Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen

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Im Internierungslager Vác

Unser Opa kam in ein Internierungslager nach Vác Nach diesem Ort ist die berühmte Váci utca benannt, die Fußgängerzone in Budapest. In diesem kleinen Städtchen am linken Ufer des Donauknies war ein Lager eingerichtet worden, in das echte und angebliche ungarische und ungarndeutsche Nazis und Volksbündler gebracht wurden. Das Leben dort war sehr hart, und die Internierten durften nicht auf Nachsicht hoffen. Viele von ihnen starben. Die Verbrechen der Nazis waren inzwischen weltweit bekannt. Auschwitz und Bergen-Belsen stehen dafür als Synonyme. Die neuen Herren im Lande16 waren darüber sehr gut informiert, hatte sich die letzte Kriegsregierung Ungarns doch aktiv an der Judenvernichtung beteiligt. Sie wussten über die Verbrecher und ihre Opfer genau Bescheid. Tatsächlich oder vermeintlich Verantwortliche in ihrer Gewalt waren ihrer Willkür und Rache ausgeliefert.

Im April 1991, also genau 45 Jahre nach unserer Ausweisung aus Perbál, stand ich also vor dem halben Hakenkreuz an der Wand des ehemaligen Kuhstalls meiner Wiest-Großeltern und sinnierte darüber nach, warum es nach so langer Zeit immer noch nicht entfernt worden war. Seltsamerweise trat niemand neben mich, als ich meine Kamera hob und in den ehemaligen Kuhstall hineinfotografierte. Wollte man mich allein lassen mit diesem Teil meiner Entdeckung, war es Diskretion oder einfach nur Gleichgültigkeit? Was bewog meinen Cousin, der doch immerhin das Kind eines der beiden jungen Burschen war, die zur Waffen-SS eingezogen wurden, diese Entdeckung nicht mit mir gemeinsam zu machen. Wusste er nichts von dieser Hakenkreuzruine? Wusste er nichts vom Schicksal seines Vaters? Ich kann es mir kaum vorstellen.

Und diese junge ungarische Mutter, die doch wusste, was sich da auf der Stallwand ihres erst kürzlich erworbenen Anwesens befand, warum erklärte die nichts? Warum sagte sie mir nicht, weshalb sie dieses Zeichen in den zwei oder drei Jahren, während deren sie und ihr Mann schon Besitzer dieses ehemaligen Hofs meiner Großeltern waren, nicht entfernt hatten? Und vorher hatten doch schon über vierzig Jahre andere Ungarn oder Slowaken in dem Haus gewohnt, ohne dieses Kainsmal zu tilgen. Hatten die denn keine Angst vor der allgegenwärtigen Macht der Kommunisten? Vielleicht war sie gar nicht so groß, wie wir im Westen immer geglaubt haben. In diesen Kuhstall jedenfalls haben sie nie hineingeschaut, sonst wäre das Zeichen sicher nicht mehr dort gewesen, wo ich es im Frühjahr l991 noch vorfand. Als ich meinen Cousin Ferenc fragte, wie das möglich sei, dass dieses halbe Hakenkreuz sogar den „Kommunismus“ überlebt habe, zuckte er nur mit den Schultern und sagte: „In Ungarn ist alles möglich.“

8 Das waren etwas mehr als 17 ha. Die reichsten Perbáler Bauern hatten etwa 30 ha.

9 1900 war der Wert eines Gulden zwei Kronen. Demnach hätte der Großvater meines Vaters ca. 60.00 Kronen in Anleihen angelegt. Das wären nach dem Umtauschkurs von 1912 (1 Mark = 1.176 Kronen) ca. 51.020,- Mark gewesen, eine stolze Summe für Perbáler Bauern! Die Mitgift unserer Wiest Großmutter hat demnach 13.605,- Mark betragen. Das war damals reichlich, verglichen mit ihrer Armut nach der Entwertung.

