Die Mystik im Christentum und in den nichtchristlichen Religionen

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Bei der kritischen Prüfung mystischer Phänomene muss in jedem Fall deren Beziehung zur Pathologie einbezogen werden, aber auch deren Beziehung zu den außergewöhnlichen psychischen Fähigkeiten, die der Pathologie voraus liegen.

25. Hysterie und religiöser Wahn

Eindeutig pathologische Erscheinungen im Umfeld der Mystik sind die Schizophrenie und der religiöse Wahn, die Hysterie und gegebenenfalls der Fanatismus, der Fanatismus dann, wenn er ein bestimmtes Stadium erreicht. Den pathologischen Erscheinungen voraus liegen etwa die eidetische Veranlagung, Halluzinationen, die Suggestion und die Hypnose, um nur einige Phänomene dieser Art zu nennen. Es gibt psychosomatische Phänomene, die die alltägliche Erfahrung sprengen. Es gibt Einwirkungen der Psyche auf den Leib, die zwar selten sind, aber die Fähigkeit der Psyche nicht grundsätzlich überschreiten. Es gibt eine außergewöhnliche Sensibilität, die speziell auf die parapsychologischen Phänomene hinordnet.

Zu berücksichtigen ist hier auch, dass in diesem Kontext der Betrug blüht. Das hängt damit zusammen, dass bei nicht wenigen Menschen die Versuchung virulent ist, sich interessant zu machen, eine Tendenz, die zuweilen pathologische Formen annimmt. Pathologisch wird diese Tendenz in der Hysterie und im Wahn. Eine Vorstufe der Hysterie und des Wahns sind der Fanatismus und die ideologische Fixierung.

Ein besonders merkwürdiger Komplex ist das, was man unter dem Begriff der Hysterie zu fassen pflegt. Beim Hysteriker nimmt die Tendenz, sich interessant zu machen, krankhafte Formen an. Dabei bedient er sich gern der außerordentlichen Begleitphänomene der Mystik, der Ekstasen, der Auditionen, der Visionen usw., die ihn selber nicht wenig beeindrucken und mit denen er auf andere Eindruck machen zu können hofft. Die Aktivität der Hysteriker wird gesteigert durch die Leichtgläubigkeit ihrer Umgebung, die Leichtgläubigkeit ihrer Umgebung stimuliert sie. Man hat die Hysterie als »die große Simulantin« bezeichnet, die gleichzeitig Wunder und Krankheiten vortäuscht. Unter Umständen produziert sie bei Hysterikern immer neue Visionen und Auditionen. Nicht anders ist das in vielen Formen der Pseudo-Besessenheit. Die Hysteriker liefern das, was man von ihnen erwartet, sei es, dass es offen zutage liegt, sei es, dass es die Betroffenen erahnen. Nichts ist verderblicher für den hysterischen Neuropathen, als wenn man ihm Glauben schenkt. Je mehr die Umgebung durch die Phantasien des Hysterikers fasziniert ist, umso mehr verstrickt sich dieser in seine Neurose, umso mehr vervollständigt er deren Sinn und Inhalt und umso mehr schmückt er sie aus. Deshalb ist die Isolierung des Hysterikers in Verbindung mit einer energischen moralischen Umerziehung noch heute eine bewährte Methode der Therapie für ihn. Zeitweilig hat man die Meinung vertreten, dass sämtliche hysterische Symptome sich reproduzieren ließen oder experimentell nachvollzogen werden könnten. Von dieser Meinung ist man jedoch inzwischen abgekommen122.

Mystische Erlebnisse, angeblich mystische Erlebnisse, können in der Hysterie, aber auch in der Schizophrenie ihre Wurzel haben. Im Volksmund spricht man bei der Schizophrenie im Allgemeinen vom Wahn. Der religiöse Wahn ist eine spezifische Form der Schizophrenie. Er ist allerdings sehr vielgestaltig und aufs Ganze noch wenig erforscht. Bei der Schizophrenie bleiben mitunter die Dialektik, also das Unterscheidungsvermögen, und der diskursive Verstand erhalten, während sich gleichzeitig die wirkliche Welt immer weiter entfernt. Dann werden kühne Gedankengebäude entwickelt, nicht selten in einem relativ vernünftigen Zusammenhang, so dass es dem Laien, dem medizinischen Laien, manchmal schwer fällt, die Krankheit zu erkennen oder dass der medizinische Laie die Diagnose Schizophrenie gar nicht verstehen oder nachvollziehen kann. Es ist eine Tatsache, dass die Schizophrenen sehr oft, zumindest eine Zeit lang, Anhänger finden, die ihre im Grunde abstrusen Ideen für gut halten und propagieren. In der Schizophrenie entfernt sich der Kranke in einem bestimmten Bereich von der Wirklichkeit, bleibt dabei aber im Übrigen seiner Sinne mächtig, ja, zuweilen entfaltet er dabei geradezu eine besondere Denkfähigkeit. Des Öfteren ist die Schizophrenie mit hoher intellektueller Begabung verbunden. Weil die Ideen der Schizophrenen oftmals in einem relativ vernünftigen Zusammenhang stehen, deshalb finden sie immer ihre Anhänger, zumindest eine Zeit lang.

