Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen

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Die Wiest-Großeltern

Unsere Wiest-Großeltern, Wiest Lorenz, geboren am 2. September 1889 in Perbál, und Fress Maria, geb. am 8. Juni 1893 in Perbál, heiraten am 17. Februar 1914 in Perbál. Sie lebten zunächst zur Miete („in Zins“), danach im Haus ihres Fress-Opas in der Jägerstraße 35 in Perbál. Er hatte sich ein neues Haus gebaut und ihnen sein altes überlassen.

Diese Großeltern hatten für uns nicht so eine große emotionale Bedeutung wie die Kopp- Großeltern. Meine frühesten Erinnerungen an sie habe ich erst ab meinem sechsten Lebensjahr. Mein Großvater Lorenz war 1948 gestoben. Ich erinnere mich noch an sein Begräbnis. Der tote Opa war der erste Tote in meinem Leben, den ich bewusst wahrnahm. Wir waren zu seiner Beerdigung in Roda. Aufgebahrt im Sarg lag ein blasser Mann mich knochigem, eingefallenem Gesicht und kurzen grauen Haaren. Ernsthafte, schwarz gekleidete Männer und Frauen befanden sich im Raum. Für meinen Bruder und mich war das wohl zu langweilig. Er war sieben Jahre alt und ich sechs. Irgendetwas war zwischen uns vorgefallen und wir liefen um den Sarg herum und verfolgten uns gegenseitig. Mein Vater packte uns bei den Armen und ermahnte uns, ernst zu sein. Seine Stimme war brüchig und er hatte Tränen in den Augen. Es war das erste und letzte Mal in meinem Leben, dass ich ihn weinen sah, und wohl auch, dass ich ihm tief in die Augen blickte. Meine Großmutter Maria war selbstverständlich auch bei der Beerdigung ihres Mannes dabei, aber ich habe keine Erinnerung daran. Viel später erzählte uns unser Vater, dass dieser Großvater an einer „Darmverschlingung“ gestorben sei. Das schien uns immer eine sehr unzutreffende Erklärung zu sein. Laut einer Bescheinigung vom Sommer 1946 litt er unter chronischer Gastritis.

Unsere Wiest-Großmutter war eine hagere Frau, die ich nur in schwarzer Tracht kannte. Sie hatte eine scharf hervortretende Nase, tief liegende Augen und magere Hände. Bei ihr spürte ich keine Wärme und Zuneigung. Das lag sicher auch daran, dass wir von unserer Mutter beeinflusst waren, die sich von ihrer Schwiegermutter verfolgt fühlte. Es herrschte Kampf zwischen den beiden. Die Oma konnte ihren ältesten Sohn nicht loslassen. Sie hatte bereits zwei jüngere Söhne im Krieg verloren. Unsere Mutter gelang es offenbar nicht, die überstarke Mutterbindung unseres Vaters zu durchbrechen und durch eine starke Bindung an sich zu ersetzen In diesem permanenten Streit war unsere Mutter lautstark, wort- und gestenreich. Die Oma kämpfte eher still und verbissen. Sie benutzte unseren Vater, um unserer Mutter zuzusetzen. Bevor unsere Großmutter zusammen mit ihrer Schwester in Roda ein Haus gekauft hatte, wohnte sie eine Zeit lang mit uns zusammen in unserem neuen Haus in Berghofen. Das führte oft zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen unseren Eltern. Unser Vater war dabei stets das willige Werkzeug seiner Mutter. Wenn er von der Arbeit zurückkam, ging er sogleich nach oben zu ihr. War es tagsüber zu einem Konflikt zwischen ihr und unserer Mutter gekommen, ergriff er, ohne die Angelegenheit zu hinterfragen, sofort die Partei seiner Mutter und stellte seine Frau zur Rede. Die bestand dann auf ihrer Version des Vorfalls und im Nu war der heftigste Streit zwischen den Eltern im Gange. Es blieb nicht bei lautstarken Beschimpfungen. Manchmal hatte unsere Mutter auch ein blaues Auge. Die heftigste Szene ereignete sich, als meine Mutter einmal die Treppe hinaufrannte, um sich dort oben vor den beiden zu rechtfertigen und die Oma zu beschimpfen. Unser Vater stieß sie zurück, und sie fiel die Treppe hinunter. Das hat er sicher im Affekt getan. Dennoch war unsere Mutter von diesem Sturz wochenlang gezeichnet, der aber doch ein gutes Resultat hatte: Bald darauf zog die Oma zurück nach Roda, wo sie zunächst bei einem Bauern zur Miete wohnte und später zusammen mit einer Schwester ein Haus kaufte. Im Streit mit unserer Mutter fasste unser Vater seine Prioritäten voller Wut einmal so zusammen. „Erst kommt meine Mutter, dann komme ich, dann kommt lange gar nichts und dann kommst du.“ Uns Kinder erwähnte er in seiner Rangordnung nicht. Wir fielen wohl unter das „lange Gar nichts“.