10 „Auf Druck des Dritten Reiches wurden den deutschen Volksgruppen in den einzelnen Ländern weit reichende Autonomierechte (sogar Privilegien) zuerkannt. (Sie) mussten aber von ihren Reihen für die ‚Waffen-SS‘ Soldaten rekrutieren lassen. (Zunächst freiwillig. Ab Februar 1942 aber wurden die ungarndeutschen Jungs – mit der Hilfe der ungarischen Gendarmerie (Rendörség) schon ohne ihre Befragung, in die Waffen-SS eingezogen.). Ein solches Abkommen wurde auch mit Horthy-Ungarn geschlossen.“ Aus: Fehérvári Josef (Fritz), Manuskript, Die Geschichte der deutschen Volksgruppen in Südosteuropa, S. 8f Zwei weitere Abkommen dieser Art folgten bis 1944. vgl. dazu: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, o.O. (Bonn) 1956, II. Kapitel, Die SS-Aktionen, S. 32E ff und die sehr aufschlussreichen Berichte von Betroffenen S. 1 ff

11 s. Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, a.a.O. S. 32 E und SS-Aktion – Evakuierung und Flucht vor der Roten Armee. a.a.O. S.1. Zu den Demütigungen, die zur ungarische Armee eingezogene ungarndeutsche Rekruten erwarteten, gehörten neben dem Spott, weil sie nur schlecht Ungarisch sprachen, kleinliche Schikanen ihrer ungarischen Vorgesetzten. Die Befehlssprache in der ungarischen Armee war seit dem Untergang der k.u.k.-Armee 1918 Ungarisch, bis dahin Deutsch. Vgl. zu diesem Komplex: Dokumentation der Vertreibung, Bd.II, a.a.O S. 21E ff und 32 E ff.

12 Kristián Ungváry Die Belagerung von Budapest 1944/45 und die Ungarndeutschen in www.ungardeutsche, Publikationen, S. 1f

13 Nach einer statistischen Übersicht vom 28.12.1943 wurden folgende Zahlen „für die Ungarndeutschen des damaligen vergrößerten Ungarns“ gezählt:

Waffen-SS 22.125 Deutsche Wehrmacht 1 729 Ungarische Wehrmacht 35.000 Wehrähnliche Verbände 459 Arbeitsdienst 32 Arbeitseinsatz im Reich 3 500. Insgesamt 62.845. S. Das Schicksal der deutschen in Ungarn, a.a.O S.33 E Anmerkung 2

14 Beide Briefe befinden sich im Nachlass unserer Oma.

15 Durch den ersten Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938, gefällt vom deutschen Außenminister Ribbentrop und dem Italiens, Ciano, erhielt Horthy-Ungarn die Südslowakei und die Karpato-Ukraine zugesprochen. Im zweiten Wiener Schiedsspruch entschied Hitler, dass Nordsiebenbürgen und das ungarisch besiedelte Séklerland an Ungarn zurückzugeben sei. Der Vertag wurde am 30. August 1940 von den Außenministern Deutschlands, Italiens, Rumäniens und Ungarns unterzeichnet. S. Dokumente der Deutschen Politik, Bd. 8/1 Berlin 1943, S.383-389

16 Sowjetische Truppen als Besatzungsmacht und eine ungarische Koalitionsregierung aus der Nationalen Bauernpartei, Kommunisten und kleineren bürgerlichen Parteien. Die Sozialdemokraten gehörten nicht dazu.

Die Kopp-Großeltern

Opa Georg, genannt Hans

Unsere Tante Maria erzählte mir: Seine Schwiegereltern haben ihn nicht gewollt. Die Payers (Oma war eine geborene Payer) haben sich für etwas Besonderes gehalten. Opa habe als Trinker gegolten. „Er ist aber ein fleißiger Mann gewesen. Oft ist erst nachts nach Hause gekommen von der Arbeit. Einmal ist das Strohdach abgebrannt. Er hat ein Ziegeldach machen lassen. Außerdem hat er noch 16 Joch Grund gekauft (1 ungarisches Joch = 43,16 m2), also 690,56 m². Das ist etwas mehr als 1/3 von einem Hektar). Im Sommer haben wir in der Sommerküche gelebt. Sie war im Presshaus auf dem Hof. Dort waren ein Ofen (Kochherd), ein Backofen und der Brunnen. Jeden Montag hat die Oma dort 15 Laibe Brot gebacken. Vom Presshaus ging man ein paar Stiegen hinab in den Weinkeller. In die ‚fädri Stum‘ (vordere Stube des Wohnhauses) sind wir (die Kinder) nur am Sonntag vor dem Kirchgang gekommen, um einmal in den Spiegel zu gucken.“

Soweit unsere Tante Maria. Meine Erinnerungen an unseren Kopp-Opa („Eil“ im Dialekt) beginnen erst Jahre später, nach unserer Vertreibung. Seine Zeit davor kenne ich nur aus Erzählungen, v. a. seinen eigenen. Er war ein großer Schwadroneur. Zu seinem Vornamen Georg (Taufschein) ist er wie folgt gekommen: Als sein Vater 1888 zum Pfarrer kam, um die Geburt eines Sohnes mitzuteilen und ihn zur Taufe anzumelden, habe der Pfarrer ihn gefragt: „Wie heißt er?“ Die Anrede in der dritten Person war damals üblich. Sein Vater antwortete: „Georg“, so hieß er nämlich selbst. Und sein Gegenüber schrieb ins Register als Namen des Neugeborenen „Kopp Georg“. Auf diesen Namen wurde er auch getauft. Eigentlich sollte er, der Sohn, aber Hans heißen, und bei diesem Namen wurde er auch sein Leben lang gerufen. Nur auf den Ämtern und in amtlichen Urkunden verwandelte er sich stets zurück in den „Georg“.