Angesichts der Komplexität der mystischen Phänomene, speziell auch der Begleitphänomene der Mystik, ist hinsichtlich ihrer Beurteilung absolute Vorsicht am Platz. »Wo der Alltagsmensch zu Ende ist (mit seiner Weisheit), ist noch lange nicht die Grenze der Natur«123. Vieles, was sich als Mystik ausgibt, ist es einfach nicht. Bei der Beurteilung mystischer Phänomene ist also Zurückhaltung geboten. Um hier zu einem Urteil zu gelangen, braucht man Erfahrung und Vergleichsmaterial, um hier das Kranke vom Gesunden, das Natürliche vom Übernatürlichen zu trennen und zu scheiden. Unsere Sinnesorgane und unsere Alltagserfahrung vermögen hier nicht ohne weiteres ein Urteil abzugeben. Wir können uns täuschen und können getäuscht werden, und die Welt des Natürlichen ist weiter und umfassender, als wir meinen.

26. Zur Unterscheidung der Geister

Papst Benedikt XIV. (1740 –1758) hat vor seiner Erhebung zum Papst das noch heute für Beatifikationen und Kanonisationen jedenfalls zum Teil maßgebliche Werk »De servorum Dei beatificatione et canonisatione« als Prosper Lambertini – er war damals Kanonist in Bologna – verfasst, in dem er geradezu eine Unmenge von Kriterien zur Scheidung der echten mystischen Phänomene von den falschen zusammengetragen hat. Diese Scheidung ist relevant bei Seligsprechungs- und Heiligsprechungsverfahren, bei Beatifikationen und Kanonisationen, und im Zusammenhang mit der kirchlichen Anerkennung von Wallfahrtsorten. Es ist erstaunlich, mit welcher Vorsicht der Autor dieses Buches bei der Untersuchung und Wertung der mystischen Phänomene zu Werke geht und wie hoch er die übernatürliche Verursachung ansetzt. Auch im Leben der echten Mystiker rechnet er mit natürlichen Phänomenen, die in den Bereich der Psychologie und der Parapsychologie oder gar der Psychopathologie gehören. Immerhin sieht er klar, dass die außerordentlichen Begleiterscheinungen der Mystik allesamt, angefangen bei den Ekstasen, Auditionen, Visionen und Stigmatisationen bis hin zur Nahrungslosigkeit und Unverweslichkeit in sich nicht grundsätzlich als übernatürliche Phänomene angesehen werden dürfen, was freilich nicht heißt, dass sie in einem konkreten Fall nicht durchaus übernatürlich sein können. Das Werk erschien in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts.

Es gibt eine Reihe weiterer bedeutender Werke, die Kriterien für die Echtheit der Mystik und ihrer Begleiterscheinungen zusammengetragen haben. Im 18. Jahrhundert entstand das Werk des Jesuiten Giovanni Battista Scaramelli († 1752) »Regeln zur Unterscheidung der Geister«, das im Jahre 2008 neu aufgelegt wurde124. Aus der Feder des gleichen Autors stammen auch die Werke »Anleitung in der mystischen Theologie«, ein zweibändiges Werk, das in den Jahren 1855 und 1856 in deutscher Sprache in Regensburg und im Jahre 1973 in einer Neuauflage in Hildesheim erschienen ist, und »Wegbegleitung in der mystischen Erfahrung«. Das letztgenannte Werk ist im Jahre 2001 in einer Neubearbeitung durch Fridolin Marxer in Würzburg erschienen.