Am Wochenende fuhr unser Vater mit meinem Bruder und mir ziemlich regelmäßig zu seiner Mutter in das etwa vierzehn Kilometer entfernte Dorf Roda. Er befördert uns auf seinem Fahrrad. Einer saß hinten auf den Gepäckträger und einer auf der Stange oder, später, auf einem vorne am Lenker angebrachten Kindersitz. Wir übernachteten meistens von Samstag auf Sonntag dort, wohl im Bett des verstorbenen Opas. Um uns einzuschläfern, las uns die Großmutter aus der Bibel vor, häufig aus der Genealogie, lange Passagen aus der Geschlechterfolge, die für uns völlig unverständlich waren. Irgendwann fielen uns dabei die Augen zu. Den Sonntagvormittag brachten wir mit Friedhofs- und Verwandtenbesuchen zu. Meistens waren wir bei Cousinen der Großmutter – eine langweilige Pflicht. Widerlich war mir dabei, dass uns die alten Frauen an sich rissen, ein „Busserl“ wollten und uns abknutschten. Gern besuchten wir dagegen die „Resibasl“, unsere Großtante Theresia. Sie wohnte mit unserer Großmutter im gleichen Haus und war kinderlos. Ihren Mann, Marton, hatte sie im Krieg verloren und mochte uns Kinder. Sie verbreitete eine wohlige Atmosphäre, erzählte von ihrem Leben, zeigte uns Fotos und gab uns öfter auch eine Kleinigkeit. Ein „Busserl“ erwartete sie dafür nicht. So wie wir verpflichtet waren, unsere Oma zu besuchen, so war sie verpflichtet, uns beim Abschied ein kleines Taschengeld zu geben. Mein Vater hatte dafür gesorgt. Käuflich, wie wir waren, nahmen wir es gerne an. Peinlich war es immer dann, wenn die Oma einmal pflichtvergessen war. Wir drückten uns dann so lange herum, bis es ihr wieder einfiel oder ihr unser Vater ihr mehr oder weniger deutlich ein Zeichen gab. Mir war diese Situation immer peinlich.

Besuch unseres Vaters in Perbál

Unsere Schwester besuchte mit unserem Vater Perbál. Aus ihrem Bericht: „An der ungarischen Grenze mussten wir lange warten. Vater sprach zunächst nicht. Vielleicht hatte er Angst, dass er wegen seiner Vergangenheit in Perbál festgenommen würde. Ich beruhigte ihn deswegen. ‚Die kennen dich doch gar nicht.‘ Als er dann mit dem Grenzer ungarisch sprach, wurden wir sofort abgefertigt. In Perbál suchte Vater zuerst den Weinkeller der Wiest-Familie. Als er ihn in der Kellergasse identifiziert hatte, kletterte er obendrauf. Offenbar war er sehr stolz. Dann ging er mit mir in die ‚Gurgel‘, das war ein (Hohl-)Weg am Rande des Dorfes, zum Berg hin. Dort hatte einer unserer Wiest Vorfahren einmal in einer Art Lehmhöhle gewohnt, bevor Vaters Großvater das Haus im Dorf baute. Es gab dort mehrere solche Höhlen. Ich erinnere mich, dass noch Reste davon zu erkennen waren.“

Das Geld für das Haus hat der Urgroßvater wohl von seinem Vater erhalten, der zu den reichen Leuten gehörte, wie uns der Vater öfter erzählte. Unsere Wiest-Großeltern waren im Dorf nicht angesehen. Unser Kopp-Opa widersetzte sich daher der Heirat unserer Mutter mit unserem Vater, bis sie schließlich heiraten „mussten“ (November 1940). Die Armut war aber nicht der Hauptgrund seines Widerstandes gegen die Heirat. Unser Wiest-Opa war ein großer Trinker. Das hat ihm auch seine Magen- und Darmprobleme eingebracht. Ein Trinker war auch sein Bruder Franz, der Feldhüter.