Über seine Kindheit Jugend weiß ich nicht viel mehr ,als mir seine Kinder, unsere Eltern, Tanten und Onkel, erzählt haben: Seine Eltern waren arme Kleinbauern, und so verbrachte er seine Kindheit wie die meisten Kinder in diesen Verhältnissen. Sie wuchsen neben den Erwachsenen auf, ohne dass ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Die Kindersterblichkeit war hoch. Regelmäßig brachten die Mütter neue Kinder zur Welt, von denen im Allgemeinen nicht mehr als 50 % überlebten.

Ohrfeigen für den Lehrer

Er besuchte die vierklassige Dorfschule, hauptsächlich im Winter. Im Sommer mussten die Kinder der Kleinbauern auf den Feldern und auf dem Hof helfen, v. a. während der Ernte. Dazu hat er Folgendes erzählt: Als ihn sein Vater wieder einmal nicht zur Schule gehen ließ, weil er den Eltern helfen musste, habe ihn der Lehrer deswegen verdroschen. Am anderen Tag sei sein Vater in die Klasse gekommen, um seinen Sohn erneut zu holen. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel (Schulpflicht etc.), in dessen Verlauf sein Vater dem Lehrer ein paar „Watschen“ gegeben und seinen Sohn wieder mitgenommen habe. Danach habe es über diesen Punkt keine Differenzen mehr gegeben. Trotz dieser auf den deutschen Dörfern bei Budapest üblichen, nur lückenhaften Schulbildung konnte der Opa lesen, schreiben und rechnen. Er war ein guter Rechner. Das kam ihm bei seinem späteren Kleinhandel sehr zugute.

Bevor er zur Armee eingezogen wurde, arbeitete er als Knecht bei reicheren Bauern oder als Fuhrknecht /Tagelöhner bei einem Händler und half zu Hause den Eltern in der Landwirtschaft. Mit 18 Jahren wurde er zum ungarischen Militär eingezogen, zur Infanterie. Über seinen Militärdienst hat der Opa nicht viel gesprochen. Über seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg auch nur wenig. Er war wohl bei der Infanterie eingesetzt. Nach dem Militärdienst blieb er noch drei Jahre ledig. 1912, am 6. Februar, heiratete er meine Großmutter Maria Payer, genannt Mierl. Für uns Kinder war sie die „Kopp-Ahl“. Sie bekam insgesamt zwölf Kinder, sechs davon erreichten das Erwachsenenalter. Die übrigen starben schon als Kinder. Der älteste Sohn, unser „Hans-Vetter“ kam am 20. Juni 1913 zur Welt, unsere Mutter, Kopp Rosina, genannt „Rosel“, am 30. Mai 1918. Da war unser Opa noch im Krieg.

 

Im Ersten Weltkrieg

Im Herbst 1917 war er zuletzt „auf Urlaub“ gewesen. Er wurde am 15. Januar 1915 eingezogen und musste in Russland, in Rumänien (Kirlibaba) und in der Bukowina kämpfen (Csernovic). Für kurze Zeit geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, konnte aber entkommen, sodass er nach dem Krieg wieder nach Perbál zurückkam. Uns hat er erzählt, er sei auch einmal gemeinsam mit den Honvéd-Husaren eingesetzt gewesen. Das war eine berüchtigte Reitertruppe, auf deren Taten mein Großvater zwar einerseits stolz war. Andererseits hat er mit Grauen erlebt, wie die Husaren die russischen Infanteristen geköpft haben. Bei der Erstürmung eines Bahndamms seien sie durch die russischen Reihen hindurch geritten und hätten mit dem blanken Säbel rechts und links die Köpfe der russischen Infanteristen abgehackt. Es sei schrecklich gewesen. Nie wieder wollte er so etwas erleben.