27. Neue »Wallfahrtsorte«

Die Begleitphänomene der Mystik haben heute, speziell in der Gestalt von Visionen und Auditionen, besondere Aktualität erhalten in der Kirche durch die Ereignisse um Medjugorje in Bosnien-Herzegowina, die ein erstaunliches Echo und nicht wenige begeisterte Vorkämpfer gefunden haben in den letzten Jahrzehnten trotz der skeptisch bis abwartenden Haltung der Vertreter des Lehramtes bzw. des Hirtenamtes der Kirche. Die autoritative Feststellung, ob ein mystisches Phänomen echt ist oder nicht, fällt streng genommen nicht in den Kompetenzbereich des Lehramtes der Kirche, sondern des Hirtenamtes. Deshalb gibt es hier auch in keinem Fall ein unfehlbares Urteil. Wohl gilt die Unfehlbarkeit indessen bei Heiligsprechungen. Bei ihnen beansprucht die Kirche das Charisma der Unfehlbarkeit jedoch nicht hinsichtlich der Feststellung der Echtheit von mystischen Erfahrungen oder hinsichtlich der Feststellung des übernatürlichen Ursprungs dieser Erfahrungen, sondern nur im Blick auf das Ergebnis des Prozesses, im Blick auf die Kanonisation als solche.

Angeblich mystische Phänomene, wie Auditionen, Visionen, Stigmatisationen, Nahrungslosigkeit, Unverwestheit usw., häufen sich gegenwärtig im Kontext der katholischen Wallfahrtsfrömmigkeit in San Damiano, in Schio, Garabandal, Marpingen und Sievernich, um nur einige Orte zu nennen, die von einer bestimmten Klientel immer wieder aufgesucht werden. Hier macht sich die Sucht breit, stets die neuesten Wallfahrtsorte zu besuchen und die neuesten Botschaften mitzubekommen. Gerade die Begeisterung der Massen müsste den kritischen Beobachter skeptisch stimmen. Die Begeisterung so vieler für immer neue mystische, vor allem außerordentliche mystische Phänomene beweist auf jeden Fall, dass die Mystik und mystische Phänomene einer tiefen Erwartung der Menschen entsprechen.

Ein konkreter Fall von Mystik, in dem das Hirtenamt der Kirche vor einigen Jahrzehnten aktiv geworden ist, ist das Engelwerk, sind die angeblichen Offenbarungen der Gabriele Bitterlich († 1978), aus denen seinerzeit das Engelwerk hervorgegangen ist. Damals entschied das Hirtenamt, dass es sich hier trotz der guten Früchte nicht um echte Mystik handle, sondern um Paramystik, Parareligiosität, Paraspiritualität, weshalb das Engelwerk dazumal zwar nicht als solches verboten wurde, aber es wurden ihm bedeutende Auflagen gemacht.

28. Echte und falsche Mystik

 

Unterscheidet man nicht zwischen echter und falscher Mystik, verfällt man dem Aberglauben. Es gibt so etwas wie eine Disposition zum Aberglauben. Der Abergläubische glaubt zu viel. Aberglaube ist Überglaube. Man kann zu viel glauben oder zu wenig oder gar nicht. Manche sind auch deshalb leichtgläubig, weil sie Beweise suchen für ihren Glauben. Sie suchen sie jedoch da, wo sie nicht zu finden sind. Der Aberglaube ist das Pendant zu einem schwachen Glauben oder zum Unglauben. Er ist das andere Extrem. Er ist somit verwandt mit dem Unglauben oder mit dem schwachen Glauben, wie stets die Extreme nahe beieinander liegen. Daher ist der Weg vom Aberglauben zum Unglauben nicht weit. Das gilt auch vice versa. Der Aberglaube steht dem Unglauben näher, als man das gemeinhin annimmt. Einerseits ist er verwandt mit dem Unglauben, andererseits mit dem schwachen Glauben.

Kein Geringerer als Thomas von Aquin († 1274) hat darauf hingewiesen, dass Leichtgläubigkeit in diesem Kontext der Kirche und dem Christentum mehr schadet als übermäßige Skepsis125.

Bei der Behauptung der Echtheit der Mystik und ihrer Phänomene müssen Kennzeichen namhaft gemacht werden, an denen man erkennen kann, dass es sich in einem konkreten Fall wirklich um echte mystische Erfahrungen und um echte mystische Phänomene handelt. Das gilt vor allem dann, wenn die mystischen Erfahrungen und Phänomene einen gewissen Öffentlichkeitsanspruch erheben. Um solche Kriterien hat sich die Kirche immer bemüht in der Geschichte.