Fast alle Männer im Dorf tranken Wein oder verdünnten Wein (Spritzer). Sie deckten damit in der Regel ihren Flüssigkeitsbedarf. Kaffee oder Tee waren Getränke „für die Weiber“. Nur Wasser tranken die wenigsten. Bevor jemand als Trinker bezeichnet wurde, musste er mehr als das übliche Quantum zu sich nehmen. Die kräftig zulangten, brachten es auf mehrere Liter am Tag. Trotz ihres Alkoholkonsums waren die Männer in der Regel noch alltagstauglich. Die Tage reichten im Sommer von vier Uhr morgens bis zehn Uhr in der Nacht. Problematisch wurde das Trinken dann, wenn der Weinkonsum noch höher als der übliche war und Schnaps hinzukam. In Ungarn ist es heute noch so, dass man auf dem Dorf vor der Arbeit einen Schnaps trinkt. Häufig auch vor den Mahlzeiten. Wir haben das bei der Weinlese so als Regel kennen gelernt. Überrascht waren wir jedoch, als uns beim Besuch einer lieben Freundin in Budapest vor dem Frühstück ein Schnaps angeboten wurde, also auch in der Stadt.

Unser Vater erzählt

Der Großvater seines Großvaters hieß Franz Wiest. Der Vorname seines Urgroßvaters, war ihm nicht bekannt. Er kannte ihn nur als „der fromme Joob“. Vermutlich hieß er auch Lorenz. Er war wohl ein größerer Bauer und hatte Wechsel unterschrieben, die er nicht einlösen konnte. So hat er seinen Grund, eine „Halbsession“, verloren. Die Großmutter unseres Vaters hieß mit Mädchennamen Dietrich. Deren Vater war ein Schmied. Sie war die einzige Tochter und heiratete einen Josef Fress, Vaters Fress-Opa. Der war wohlhabend.

Er diente bei den Husaren und arbeitete dort als Dolmetscher für die Ungarn. Ungarisch hatte er bei einer Familie in Gran (Esztergom) als Austauschkind gelernt, ein Jahr lang. Die Kinder der ungarischen Familie waren in der Zeit in Perbál und lernten Deutsch. Nach seiner Soldatenzeit hatte er sich von einem Grafen eine Landwirtschaft in Diner (Tinye) gepachtet, 30 Joch.8 Den Ertrag verkaufte er nach Gran. Bei der Ernte mussten alle aus der Familie und auch Nachbarn auf den Feldern mithelfen. Sie war so groß, dass sich auch in der vorderen Stube der Mais (Kukuruz) bis unter die Decke stapelte. Gedroschen wurde bis Weihnachten, aber nicht der Mais, der wurde von den Kolben gerebelt.

Unser Kopp-Uropa zeichnete eine Kriegsanleihe in Höhe von 30.000,- „Gulden“ (Kronen), er war also recht wohlhabend. Das Geld verfiel nach dem Ersten Weltkrieg. Keine Bank war bereit, die Kriegsanleihen zurückzuzahlen. Unserem Urgroßvater erging es nicht anders als Millionen von Anlegern in ganz Europa. Auch das Erbteil unserer Wiest-Oma, 8.000- Gulden (Kronen) verfiel auf der Sparkasse in Zsambék.9 Unsere Wiest-Großeltern waren Kleinlandwirte und bearbeiteten mehrere Äcker und einen Weinberg. Ihre drei Söhne waren unser Vater, geb. am 21. Juli 1917 in Perbál, gestorben am 9. Dezember 2001 in Grafenhaun, Bayern, Josef, geb. 1920 in Perbál, gestorben am 28. Oktober 1941 in Karelien, Franz, geb. 1922 in Perbál, gestorben/vermisst seit 16. November 1941 in Karelien.

 

Die Wiest-Großeltern lebten zunächst zur Miete („in Zins“), danach im Haus des Fress-Opas in der Jägerstraße 5 in Perbál. Er hatte sich ein neues Haus gebaut. Vater sagte zunächst, es sei in der „Gurgel“ gestanden, dann verneinte er das wieder. Es stand dort noch bis in die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Dann hat es eine junge, ungarische Familie gekauft und umgebaut. Nur auf dem Hof befanden sich noch alte Schuppen und Ställe.


Die Wiest-Großeltern, hier ein Foto, das wohl kurz nach ihrer Hochzeit aufgenommen wurde.