Am Zweiten Weltkrieg musste er aktiv nicht mehr teilnehmen. 1939 war er bereits 51 Jahre alt. Vermutlich wurden er aber im Sommer 1939 zu einer Militärübung an der rumänischen Grenze eingezogen. Damals entstanden zwischen Ungarn und Rumänien großen Spannungen wegen der ungarischen Revisionsansprüche gegen das Nachbarland. Es kam deswegen nicht zum Krieg, weil auf Druck Hitlers und Mussolinis bei den beiden „Wiener Schiedssprüchen“ die Gebietsforderungen Hothy-Ungarns an Rumänien und die Slowakei zum Teil erfüllt wurden.

Auf Wache für die Räterepublik

Er gehörte nach dem Ersten Weltkrieg der „Kleinbauernpartei“ an, ob als Mitglied oder Sympathisant, weiß ich nicht. Als im Frühjahr 1919 in Budapest ein Aufstand zunächst zu einer bürgerlichen Demokratie und anschließend zu einer Räterepublik führte, sympathisierten die Kleinbauern anfangs mit der „Revolution“, weil ihre Anführer die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Verteilung des Bodens an Bauern und Landarbeiter versprachen. Mein Großvater bewachte zusammen mit einem Kameraden eine Mühle in der Nähe von Perbál. Das Umland versorgte die Stadt mit Lebensmitteln. Bald schon rückten unter Horthys Führung von der rumänischen Grenze her Konterrevolutionäre gegen Budapest vor. Die Räterepublik war inzwischen schon von französischen Truppen niedergekämpft worden. Opas Kamerad verließ seinen Wachposten, er selbst aber blieb weiterhin vor der Mühle stehen. „Hans, geh nach Hause, die erschießen dich“, redete der Freund auf ihn ein. Aber „der Hans“ wollte nicht aufgeben. Zu seinem Glück kam bald danach seine Frau und holte ihn heim. Damit hatte ihm unsere Oma zum ersten Mal das Leben gerettet.

Kleinhändler

Neben seiner Landwirtschaft begann unser Großvater in den 1920er Jahren, mit landwirtschaftlichen Produkten zu handeln. Er fuhr von Perbál mit dem Pferdewagen nach Budapest auf den Markt. Auf dem Heuplatz (széna ter) verkaufte er Eier, Milch, Butter, Topfen (Quark) und je nach Jahreszeit auch Gemüse und Obst. Als meine Mutter, die Rosel, elf oder 12 Jahre alt war, musste sie sich um den Haushalt kümmern, und die Oma fuhr öfter mit ihrem Mann nach Budapest. Er blieb auf dem Heumarkt, und sie ging bei den reichen Leuten auf dem Rosenhügel (róza domp) an den Türen frische Milch, Butter und Eier verkaufen. Diese Frauen hießen in Budapest damals „Milli Mari“.

Über diese Fahrten, zu denen sie bereits um vier Uhr aufbrachen, um gut zwei Stunden später in Budapest zu sein, erzählte mein Großvater gern kleine Geschichten. Er habe auf dem Kutschbock oft geschlafen und das Pferd habe den Weg allein gefunden. Immer aber, wenn die höchste Anhöhe am Stadtrand von Budapest erreicht war, die Lindenhöhe (hárshegy), hielt das Pferd an und Opa erwachte, um ein Achtel Wein zu trinken. Dann erst ging es hinunter nach Budapest zum Heuplatz.

Dort trafen viele Fuhrwerke zusammen und die Kutscher tranken zusammen, neckten sich und forderten einander zu sportlichen Leistungen heraus. Eine dieser Übungen bestand darin, dass man einen Gulden aufs Pflaster legte, und ein Kutscher musste mit seinem Fuhrwerk einen Kreis so fahren, dass das äußere Hinterrad des Wagens den Gulden überfuhr. Wem das gelang, der konnte er den Gulden behalten. Natürlich gelang das auch dem Kopp Hans, der die Geschichte erzählte.

Opa schöpft Verdacht

Geschichten dieser Art konnte unser Großvater viele erzählen. So sei der Brunnen im Presshaus in einem Sommer immer wieder ausgetrocknet. Er musste daher ständig den Brunnenbauer, einen Nachbarn, rufen, damit er ihn repariere. Er schöpfte bald Verdacht. Der Brunnen versiegte immer am Sonntag, wenn alle in der Kirche waren. Vielleicht war es der Brunnenbauer selbst, der den Brunnen zum Versiegen brachte, um durch vermehrte Reparaturen mehr zu verdienen.

