, sondern im Sinne des intuitiven Denkens. Dabei war es ihr jedoch immer bewusst, dass sie ihre Legitimation letzten Endes allein durch das diskursive, analytische Denken erhalten kann.

d) Sprachlosigkeit der Kirche

Ein wichtiger Grund für das Interesse, das die Mystik gegenwärtig findet, dürfte nicht zuletzt die Unsicherheit sein, die aus der Fragwürdigkeit oder besser: aus der Sprachlosigkeit von Kirche, Christentum und Religion überhaupt resultiert. Der Mensch braucht eine Antwort auf die Frage: Wer bist du eigentlich? Er ist unzerstörbar religiös. Die Kirchenväter sprechen von der »anima naturaliter christiana«, meinen jedoch »naturaliter religiosa«. Denn die Religiosität gehört zur Natur des Menschen, die christliche Heilsordnung ist jedoch übernatürlich und gnadenhaft. Der Mensch sucht nach Bestand, nach Sinn oder, um mit Friedrich Nietzsche († 1900) zu reden, nach Ewigkeit. Der Kirchenvater Augustinus († 430) spricht von der »metaphysischen Unruhe« des Menschen47. Eine Zeitlang meinte man, die Wissenschaft, das heißt: die Naturwissenschaft, könnte das religiöse Bedürfnis des Menschen befriedigen und die Religion überflüssig machen. Das hat sich als falsch erwiesen.

Angesichts dieser seiner »conditio humana« ist der Mensch auf die Mystik hin ausgerichtet. Er sucht sie heute allerdings eher in meditativem Training, in esoterischen Praktiken, in westlich vermarkteter östlicher Weisheit und in gruppendynamischen Übungen, in paranormalen Phänomenen und in der Hinwendung zur Tiefenseele mit ihren unvorstellbaren Möglichkeiten als in der überlieferten christlichen Spiritualität oder bei den großen Mystikern der christlichen Vergangenheit. Die neue Hinwendung zur Religion, die in der gegenwärtigen Wertschätzung der Mystik erkennbar wird, vertraut weniger dem Christentum und der überlieferten christlichen Spiritualität als einer säkularisierten Gebrauchsmystik, wie sie heute weithin vermarktet wird. In dem Bestreben nach der Begegnung mit dem, was das Leben eigentlich trägt, setzt sie ihre Hoffnung eher auf okkult inspirierte Meditationstechniken als auf die überkommene christliche Mystik. Die Religiosität, die man hier sucht, empfiehlt sich dadurch, dass sie eine schweifende, vagabundierende und horizontalistische Religiosität ist und dass sie unverbindlich ist und keine feste Bindung kennt.

e) Erfahrung statt Abstraktion und Spekulation

In einem ersten Versuch, die Mystik zu definieren, bestimmten wir sie als Erfahrung, als Erfahrung des ganz Anderen. Bereits unter diesem Aspekt findet die Mystik heute breiteste Zustimmung. Denn der Begriff der Erfahrung löst bei vielen ein begeistertes Echo aus, sofern man ihn als Gegenbegriff sieht zu Theorie, zu unlebendiger Spekulation, zu unfruchtbarer Abstraktion. Es geht hier um die sinnenhafte Anschauung. Was ihr nicht zugänglich ist, was also nicht erfahren werden kann, das hat heute nach der Meinung vieler auch keinerlei Erkenntniswert. Angesichts der Tatsache, dass man in der Gegenwart um jeden Preis sinnenhafte Anschauung und mit ihr existentielle Erlebnisse sucht, ist der Begriff »Erfahrung« zu einer Art von Zauberwort geworden.