Vom Unterdorf zu den Häusern auf den Hügeln führte eine Art Feldweg. Dort oben, für uns Kinder sehr weit entfernt, stand das Haus unserer Wiest-Großeltern. Glaubt man den Erzählungen meiner Mutter, die dort als Schwiegertochter unangenehme Erfahrungen gemacht hatte, dann waren diese Großeltern Habenichtse. Wenn später die Rede auf die verschiedenen Familien kam und auf ihren Besitz und unsere Mutter unserem Vater wegen dessen ärmere Abkunft allzu sehr zusetzte, deutete der eine große Geste an, drehte auf dem Absatz eine halbe Pirouette und sagte in fehlerlosem Hochdeutsch: „Habe nichts und lebe doch!“

Der Hof war noch unverändert

„Wir können ja mal klingeln. Vielleicht lassen sie uns herein“, sagte mein Cousin Ferenc, mit dem ich vor dem Neubau stand. Eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm öffnete die Tür. Ein etwas größeres Kind klammerte sich an ihr linkes Bein und versteckte sich halb dahinter. Nachdem Ferri uns vorgestellt hatte, bat sie uns freundlich herein. Sie führte uns durch den bescheidenen Neubau. Gerade habe sie einen Kaffee auf dem Ofen, ob wir vielleicht eine Tasse mit ihr trinken möchten. Wir sagten nicht Nein. Ihr Mann habe in Budapest eine Arbeit gefunden. aber dort könne man sich mit einem Facharbeiterlohn keine Wohnung kaufen. Das alte Haus unserer Großeltern hätte sie kaufen können, weil die Kinder der Vorbesitzer schon eine Stadtwohnung hatten. Es täte ihr leid, dass sie das Haus unserer Großeltern abgerissen hätten, aber eine Renovierung wäre teurer gekommen als ein Neubau.

Die hinteren Anbauten und der Hof seien allerdings noch unverändert. Wir könnten uns das gern ansehen. „Es ist noch alles so, wie wir es gekauft haben. Das Geld für die Renovierung des Hofs und der Ställe haben wir noch nicht.“ Wir bedankten uns und gingen mit ihr in den Hof. Hätte ich Ferenc/Franz, nicht dabeigehabt, wäre die Besichtigung sicherlich nicht so problemlos gewesen, denn die junge Frau sprach nicht Deutsch, und ich spreche leider auch nicht ausreichend Ungarisch.

Sie zierte sich doch ein wenig, diesen fremden Mann aus Deutschland auf ihren Hof zu führen, denn dort war ein ziemliches Durcheinander. Überall lagen oder standen alte Haus- und Ackergeräte in große Unordnung herum. Zwischendrin liefen Hühner und Gänse bunt durcheinander. Der zottige kleine Haushund sorgte durch sein aufgeregtes Gehabe dafür, dass das Geflatter und Geschnatter der verschreckten Tiere nicht aufhörte. Weil es Frühjahr war und der Lehmboden noch feucht und aufgeweicht, mussten wir stellenweise sehr vorsichtig auftreten. Dennoch war das für mich eine sehr beeindruckende halbe Stunde auf diesem Hof, an den ich keine Kindheitserinnerung mehr habe. Hier war noch ein Stück des ursprünglichen Lebens vorhanden. All die alten Geräte, die Schuppen, die Tiere, die zerfallende Gartenmauer aus Lehmziegeln, der schwere, aprilnasse Lehmboden – all das kam mir irgendwie vertraut vor, vermittelte ein Gefühl von „daheim“. Dass es sich um das Haus meiner Großeltern handelte, war nicht der Auslöser dieses Gefühls. Es war die ganze ungewollte Komposition, dieses „Galizische“, dem ich im Süden Polens, in der Ukraine, in Moldawien, in den Dörfern Sloweniens und der Woiwodina schon so oft begegnet war. Immer wieder zieht es mich dahin und stets entsteht in mir die Ahnung aufs Neue: „So war mal deine Heimat.“ Ich ließ mich gehen, in diese Stimmung hinein, schwelgte in diesem lehmigen Heimatgefühl und sah mir jedes Detail genau an, so als wäre es die letzte Gelegenheit, das alles noch einmal so wahrnehmen zu können, wie es in meiner Kindheit war.


Blick in den Hof. Schweine hatten sie nicht mehr.

In alle Winkel und Ecken schaute ich, öffnete die Türen und blickte in die Ställe hinein – und stand plötzlich vor einem halben Hakenkreuz im alten Kuhstall. Exakt, wie mit einer Schablone hatte es jemand genau der Tür gegenüber an die Wand gemalt. Mindestens einen Meter hoch war es einmal gewesen. Zu sehen war nur noch die untere rechte Hälfte, das obere Stück war frisch verputzt, vermutlich war der alte Lehmputz heruntergefallen, und das Loch ist ausgebessert worden. Meine Ernüchterung war groß. Nichts mehr war übrig von lehmiger Nostalgie und Heimatgefühl. Die Vergangenheit hatte mich unverhofft eingeholt.