Als echte Mystik bezeichnet man für gewöhnlich das tatsächliche mystische Erleben, gleichgültig, ob es sich hier um natürliche oder übernatürliche Mystik handelt. Als unechte oder falsche Mystik bezeichnen wir jene Mystik, die auf Selbsttäuschung und Halluzinationen beruht. Unter falscher Mystik fasst man dann auch die Magie126. Zum einen unterscheidet man zwischen echter und unechter Mystik, zum anderen zwischen natürlicher und übernatürlicher Mystik.

Unecht ist die Mystik, wenn sie bewusster Betrug ist, oder wenn sie auf Selbsttäuschung beruht. Die unechte Mystik findet, sofern bei ihr innere Erfahrungen und äußere Phänomene vorliegen, ihre Erklärung in der Psychologie, in der Parapsychologie oder in der Psychopathologie, oder es handelt sich hier um Magie, die sich allerdings auch nicht selten wiederum mit der Psychologie, der Parapsychologie und der Psychopathologie verbindet. Echte und natürliche Mystik haben wir unter Umständen in der philosophischen Mystik und in den Religionen. Ist die natürliche Mystik mit äußeren Phänomenen verbunden, so sind diese der Psychologie und der Parapsychologie zuzuordnen. In den Religionen kann es sich bei der echten Mystik unter Umständen auch um übernatürliche Mystik handeln127.

Die Unterscheidung zwischen echt und unecht ist in allen Fällen ein schwieriges Unterfangen, ein Unterfangen, das genuine Kenntnisse in der Mystik-Wissenschaft und in den der Mystik-Wissenschaft benachbarten Wissenschaften und vor allem viel Erfahrung voraussetzt. Das wird oft nicht bedacht, wenn einfache Menschen zu einem positiven Urteil kommen und etwa sagen: Das ist echt. Ich habe es ja mit eigenen Augen gesehen.

Es ist richtig, normalerweise kann man den eigenen Augen vertrauen, aber es gibt Fälle, außerordentliche Fälle, wo die Dinge komplizierter sind. Nicht immer sind die Dinge so, wie sie sich unseren Sinnen darbieten. Zuweilen sieht man mit den eigenen Augen nicht die Wirklichkeit. Die eigenen Augen sehen zuweilen nur den Vordergrund, manchmal täuschen sie uns, und für außergewöhnliche Vorgänge gibt es unter Umständen verschiedene Erklärungen.

Lange Zeit haben viele gemeint, die Ereignisse um Pater Pio, um den italienischen Kapuziner Francesco Forgione, der 1968 gestorben ist (* 1887 in Pietrelcina in der Provinz Benevent in Kampanien) und schon zu seinen Lebzeiten außergewöhnliche Beachtung gefunden hat, seien als unechte Mystik zu qualifizieren. Pater Pio war Träger der Wundmale Jesu, er hatte die Gabe der Prophetie sowie die Gabe der Wunderheilung. Die Kirche hat sich durch die Beatifizierung dieses Mystikers im Jahre 1999 und durch seine Kanonisierung im Jahre 2002 für die Echtheit seiner mystischen Erfahrungen entschieden. Über sein Leben und Wirken ist inzwischen eine Reihe von Büchern erschienen, die zumeist positiv urteilen. Nur auf eines der Werke sei an dieser Stelle hingewiesen, auf das Werk »Das wahre Gesicht des Pater Pio«, das im Jahre 1988 im Pattloch-Verlag in Aschaffenburg im Vorfeld des Beatifikationsprozesses des Mystikers als »kritischer Lebensbericht« im Druck erschienen ist. Es versteht sich, wie es ausdrücklich im Untertitel heißt, als »das Lebensbild eines gottesfürchtigen Menschen, des stigmatisierten italienischen Kapuziners«. Die Verfasserin ist Maria Winowska.