Unser Opa beobachtete an einen Sonntagmorgen, als die anderen zur Kirche gegangen waren, wie sich der Brunnenbauer (Pirtják hieß er) ins Presshaus schlich und in den Brunnen hinunterstieg. Er eilte zum Brunnen, hob einen dicken Stein über den Brunnenrand und rief den Nachbarn an. Er solle sofort zugeben. dass er den Brunnen ständig verschließe, um ihn reparieren zu können. Täte er das nicht, lasse er den schweren Stein auf ihn herunterfallen. Nach kurzem Leugnen gab der Übeltäter auf und bekannte seine Schuld. Dem Opa war das aber nicht genug. Er verlangte dem Brunnenbauer ab, den Brunnen künftig so oft kostenlos zu reparieren, wie er ihn zuvor beschädigt hatte. So geschah es dann auch.

Eine Geschichte, bei der aber nicht er der „Held“ war, sondern der Feldhüter, ist folgende: Unsere Oma war mit ihren Kindern auf dem Feld, um Maiskolben („Guckruzkuijm“) auszubrechen. Sie hatten sich zur Jause unter einem Baum am Feldrand niedergesetzt, und auch der Feldhüter war mit seiner Flinte dazugekommen. Im Maisfeld hörten sie etwas später ein Knacken und Rumoren und bald darauf kam ein großer Bär heraus. Erschreckt sprangen alle auf und liefen ein Stück weg, auch der Feldhüter. Er hatte vor Schreck sogar seine an den Baum gelehnte Flinte zurückgelassen. Der Bär interessierte sich nicht für die Menschen, wohl aber für ihr Essen. Und so mussten sie aus einiger Entfernung zusehen, wie der Bär ihre Jausen verzehrte und sich dann, als er alles aufgefressen hatte, in aller Ruhe wieder davonmachte. Wenn mein Großvater diese Geschichte erzählte, schmunzelte er, und seine Augen leuchteten verschmitzt. Das bedeutete: Wenn er bei dieser Jause dabei gewesen wäre, hätte er den Bären verjagt, aber der versoffene Feldhüter, dieser Feigling … Der Feldhüter, Franz Wiest, war der Bruder unseres anderen Großvaters.

Gróf Sándor

Nicht alle Heldentaten beanspruchte unser Opa für sich. Es gab einen, der berühmt und berüchtigt für die seinen war: „Gróf Sándor“ (Graf Schandor). Ihn bewunderte unser Großvater wohl, und von dessen Streichen erzählte er gern. Ich erinnere mich noch daran, dass Grof Sándor, der gerne Wetten abschloss und gewann, es geschafft haben soll, mit Pferdegespannen schneller von Budapest nach Wien zu fahren als die Eisenbahn. Auch dass er vier Hirsche vor seine Kutsche spannen ließ und mit ihnen auf dem Mauergang der Fischerbastei hoch über Budapest spazieren fuhr. Diesen Taten gingen selbstverständlich Wetten voraus.

Folgende Wette des Grafen erzählte unser Großvater mit sichtlichem Vergnügen. Als er mit seinen gräflichen Kumpanen wieder einmal in gemütlicher Runde beim Trinken beisammensaß, bereitete er eine Wette vor, die seine Kumpane nicht gewinnen konnten. Er nahm seinen Diener mit nach draußen, zog seine gräfliche Hose herunter und befahl ihm, zwischen diese Oberhose und die gräflichen Unterhosen zu scheißen. Dann zog er die Hose wieder hoch und ging zu seinen Kumpanen zurück. Bald merkten die, dass der Graf roch. „Sándor, du hast in die Hose geschissen.“ „Ich nicht.“ „Doch du, du stinkst ja wie eine Mistgrube.“ „Wetten, dass ich es nicht war.“ „Wetten dass doch.“ „Worum geht die Wette?“ „Um ein feuriges Reitpferd.“ „Die Wette gilt!“ Dann ließ der Graf die Oberhose wieder herunter und die Saufkumpane konnten sich davon überzeugen, dass der stinkende Batzen zwischen seinen beiden Hosen lag und nicht in seiner Unterhose. Und wieder hatte er eine Wette gewonnen. Das Pferd wurde ihm übergeben und sein legendärer Ruhm hatte wieder zugenommen.