Hakenkreuz im Kuhstall

Wer hatte das dahin gemalt? Und warum war es, 46 Jahre nach Kriegsende, noch nicht beseitigt worden, obwohl doch spätestens die Ausbesserungsarbeiten einen guten Anlass dazu gegeben hätten?

Die Vermutung liegt nahe, dass meine beiden Onkel, damals junge Burschen von einundzwanzig und neunzehn Jahren, das Zeichen des Österreichers in den Kuhstall gemalt haben. Beide waren im Juli 1941, gegen den Widerstand ihrer besorgten Eltern, zu einem „Schulungskurs“ oder „Sportlehrgang“ nach Brünn mitgefahren, den die Deutsche Jugend (DJ) organisiert hatte. Dort ließen sie sich aufgrund der Einflüsterungen und Versprechungen von Himmlers Agenten, die ihnen für den Beitritt zur Waffen SS die deutsche Staatsbürgerschaft versprachen, zu diesem Schritt verführen. Nach einer militärischen Kurzausbildung von sechs Wochen kamen sie direkt an die Karelische Front. Vom Februar 1942 an erfolgte die Rekrutierung der ungarndeutschen Wehrpflichtigen auch schon direkt zur Waffen-SS.10 Der ältere der beiden Brüder war schon nach drei Monaten tot, zerfetzt von einer sowjetischen Granate bei Borok nahe der finnisch-russischen Grenze. Der Jüngere ist seit November 1941 in Karelien vermisst. Er ist von einem Angriff auf einen Bahndamm in der Nähe Loukhi nicht mehr zurückgekommen. Einer seiner Kameraden aus Perbál berichtete später, er habe einen Bauchschuss erhalten, konnte aber wegen des anhaltenden Feuers der Russen nicht geborgen werden. Stundenlang schrie er um Hilfe und verblutete hilflos im tiefen Schnee. Er wurde nicht begraben. Die beiden jungen Männer haben ihren Einsatz für eine von ihnen vielleicht herbeigesehnte Zugehörigkeit zum Deutschen Reich mit ihrem jungen Leben bezahlt. Dort hofften sie, frei vom Magyarisierungsdruck ihres ungarischen Vaterlandes leben zu können. Tausende andere junge ungarndeutsche Männer erlitten das gleiche Schicksal. Sie starben, weil ihr Vaterland Ungarn sie ihrer deutschen Identität berauben wollte. Bekennt euch als Ungarn oder verschwindet!

Ein „Sportlehrgang“ in Brünn

Hier sahen die Agenten Himmlers eine Chance für ihre zunächst noch illegale Werbung. „Es wurden zum Beispiel junge gesunde und politisch zuverlässige Volksdeutsche…zu Schulungskursen, HJ-Lagern oder Sportlehrgängen nach Deutschland eingeladen und dort zum freiwilligen Eintritt in die Waffen-SS überredet. Nur die wenigsten von ihnen hatten damals eine Vorstellung von der gefährlichen Bedeutung dieses Schrittes. … vor allem aber das Bewußtsein, in der Waffen-SS anders als in der Honvéd (ungarischen Armee d.V.) als gleichwertig zu gelten, … erleichterte den jungen Volksdeutschen den Übertritt.“11

Konnten diese ungebildeten Bauernburschen ahnen, dass die Waffen-SS nicht nur Hilfstruppe der Wehrmacht bei ihren mörderischen Eroberungskriegen war, sondern zentraler Bestandteil der Judenvernichtung wurde? Vermutlich nicht. Hatte man ihnen nicht vorgegaukelt, dass sie in der Waffen-SS im Überlebenskampf der germanischen Rasse gegen den jüdischen Weltbolschewismus auf der richtigen Seite kämpfen würden? Unterlagen sie schließlich dem Mythos und der Glorie von schnellen, beinahe kampf- und opferlosen Siegen im Blitzkrieg? Meine beiden Onkel hatten ihren Verführern Glauben geschenkt. Bevor sie ihren unbedachten Schritt hätten bereuen können, waren sie tot.

Mit diesen Ausführungen will ich nichts beschönigen oder rechtfertigen. Ihren Schritt haben sie selbst zu verantworten und teuer bezahlt. Viele junge Männer, viel zu viele, sind der Nazipropaganda aus Überzeugung gefolgt. Fotos von den Aufmärschen der „Deutschen Jugend“ (DJ) belegen das. Ihre ausgestreckten rechten Arme unterscheiden sich nicht von denen der Hitlerjugend (HJ).