Anders als bei Pater Pio ist die Situation bei Therese Neumann († 1962). Auch sie hatte angeblich die Gabe der Prophetie und die Gabe der Wunderheilung, und sie trug die Wundmale Jesu. Zudem soll sie über beinahe vierzig Jahre weder gegessen noch getrunken haben. Schon seit vielen Jahren läuft hier ein Seligsprechungsverfahren. Immer wieder ist es jedoch ins Stocken gekommen. Neuerdings ist es wieder aufgegriffen worden. Die einen sehen in den Vorgängen um Konnersreuth Betrügerei, Verstellungskunst, Verlogenheit, Heuchelei, die anderen sehen in der Visionärin von Konnersreuth eine wahre Prophetin und eine Heilige. Wer hat Recht? Die Vertreter der Echtheit der Phänomene um Konnersreuth berufen sich gern auf das zweibändige Werk »Die Stigmatisierte Therese Neumann von Konnersreuth« des Archivrates Dr. Fritz Gerlich († 1934), der, wie es im Vorwort des Buches heißt, als Zeitgenosse minutiös die verschiedenartigsten jeweils aktuellen Blutungen bei den zahlreichen Leidensvisionen der Mystikerin untersucht und beschrieben hat. Fritz Gerlich wurde von den Nationalsozialisten ermordet. Das Buch »Die Stigmatisierte Therese Neumann von Konnersreuth« erschien in 6. Auflage in München im Jahre 1971. Ein weiteres zweibändiges Werk, das von den Freunden von Konnersreuth ins Feld geführt wird, ist die Lebensbeschreibung der Mystikerin von Johannes Steiner, die auch in München erschienen ist, im Jahre 1973, im Verlag Schnell & Steiner. In diesen Bänden werden eidesstattliche Erklärungen der Angehörigen und Verwandten sowie vielfältige Zeugnisse, Zeugenaussagen und Protokolle dokumentiert. Gewissermaßen als »Advocatus diaboli« steht dagegen der Laientheologe Josef Hanauer mit seinem Werk »Konnersreuth als Testfall. Kritischer Bericht über das Leben der Therese Neumann«, München 1972128.

Im Jahre 2005 wurde definitiv der Seligsprechungsprozess eröffnet. Wie verlautet, sollen zunächst einmal mehr als 60 Zeugen angehört worden sein.

Worauf bei Therese von Konnersreuth immer wieder abgehoben wird, das ist ihre Nahrungslosigkeit. Über 30 Jahre soll sie nur von der täglichen eucharistischen Speise gelebt haben129. Bruder Nikolaus von Flüe hat 20 Jahre gelebt, ohne Nahrung zu sich zu nehmen. Gerade das aber wird von den Gegnern immer wieder als Betrug bezeichnet.

Es ist bei der Anerkennung der Echtheit und der Übernatürlichkeit von mystischen Erfahrungen durch die Kirche zu berücksichtigen, dass die Kirche hier nicht den Anspruch der Unfehlbarkeit erhebt und auch gar nicht erheben kann, weil eine solche Anerkennung dem Hirtenamt der Kirche obliegt, das nicht mit dem Charisma der Unfehlbarkeit ausgerüstet ist. Auch die Seligsprechungen, die Beatifikationen, unterliegen, obwohl sie als solche Akte des Lehramtes sind, nach der Überzeugung der Kirche, nicht dem Charisma der Unfehlbarkeit, wohl jedoch die Heiligsprechungen, die Kanonisationen.

Das Problem der unechten Mystik sei an einem konkreten Fall erläutert, der dem Verfasser dieser Studie in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zugetragen wurde. Es handelt sich dabei um einen jüngeren Mann, der damals wenig über dreißig Jahre alt war, der seit einer Wallfahrt nach Medjugorje nur noch religiöse Dinge im Kopf hatte, der seither mit der Muttergottes in Kontakt stand, von ihr Aufträge erhielt und seinen religiösen Reden, die er ständig im Mund führte, auf diese Weise Nachdruck verlieh. Nach seinem Besuch in Medjugorje war er dann einige Jahre bei einer Niederlassung des »Löwen von Juda«, einer neueren aus Frankreich stammenden religiösen Kommunität, die stark charismatisch ist und auch mit Wunderheilung und Handauflegung operiert, um dann aus dieser Gemeinschaft entlassen zu werden mit der Begründung, er sei zu unreif130. Eine normale berufliche Tätigkeit lehnte er ab, wahrscheinlich lehnt er sie bis heute ab, lehnen allerdings angeblich auch viele Mitglieder der Kommunität »Der Löwe von Juda« ab mit der Begründung: Jesus sorgt für die Seinen. Teilweise ist es auch einfach der apokalyptische Enthusiasmus, der hier als Begründung herangezogen wird, obwohl die Vernachlässigung der alltäglichen Pflichten mit Berufung auf die Parusie schon im 2. Thessalonicherbrief angeprangert wird (2 Thess 3, 11 f).