Er war nicht nur der berüchtigtste Reiter der k.u.k.-Monarchie. Er hatte auch eine selten schöne Tochter, Paula, die nicht weniger mutig war als ihr Vater. Sie heiratete den Sohn des Fürsten Metternich und schrieb später ihre Memoiren. Auf die Taten ihres Vaters ist sie dabei allerdings nicht eingegangen. Sie erzählt nur, dass der französischen Kaiser Napoleon III., als sie ihm vorgestellt wurde, anerkennend erwähnte: „Oh ja, von dem Grafen Sándor haben wir schon viel gehört.“ Ob all die Anekdoten, die mein Großvater über den Grafen zu erzählen wusste, einen wahren Kern hatten oder sie der Fantasie des Volkes für einen bewunderten Helden entsprangen, vermag ich nicht zu beurteilen. Unterhaltsam waren sie allemal. Er hat sie uns nicht als Kinder erzählt, sondern später, als mein Bruder und ich bereits junge Burschen waren.

Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, auf dem mein Großvater mit großer Geste erzählt und ihm neben mir mehrere Männer gespannt zuhören. Er belehrte die Jüngeren gern und prophezeite dabei öfter. So hat er nach Auskunft unserer Tante Resi auch die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn schon während des Krieges vorausgesagt. Er besaß das Buch eines anderen Bauern-Propheten, „Sibelle oder Sivelle Weiß“ und las nach dem Bericht der Tante oft darin. Nach Aussagen des 1946 in Ungarn verbliebenen Scher János hatten fast alle ungardeutschen Familien dieses Buch. Es ist mir bisher nicht gelungen, ein Exemplar zu bekommen.

Mit seinem Handel verdiente mein Großvater so viel, dass er nicht nur seine Familie unterhalten, sondern auch Ackergrundstücke dazukaufen konnte. Viel war das allerdings nicht, was trotz fleißiger Arbeit von der ganzen Familie erzeugt wurde. Reich jedenfalls wurden sie davon nicht.


Der Prophet vor der „Ungarer-Siedlung“ in Berghofen

Wein

Unsere Kopp-Großeltern hatten einen Weingarten und einen Weinkeller. Dieser ging vom Presshaus auf dem Hof ab, das, wie erwähnt, als Sommerküche (Summekuchel) benutzt wurde, und in dem auch der Brunnen war. An die Weinlese meiner Großeltern habe ich eigene kindliche Erinnerungen. Das meiste davon kenne ich aber aus Erzählungen der Erwachsenen.

Unser Weingarten lag nicht beim Haus. Ich nenne ihn „unser“ Weingarten. Die Familie war das Zentrum im dörflichen Leben. Alles, was der Familie gehörte, war „unser“. Unser Weingarten lag auf einem leichten Hang. Ich weiß nicht mehr, wie weit er vom Haus der Großeltern entfernt war, es war nicht allzu weit. Die Rebstöcke verliefen längs zum Hang, der nur flach anstieg. Die Reihen standen im Abstand von etwa eineinhalb Metern. Die Stöcke waren mannshoch. Zwei bis drei Triebe blieben beim Schnitt stehen und rankten sich an Drähten entlang, die in diese Höhe gespannt waren. Im Sommer entstanden so grüne Wände, nur im Winter konnte man quer hindurchsehen. Im Sommer nur längs. Unten war kein Weinlaub, es wurde mehrmals beseitigt. Übrig blieb nur das knorrige braune Holz mit der längs laufenden faserigen Rinde. Sie war dünn, und die äußeren Schichten ließen sich in Streifen leicht abziehen.

Zwischen den Reihen der Rebstöcke wuchsen die Obstbäume: Pfirsiche, Aprikosen, (Marillen) Kirschen, Birnen, Äpfel, Pflaumen. Im Frühsommer reiften die Kirschen, im Hochsommer die Marillen und Pflaumen (es waren dicke gelbe, vielleicht Reineclauden), dann die Pfirsiche und Birnen und danach das Herbstobst, Äpfel, Zwetschgen. Es gab aber auch frühe Äpfel, die schon im August oder Anfang September reif waren. Sie waren besonders saftig und hatten einen intensiven Geruch und Geschmack. Feigen wuchsen bei unseren Großeltern nicht. Es gab wohl in anderen Weingärten vereinzelt Bäume, frostfeste Sorten. Maulbeerbäume wuchsen überall an den Straßenrändern ich erinnere mich nur an weiße. Die Bauern sahen sie nicht als ein Zucht- und Speiseobst an. Manche brannten Schnaps daraus (Pálinka). Allenfalls die Häuslerbauern machten Marmelade aus den Früchten, „Leckwar“. Das war bei uns die Bezeichnung für jegliche Marmelade, ein ungarisches Wort (lekvár). Wir Kinder aßen die Maulbeeren gern. Ich erinnere mich ganz gut an den leicht säuerlichen Geschmack.