Andere haben sich einer Bewegung angeschlossen, die die Treue zum ungarischen Staat propagierte (Treuebewegung). Deren Mitgliedschaft blieb jedoch relativ gering. Wieder andere meldeten sich zur Ableistung ihrer Wehrpflicht zur ungarischen Armee. Nach dem Abkommen vom 1. Februar 1942 wurde die Musterung von einer deutsch-ungarischen Kommission durchgeführt. Dem Wehrpflichtigen blieb formal noch die Wahl zwischen Honvéd (Ungarische Armee), deutscher Wehrmacht und Waffen-SS. Ein Abkommen vom 1. Juni 1943 erweiterte den Kreis der Gemusterten auf „Freiwillige bis zu 35 Jahren“. Der Druck auf die „Freiwilligen“ zum Eintritt in die Waffen-SS wuchs dabei ständig. Letztlich unerheblich wurden diese Differenzierungen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn (14. März 1944).

Einen Monat später kam es zu einem deutsch-ungarischen Abkommen, „danach wurden alle ungarischen Staatsbürger, die Deutsch als Muttersprache bei der Volkszählung 1941 angaben oder ‚durch ihre Lebensweise und ihr Volkstum Merkmale als solcher zeigten‘ der SS überstellt … In manchen Fällen veranstalteten die SS-Werbekommandos regelrechte Treibjagden: Auch die ungarische Polizei half bei der Zwangsrekutierung: Entziehen konnte sich kaum jemand.“

Der Verfasser, Krisztian Ungváry, weist darauf hin, dass zur Verteidigung Budapests zwei SS-Divisionen und drei SS-Polizeiregimenter aus Ungarndeutschen sowie zwei weitere Divisionen mit hohem Anteil von Ungarndeutschen aufgestellt wurden. „Außer der zuletzt genannten wurden all diese Einheiten in und um Budapest eingesetzt und vernichtet.“12 Er verweist auch darauf, dass die Zivilbevölkerung der deutschen Dörfer bei diesen Kämpfen hohe Verluste erlitt. Diese Angaben sprechen für sich: Als Kanonenfutter zur Verteidigung ihrer Hauptstadt, die Hitler zur Festung erklärte hatte, kamen die ungarndeutschen Soldaten und Zivilisten gerade recht. Die Zahl der zur Waffen-SS eingezogen Ungarndeutschen ist umstritten. Ende Dezember 1943 sollen es 22.125 gewesen sein.13

Zwei Briefe

Ein Brief, den der Kompaniechef, Anton Stehm, an die verzweifelten Eltern ihres jüngsten Sohnes Franz schrieb, lautet wie folgt:

Im Felde, 19.11.1941

Geehrter Herr Wieszt!

Ich habe die unangenehme Pflicht Ihnen mitzuteilen, dass ihr Sohn, SS-Schütze Franz Wieszt seit den Kampfhandlungen des 16.11.1941 in den karelischen Wäldern ostwärts Kristinki vermisst wird und bis jetzt noch nicht zur Einheit gestoßen ist. Wenn ich auch die Überzeugung habe, dass er vielleicht doch noch sich irgendwo einfindet, muss doch mit seinem Tode gerechnet werden. Bedingt durch das nächtliche Abwehrgefecht und durch die sehr schwierigen Geländeverhältnisse ist es uns nicht möglich gewesen, bei den Kompanieangehörigen irgendwelche Aufklärungen zu erhalten. Sollten sich aus den weiteren Nachforschungen irgendwelche Anhaltspunkte ergeben, so werde ich Sie sofort benachrichtigen. Ihr Sohn hat in der kurzen Zeit, die er erst unserer Einheit angehört, bereits die Achtung seiner Kameraden erworben. Er zeigte sich bei den Angriffen der letzten Tage als tapferer Deutscher.

Heil Hitler Ihr Stehm

SS-Gruppenführer und Kompaniechef

Dieser Herr hätte zutreffender schreiben sollen, dass er sich bei den Angriffen der letzten Tage als „dummer Deutscher“ gezeigt hatte. Ist es nicht so gewesen, dass sich dieser verführte Junge vor seinen reichsdeutschen Kameraden hervortun wollte und vorwärtsstürmte, während die sich bedeckt hielten? Richtig jedenfalls ist, dass die Soldaten aus den deutschen Minderheiten der eroberten Länder von ihren „echten deutschen“ Kameraden als „Beutegermanen“ verspottet wurden.