Eine solche falsche Frömmigkeit liegt in der Linie eines gewissen Subjektivismus, der sich heute auch innerkirchlich mehr und mehr breit macht. In unserem konkreten Fall handelt es sich eindeutig nicht um echte Mystik, obwohl der Anspruch nachdrücklich erhoben wird, sondern um einen religiösen Wahn oder zumindest um Vorformen des religiösen Wahns. Solche Fälle – speziell auch der religiöse Enthusiasmus und seine Eskalation – bringen das Christentum bei denkenden Menschen in Misskredit und schaden der Glaubwürdigkeit der Kirche.

II. Kapitel:

DAS WESEN DER MYSTIK

1. Semasiologie und Etymologie der Wortfamilie

»Mystik«: mystisch, mystês, mystêrion, mystikós

a) Gebrauch der verschiedenen Termini in der Heiligen Schrift

Im Alten und im Neuen Testament kommen die Begriffe »Mystik« und »mystisch« nicht vor. Im Alten Testament begegnet uns jedoch zweimal der Terminus »mystes«, und zwar in der Bedeutung von »Eingeweihter«, das eine Mal, um die Kultpraxis der Kanaaniter, speziell die Kinderopfer, als negativ zu qualifizieren, das zweite Mal, um die Weisheit als Teilhabe an der Erkenntnis Gottes, als »Eingeweihtsein in das Wissen Gottes« zu charakterisieren. Weish 8, 4 heißt es: »... denn in das göttliche Wissen ist sie (die Weisheit) eingeweiht und wählt aus unter seinen Werken«, und Weish 12, 5 ist von den eingeweihten Teilnehmern inmitten des blutigen Opfermahls im Zusammenhang mit dem Götzendienst die Rede – es geht hier um die Kinderopfer in Kanaan. Wörtlich heißt es da: »Die erbarmungslosen Kindermörder und die Mahlgemeinschaft von Menschenfleischfressern, die eingeweihten Teilnehmer inmitten des blutigen Opfermahls und die Eltern, die eigenhändig Kinder ermordeten, wolltest du durch die Hand unserer Väter vertilgen« (Weish 12, 5 f).

Sodann kommt das Wort »mystêrion« einmal in den Evangelien bei den Synoptikern vor, und zwar mit Verweis auf das Gnadengeschenk Gottes im Glauben. Mk 4, 11 heißt es: »Da sprach Jesus zu ihnen: Euch ist es gegeben, die Mysterien des Reiches der Himmel zu erkennen«. Diese Stelle haben wir auch bei Matthäus (Mt 13, 11) und bei Lukas (Lk 8, 10). In der neutestamentlichen Briefliteratur gibt es schließlich noch eine Reihe weiterer relevanter Stellen, auf die später eingegangen werden soll.

b) Bei den Vätern und im Mittelalter

Sehr häufig wird das Adjektiv »mystisch«, »mystikós«, lateinisch »mysticus« bei den Kirchenvätern und im Mittelalter verwendet, und zwar in semantischer Abhängigkeit von »mystêrion«. Das Adjektiv wird hier im biblischen, im liturgischen und im spirituellen Bereich verwendet. Im biblischen Bereich wird jener Schriftsinn als mystisch bezeichnet, der sich hinter dem vordergründigen Literalsinn offenbart und zugleich enthüllt. Die tiefste Wirklichkeit der Offenbarung entschleiert sich in diesem Verständnis der Schrift durch den mystischen Sinn, der auch pneumatisch oder spirituell genannt wird, weil er sich im Heiligen Geist erschließt, oder allegorisch, weil sich in ihm der Überschritt vom buchstäblichen zum pneumatischen oder christologischen Sinn vollzieht.

In der Liturgie wird das Wort »mystisch« für die gegenwärtige und verhüllte Wirklichkeit Christi verwendet, für seine sakramentale Gegenwart. Hier setzt auch der Begriff des »corpus Christi mysticum« an, der in der mittelalterlichen Ekklesiologie eine wichtige Rolle spielt und noch heute zentral ist für die Ekklesiologie, wenngleich er zuweilen – zu Unrecht –völlig verdrängt wird von dem Begriff des »Volkes Gottes«.