 

Neben verschiedenen Weißweinrebsorten wie Muskateller, Riesling und Furmint gab es auch rote Trauben von eigentümlichem, intensiven Geschmack, Othello und „Noache“ (Noah). Später erfuhr ich, dass es sich um amerikanische Wildreben handelte, die nach der Reblauskatastrophe nach Europa kamen. Sie waren resistent gegen die Reblaus. Fortan wurden sie als Pfropfunterlage für die Edeltrauben benutzt. Viele kleinere Weinbauern kultivierten sie auch unveredelt. Die Zubereitung von Wein aus solchen Trauben ist heute – mit geringen Ausnahmen – verboten, weil bei ihrer Gärung Methylalkohol entsteht, dessen Genuss zur Verblödung führen kann.

Die ganze Familie half zusammen, bis auf die jungen Männer, die im Krieg waren. (Später werde ich wissen, dass drei von ihnen zu dieser Zeit schon tot sind, „gefallen“, wie die Volksbetrüger den Völkern immer noch einreden wollen.) Dann waren weitere Verwandte dabei, die „Freindschoft“, die Freundschaft, wie wir sagen, und der eine oder die andere aus der Nachbarschaft half auch mit. Auch größere Kinder halfen schon kräftig mit. Die Trauben werden in Eimern und anderen Gefäßen gesammelt und in Kiepen aus Weidengeflecht geschüttet. Die Burschen tragen sie auf dem Rücken und, wenn sie voll sind, werden sie zum Wagen gebracht. Darauf steht ein großer Bottich, „a Schaffl“. Einer von den kräftigeren jungen Burschen nimmt die Kiepen auf dem Wagen an und schüttet die Trauben ins Schaff. Er ist barfuß, und von Zeit zu Zeit, wenn das Schaff überlaufen will, steigt er hinein und tritt die Trauben mit den Füßen zusammen. Es schlürft, matscht und quatscht dabei. Wenn das Schaff voll ist, wird es auf den Hof gefahren und die Trauben werden weiter getreten oder gestampft und anschließend gepresst. Der Most wird in die Fässer gefüllt und beginnt dort nach kurzer Zeit zu gären. Die Weinernte dauert lange. Jetzt trinken und singen die Erwachsenen bis spät in die Nacht.

„Wie fehlst Du mir, pannonischer Sommer, wie fehlst du mir, staubige Hitze, wie fehlt ihr mir, Melonen, frisch vom Feld, wie fehlt ihr mir, Düfte der Kindheit. Es ist der Verlust dieses Sommers, der so schmerzt, des Staubs zwischen den Zehen der barfußen Füße, der zitternden Sonne am blassblauen Himmel, der Gerüche der Felder, der Wärme von frischem Maisstroh, des Dufts der baumgereiften Früchte.“ – Vielleicht war es aber auch der Verlust der Kindheit in Ungarn, die durch unsere Vertreibung so abrupt endete, der so schmerzte.

Eine Ahnung von dem ungarischen Sommer hatte ich gelegentlich in Nordhessen, wenn die Julihitze glühte und die Kornfelder trocken knisterten. Fern nur war die Ahnung, aber doch viel näher als oben im Norden, wo es selten einen richtigen Sommer gab. Einmal nur, in einem wirklich heißen Sommer, war ich auch im Norden eingetaucht in einen Ozean von Duft. An einem heißen Sommertag bei einer Radtour durch einen Kiefernwald in der Südheide bin ich schier ersoffen in dem warmen, würzigen Pinienaroma. Aber das waren seltene Ausnahmen, Ahnungen nur von dem, wie eine Landschaft, ihre Pflanzen und Früchte, ihre Blüten und Säfte riechen können.

Das Haus der Kindheit zurückkaufen?