 

Aus einem Schreiben eines Direktors des Deutschen Roten Kreuzes, Max Heinrich, vom 7. November 1974 an unsere Großmutter geht hervor, dass mehrere „verlustreiche Versuche“ der SS-Division „Nord“, die Bahnlinie nach Murmansk zu erobern und zu unterbrechen, von besser ausgerüsteten, überlegenen russischen Truppen zurückgeschlagen wurden. Seitdem seien viele Angehörige dieser Division vermisst, „darunter auch der Verschollene“. Es gebe „keinen Hinweis dafür, daß der Verschollene in Gefangenschaft geriet… Alle Feststellungen zwingen zu der Schlußfolgerung, dass er bei diesen Kämpfen gefallen ist.“ Notabene: In dem Brief ist nicht von einem „Abwehrgefecht“ die Rede, sondern von einem Angriff auf einen überlegenen Gegner.14

Viel haben wir als Kinder über dieses Kapitel aus der Geschichte Perbáls in der Familie oder von Verwandten, aber auch in späteren Gesprächen mit Bekannten nicht erfahren. Schon als kleine Kinder hörten wir, dass unsere Mutter den Begriff „Nazi“, sie sagte „Nazl“, als Schimpfwort benutzte. Lange Zeit verstanden wir Kinder nicht, was damit gemeint war. Als „die Amerikaner“ den Dorfbewohnern von Berghofen, wohin wir vertrieben worden waren, einen Film über die Befreiung der Konzentrationslager mit den bekannten fürchterlichen Bildern zeigten, verstanden wir Kinder von sechs und sieben Jahren nicht, dass das etwas mit den Nazis zu tun hatte. Wir mussten erst in die Mittelschule kommen, bis wir allmählich erfuhren, was alles passiert war und warum wir nicht mehr in Perbál in Ungarn leben konnten, sondern in Nordhessen, wo die Leute ganz anders sprachen als wir und wo man uns „Zigeunern“ gar nicht wohlgesonnen war.

Die Deutschen in Perbál sind seit der Ankunft unserer Vorfahren in den Neunzigerjahren des siebzehnten Jahrhunderts in Ungarn loyale ungarische Staatsbürger gewesen. Als überwiegend katholische Menschen lebten sie in einer katholischen Umgebung kümmerten sich kaum um Politik und standen nicht in Opposition zur ungarischen Staatsmacht. Solange Ungarn zur Habsburger Monarchie gehörte, genossen die deutschen Siedlungen sogar gewisse Privilegien, die sie über vergleichbare Untertanen emporhoben. Nach der Revolution von 1848 änderte sich das. Trotz der Niederschlagung des revolutionären Aufstandes im Frühjahr 1849 wurde Ungarn nach der Niederlage der Habsburger im Krieg gegen Preußen 1866/67 als eigenständiger Staat im Verband des Habsburgerreiches anerkannt. Der Kaiser von Österreich wurde König von Ungarn. Die „k.und k.-Monarchie“ war entstanden, und die ungarischen Regierungen, obgleich gegenüber Wien im Großen und Ganzen loyal, versuchten beharrlich, ihre Eigenständigkeit zu vergrößern und die Abhängigkeit von Österreich zu vermindern. Ein verstärkter ungarischer Nationalismus kam in den folgenden Jahrzehnten auf. Er bestimmte fortan die Politik des Landes, das aus einem Nationalitätenstaat in einen Nationalstaat umgemodelt werden sollte. Im Zuge dieser Bestrebungen wurde die „Magyarisierung“ der nichtungarischen Minderheiten energisch betrieben. In den vorwiegend von Deutschen bewohnten Dörfern westlich von Budapest zeigte diese Politik zunächst nicht die erhoffte Wirkung. Wohl wurde seit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Unterrichtssprache in den Schulen Ungarisch, aber außerhalb der Schule sprach man den deutschen Heimatdialekt. Nur wenn man „in die Stadt“, d. h. nach Budapest, fuhr, wurde Ungarisch gesprochen, wenn man das konnte. Obgleich das nicht unbedingt notwendig war, denn die deutsche und jüdische Oberschicht dort sprach Deutsch. Viele der älteren Leute beherrschten die schwierige ungarische Sprache auch nicht annähernd.