Aus dem biblischen und liturgischen Gebrauch des Wortes »mystisch« ergibt sich der spirituelle Gebrauch des Wortes, der Gebrauch des Wortes also in dem Sinn, in dem uns das Wort vor allem vertraut ist, wenn wir es zur Bezeichnung der Beschauung verwenden, die ihrerseits der Gipfel des spirituellen Lebens oder des mystischen Pilgerweges oder des Aufstiegs der Seele zu den höchsten Stufen der Gotteserfahrung und zu ihrer letzten Einigung mit Gott ist. Der Kirchenvater Origenes († 254) schreibt: »Niemand kann die Schrift erfassen, der nicht zutiefst eines wird mit den Wirklichkeiten, von denen sie zu uns spricht131. Der gleiche Origenes erklärt, »dass wir in Christus Jesus den Hohenpriester nach der Ordnung des Melchisedech haben ›als einen Führer in die mystische und unaussprechliche Beschauung‹«132. Bei Origenes wird die »mystikê theoría« zum Schlüsselwort für die mystische Erfahrung, woraus dann im lateinischen Mittelalter die »contemplatio mystica«133 wird.– Seit dem 4. Jahrhundert beginnt man, den Aufstieg der Seele zu den höchsten Stufen der Gotteserfahrung und zur letzten Einung mit Gott eingehend darzustellen bzw. zu beschreiben. Diese Darstellung oder diese Beschreibung pflegte man »mystische Theologie« zu nennen. Geschichte hat hier der gleichnamige Traktat des Dionysius Areopagita im 5. Jahrhundert gemacht, ein Werk, das im ganzen Mittelalter sehr einflussreich geblieben ist. Viele Theologen haben das Werk kommentiert. So etwa Hugo von Sankt Viktor († 1141), Richard von Sankt Viktor († 1173), Thomas Gallus († um 1246), Hugo von Balma, ein Kartäuser-Prior, der Ende des 13. Jahrhunderts gestorben ist, Albertus Magnus († 1280), Dionysius der Kartäuser († 1471) und Nikolaus von Kues († 1461).

 

Dionysius Areopagita wird auch Pseudo-Dionysius Areopagita genannt. Oder man spricht einfach von dem Areopagiten. Vier bedeutende Werke, größere Abhandlungen, hat er geschrieben: 1. »De mystica theologia« (5 Kapitel über die mystische Vereinigung der Seele mit Gott, die hier für den Verfasser in einem Zustand völliger Passivität vor sich geht), 2. »De divinis nominibus« (13 Kapitel), 3. »De caelesti hierarchia« (15 Kapitel) und 4. »De ecclesiastica hierarchia« (7 Kapitel). Bis gegen Ende des Mittelalters hat man gemeint, der Verfasser dieser Schriften sei identisch mit dem von Paulus durch seine Rede auf dem Areopag in Athen bekehrten Dionysius (Apg 17, 34). Seit dem Ende des Mittelalters aber weiß man, dass es sich bei diesem Dionysius um einen Mönch handelt, der gegen Ende des 5. Jahrhunderts gelebt und geschrieben hat. Seine Gedankenwelt ist wesentlich vom Neuplatonismus beeinflusst, dessen Grundgedanken er mit den christlichen Lehren verschmelzen möchte.

Auch unabhängig von Pseudo-Dionysius und seinem Werk ist das Wort »mystisch« sehr häufig im lateinischen theologischen Schrifttum des Mittelalters anzutreffen, weniger zur Bezeichnung des geheimnisvollen Sinnes der Heiligen Schrift, das auch, aber weniger, häufiger im Bereich der Liturgie, hier vor allem in der Wortverbindung »der mystische Leib Christi«134. Am häufigsten noch findet sich der Terminus »mystisch« im lateinischen Schrifttum des Mittelalters in dem spezifischen Sinn der geheimnisvollen Begegnung des Menschen mit Gott durch Aszese und Gebet als Kulmination der »vita spiritualis«. Der gebräuchlichere Terminus für »Mystik« ist in diesem Sinne im Mittelalter allerdings der Begriff »contemplatio«. In dieser »contemplatio«, in dieser Beschauung, in der Schau Gottes und in der Schau der Mysterien des Glaubens sah man das höchste Ziel aller Frömmigkeit. In diesem Faktum zeigt sich, dass der theologische Untergrund der Mystik, wie er in Kult und Sakrament gegeben war, allmählich im christlichen Bewusstsein zurücktrat135.

c) In der Neuzeit und in der Gegenwart

Zunächst nur im katholischen theologischen Schrifttum verwendet, ging der Terminus »Mystik« erst relativ spät in den allgemeinen Sprachgebrauch der abendländischen Völker ein, in den romanischen Ländern im 17. Jahrhundert, im deutschen Sprachraum erst im 18. Jahrhundert. Er hat dann allerdings die verschiedensten Bedeutungen angenommen, die alle in der Grundbedeutung einer »außerordentlichen, überrationalen, inneren religiösen Erfahrung« übereinkommen136.