Was lag näher, als in das Land zurückzukehren, das wir verlassen mussten? Ich habe das Haus der Kopp-Großeltern in Perbál mehrfach fotografiert. Nach unserer Vertreibung bewohnte es eine slowakische Familie. Seit 2011 ist es abgerissen. Von ca. 1990 an haben mein Cousin Johann Kopp und ich den Versuch gemacht, dieses Haus zurückzukaufen. Der damalige Bewohner (vormals Elektriker, dann Schrottverwerter und schließlich nur noch Trunkenbold) lebte wie auf einem Schrottplatz, zuletzt gar nicht mehr in dem Haus, sondern nur noch in der Sommerküche. Die war klein, da konnte er sich an den Wänden abstützen, und sie war auch leichter heizen. Die Leute brachten ihm defekte Elektrogeräte, die er reparieren sollte. Je länger er trank, desto weniger reparierte er. Schließlich lag alles nur noch auf dem Hof herum. Er versuchte immer, uns zu verjagen, wenn wir uns das Haus von der Straße aus ansahen. Ein räudiger Köter kläffte uns pausenlos an. Ferenc rief ein paar Mal den Namen des Besitzers. Nach einer geraumen Zeit ging die Tür des Nebengebäudes (Sommerküche) auf, und ein unrasierter, struppiger Mann kam heraus. Verschlafen fragte er auf Ungarisch: „Was wollt ihr?“ Ferenc fragte ihn höflich, ob wir uns das Haus einmal ansehen könnten. „Es war das Haus unserer Großeltern, und wir würden es eventuell kaufen wollen.“ Feindselig knurrte er uns an: „So viel Geld habt ihr nicht, dass ihr dieses Haus kaufen könnt.“ Dann verschwand er wieder in der Sommerküche. Der Hund hatte sich inzwischen beruhigt.


Foto vom 9. April 1992

Hinter uns hörten wir plötzlich ein Geschrei. Wir drehten uns um und sahen ein altes Weiblein am Zaun des gegenüberliegenden Hauses. Sie beschimpfte uns lautstark und drohte mit ihrem Krückstock. „Was will sie?“, fragten wir Ferenc. „Sie ist die Mutter von dem Burschen und hat Angst, dass wir ihnen das Haus wegnehmen wollen. Lass uns gehen. Heute hat das keinen Sinn. Wir können es nach seinem Tod bei der Schwester versuchen.“ „Wird er bald sterben?“ „Es kann nicht mehr lange dauern, er säuft sich zu Tode.“

Wenn man ins Haus von der Längsseite hereinkam, stand man in einer Art Kombination aus Flur und Küche (Kuchl). Links war die vordere Stube (fäederi Stumm). Sie hatte ein Fenster und war die „gute Stube“, die nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt wurde. Rechts war die hintere Stube, (die hinderi Stumm), das Schlafzimmer. Es hatte ein Fenster zum Hof. In allen Räumen war ein gestampfter Lehmfußboden. Über den Betten der Schlafstube hingen Heiligenbilder mit vergoldeten Rahmen (die „heilige Familie“, „Jesus mit dem blutenden Herzen“, „Maria mit einem flammenden Herz“). Als ich mit der Slowakin die Räume besichtigte, sagte ich: „Ach da hängen ja noch die Bilder meiner Großeltern.“ „Oder meiner“, antwortete sie. Als ich auf den alten Weinstock vor dem Haus hinwies, den meines Großvaters, antwortete sie ebenfalls: „Oder meines Großvaters.“

Wie oben erwähnt, kaufte unser Großvater von seinen Ersparnissen zusätzliche Grundstücke. In die Modernisierung der Produktion investierte er, soweit ich weiß, nicht. Er kaufte lieber weitere Grundstücke. Ein Grundstückszukauf von einem Perbáler Slowaken während des Zweiten Weltkrieges wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Unsere Tante Resi hat es uns wie folgt erzählt:

Der Enkelsohn eines Slowaken, ein junger Mann, versuchte, unseren Großvater vom Kauf abzuhalten, weil sein Großvater das Familiengut verkaufe, um den Erlös in Schnaps umzusetzen. Mein Großvater solle doch nicht dazu beitragen, dass seine Familie ins Elend komme. Da der Kauf aber schon vor dem Notar beurkundet werden sollte und mein Großvater einen anständigen Preis geboten hatte, sah er keinen Grund, den Acker nicht zu kaufen. Er hatte dabei nicht das Gefühl, etwas Schlechtes zu tun. Diesen Kauf werde er noch bereuen, drohte ihm der junge Mann.

Folgte einer Drohung die Abrechnung?

Als der Krieg in Ungarn sich schon seinem Ende näherte und die deutsche Wehrmacht und die SS zusammen mit der Regierung ungarischer Nazis (Pfeilkreuzler) von den Russen aus Ungarn vertrieben wurden, bereitete sich für die deutschen Dörfern in Ungarn schon die kommende Katastrophe vor. Die Abrechnung mit „den deutschen Nazis“ – sprich mit der deutschen Minderheit in Ungarn, deren Enteignung und Vertreibung bereits 1944 von dem kommunistischen Politiker Imre Nagy gefordert worden war – konnte beginnen. So geschah es auch in Perbál. Schon sehr bald nach dem Einmarsch der Russen wurden die künftigen Opfer ausgesucht.