In einem gewissen Sinne bildeten sich die Perbáler und die Bewohner der anderen deutschen Dörfer in Ungarn etwas darauf ein, Deutsche in Ungarn zu sein. Aber blickten zur nationalistischen slowakischen Minderheit herab, die „Schluwakke“, wie es in unserem Dialekt heißt. Gegen „Zigeuner und Juden“ gab es eine traditionelle Abneigung. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Deutschen in Ungarn nicht von den Ungarn selbst. Juden wohnten in den ungarndeutschen Dörfern nur selten. In Perbál war es nur eine Familie. Ich erinnere mich an den pejorativ gebrauchten Ausdruck „Gschiejud“ (Geschirrjude = Lumpensammler). Unser Vater sprach davon, dass sich verschuldete Bauern „beim Juden“ Geld geborgt hatten, und dass er ihnen ihr Land wegnahm, wenn sie den Kredit nicht zurückzahlen konnten.

Volksbund der Deutschen in Ungarn

Für die Interessen der deutschen Minderheit auf kultureller und politischer Ebene setzte sich der nach dem Ersten Weltkrieg gegründete „Ungarnländische Volksbildungsverein“ (UDV) ein. Von ihm spaltete sich in den Dreißigerjahren eine Minderheit ab und gründete den „Volksbund der Deutschen in Ungarn“ (VDU). Während der erste eine integrative Politik betrieb und für die Ungarndeutschen einen respektierten Status als Deutsche in Ungarn anstrebte, eine Art kultureller Autonomie, setze der VDU sich bewusst für eine desintegrative Entwicklung ein. Er wurde als ungarische Variante des „Volksbundes der Deutschen im Ausland“ von den Nazis gefördert.

Dem ungarischen Reichsverweser Horthy kam diese Entwicklung sehr recht. Er akzeptierte die Gründung des VDU (1938) und förderte sogar die Aktivitäten des Volksbundes in der Erwartung, die Ungarndeutschen loszuwerden. Mit Hitlers Hilfe wollte er sie „heim ins Reich“ befördern. Als Dank für diese Politik versprach er sich die Unterstützung Hitlers und Mussolinis für seine Revisionsforderungen an Rumänien, Jugoslawien und die Slowakei.15 Der VDU betrieb vor diesem Hintergrund eine mehr oder weniger offene großdeutsche Propaganda.

Nicht viele Leute in Perbál traten dem Volksbund bei. Meine in Karelien erschossenen Onkel gehörten wahrscheinlich zu seiner Jugendorganisation „Deutsche Jugend“ (DJ). Unser Vater war sogar der Kassierer der Perbáler Ortsgruppe, wie ich erst spät erfuhr. Dass er kein Nazi war, weiß ich mit Bestimmtheit. Für seinen Vater, Lorenz Wiest, liegt mir ein Schreiben des „Hessischen Ministers für die politische Befreiung, Der öffentlich Kläger bei der Spruchkammer Frankenberg/Eder“ vor. Ihm wird darin am 11. Juni 1947 mitgeteilt, dass er aufgrund seines Meldebogens „von dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 nicht betroffen“ ist.

Unsere Großeltern gehörten dem Volksbund nicht an, weder die väterlicher- noch die mütterlicherseits. Unser Kopp-Großvater war aber fälschlich angeschuldigt worden. Seine angebliche „Mitgliedschaft im Volksbund“ sollte ihn sehr teuer zu stehen kommen. Beinahe hätte ihn diese bösartige Denunziation das Leben gekostet. Wie immer, wenn neue Herren ein Land beherrschen, blühte auch in Perbál die Denunziation. Wer es letztlich war, der meinen Großvater als „Volksbündler“ angeschwärzt hatte, ist heute unerheblich. Dass er kein „Nazi“ war, steht fest. Niemals habe ich von ihm in der Zeit, in der ich ihn mit wachem Bewusstsein erlebt habe, irgendwelche Äußerungen in dieser Hinsicht gehört. Ich rede in diesem Zusammenhang von meinem Großvater mütterlicherseits, der für uns Kinder der „eigentliche“ Großvater war. Seine jüngste Tochter, unsere Tante Resi, bestätigte mir mehrmals, dass er sich geweigert habe, dem „Volkbund“ beizutreten und dass er unsere Großmutter vor einem Beitritt gewarnt hatte. Die Tante bestätigte mir, dass auch unsere Oma nicht beigetreten ist, dass sie aber mit ihren halbwüchsigen Töchtern gelegentlich zu Liederabenden der „Deutsche Jugend“ gegangen ist. „Dej haom doech sou schei gsunge!“ („Die haben doch so schön gesungen!“). Unsere Oma war eine herzensgute Frau, die von den Zielen Nazis keine Ahnung hatte. Dass die „einen Krieg gemacht hatten“, in dem einer ihrer Söhne umgekommen ist, verurteilte und bedauerte sie mir gegenüber immer wieder.