In unserem heutigen Sprachgebrauch hat das Wort »mystisch« eine sehr allgemeine und unklare Bedeutung. Weithin bezeichnen wir als »mystisch« alles, was dunkel und unverständlich ist oder so empfunden wird. »Mystisch« ist in unserem heutigen Sprachgebrauch synonym mit absonderlich, seltsam, geheimnisvoll137. Vor allem denkt man heute bei »mystisch« an eine fremdartige religiöse Geheimweisheit, wie sie etwa in den Mysterienreligionen im alten Griechenland gepflegt wurde138.

d) Die Begriffe »mýo« und »myéo«

Faktisch stammt der Terminus »mystisch« aus der altgriechischen Sprache und Kultur, von daher hängt er auch zusammen mit dem Begriff der »Mysterien«, wie sie in den Mysterienreligionen gepflegt wurden. Etymologisch gesehen, entstammt der Terminus der altgriechischen Sprache, sofern ihm zwei griechische Verben zugrunde liegen, die ihrerseits innerlich zusammenhängen, nämlich »mýein« und »myeîn« oder (in der ersten Person des Präsenz) »mýo« und »myéo«.

Das Verbum »mýo« bedeutet soviel wie »schließen«. Dabei denkt man an die Augen, den Mund und die Lippen, vor allem an die Augen, man ergänzt hier also gleichsam »toûs ophthalmoûs«, auch wenn es nicht da steht. Zuweilen wird allerdings dem Verbum »mýo« im Griechischen auch »toûs ophthalmoûs« ausdrücklich hinzugefügt. Man verwendet das Verbum »mýo« aber auch, wie gesagt, für den Vorgang des Schließens des Mundes. Manche gehen davon aus, dass das gar die ursprüngliche Bedeutung ist. Sie berufen sich dabei auf das Verhältnis zwischen Lautbildung und Wortsinn und erklären das Wort als Lautmalerei. In einem allgemeineren Sinn bedeutet »mýo« demnach das Schließen der Sinne, näherhin der Organe der Wahrnehmung und Mitteilung, also Abkehr von der Welt. Damit ist der Bezug gegeben zu Gegenständen, Tätigkeiten, Persönlichkeiten und Wahrheiten, die, in irgendeiner Weise wenigstens, den Schleier des Geheimen und des Geheimnisses tragen. Wenn wir ganz nach außen hin abgeschirmt werden wollen und uns völlig nach innen hin konzentrieren, so schließen wir die Augen. Das kann man etwa im Konzertsaal beobachten, bei den Musizierenden wie auch bei den Hörenden. Aber auch sonst begegnet uns das Schließen der Augen, aber auch das Schließen des Mundes, das Schweigen, als Ausdruck tiefster Konzentration. Die Orientierung nach innen hat indessen vor allem im religiösen Raum einen Ort.

Wenn wir auf unsere entwickelte Bedeutung von Mystik schauen, so ist die Abkehr von der Welt nicht das Ziel, sondern das Mittel und der Weg zu dem eigentlichen Ziel, nämlich zur Vereinigung mit der Gottheit139. »Myéo« oder (im Infinitiv) »myeîn« bedeutet dann einweihen, einweihen in eine antike Mysterienreligion, in eine Religion, die Mysterien feierte, die also gottesdienstliche Veranstaltungen in eng umschriebenen religiösen Gemeinschaften beging, die sich meistens nach dem Namen jener Gottheit benannten, die die Mitte der jeweiligen Gemeinschaft war, mit der diese Gemeinschaft in Verbindung stand oder in Verbindung zu stehen vorgab140. Man sprach etwa von den Mithras-Mysterien oder von den Dionysos-Mysterien. »Myéo« bedeutet also soviel wie »einweihen«. Man dachte dabei in alter Zeit an die Einführung eines unerfahrenen Neulings in die göttlichen Geheimnisse, näherhin in die Geheimnisse einer bestimmten Mysterienreligion. In dieser Bedeutung findet sich das Verbum »myéo« nur ein einziges Mal in der Bibel, nämlich im Philipper-Brief des Paulus (Phil 4, 12). Das Wort »mýo« gibt es überhaupt nicht in der Bibel.