Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1)

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»Vor diesem Mann graut es mir«, gestand ich schließlich und erzählte ihr von meinem Gespräch mit dem Earl of Holeweavers und seiner kalten, überheblichen Art. Ich verschwieg auch nicht, wie seine schwarzen unheimlichen Augen mich gemustert hatten, und dass er auf meine goldenen Augen überhaupt nicht reagiert hatte. Das fiel mir jetzt erst überhaupt auf.

Evie hörte mir wie bei all meinen Problemen ruhig zu und eine nachdenkliche Falte erschien auf ihrer Stirn.

»… er beobachtet mich die ganze Zeit. Auch als wir am Buffet standen«, jammerte ich.

Die Falte verschwand und ein kleines Lächeln zuckte über Evies Gesicht. »Womöglich ist er an dir interessiert. Ich habe nämlich gehört, er sei noch unverheiratet.«

»Evie!«, zischte ich sie an. »Das ist nicht witzig! Ich habe Angst vor diesem Mann.«

»Du und Angst?«, kicherte sie. »Das ist ja wie Feuer und Wasser.«

Verärgert stand ich auf. »Könntest du bitte so höflich sein und dich ein bisschen zusammennehmen, um mir hilfreiche Antworten zu geben?«

»Meine Antwort ist hilfreich«, Evie zog einen Schmollmund, »denn so abwegig mit dem Interesse ist das gar nicht. Als wir heute Nachmittag in der Eingangshalle auf dich und die Gäste gewartet haben, hat Vater mir und Florence mitgeteilt, dass er uns, dich eingeschlossen, gern vermählen würde. Er will uns in sicheren Händen wissen, so wie unsere anderen Schwestern und unseren Bruder, falls er vorzeitig sterben sollte. Der Earl steht im Rang zwar unter uns, doch er ist bestimmt ein wohlhabender und angesehener Mann, wenn Vater ihn eingeladen hat. Vielleicht denkt Papa, dass er eine von uns heiraten könnte?«

Ich setzte mich wieder und ließ mir Evies Neuigkeit durch den Kopf gehen.

»Und selbst wenn, ich finde ihn immer noch unheimlich. Diese grässlichen schwarzen Augen.« Ich schauderte.

Evie zuckte die Achseln. »Mir ist gar nichts bei ihm aufgefallen. Vielleicht haben dich deine Augen ja getrogen?« Plötzlich kicherte sie. »Ich finde ihn übrigens gar nicht so übel und wäre dir sehr gern bei der Suche nach einem Brautgewand behilflich. Welches Stoffmuster wünschst du dir denn?« Sie prustete los.

»Herrgott, Evie!«, fluchte ich und fixierte sie zornig. Heute war wirklich ein schlimmer Tag.

Sie kringelte sich jedoch vor Lachen und nahm die ganze Sache nun nicht mehr ernst.

Ich wurde immer wütender. Nicht nur auf Evie, sondern auch auf den Earl und dieses unerträgliche Fest.

Ein Schmerz durchzuckte meine Augen, so wie vorhin am Buffet, nur viel stärker. Ich schlug mir die Hände vors Gesicht. »Autsch!«

Evie verstummte sofort. »Lucy?«, fragte sie besorgt und legte ihre Hände auf meine. »Luce, was ist los?«

Ich stöhnte gequält auf. »Meine … meine Augen, sie brennen so fürchterlich.«

Evie sog scharf die Luft ein. »Hast du dir ins Auge gefasst? Oder Staub hineinbekommen?«

»Nein.« Ich krümmte mich zusammen, die Hände immer noch auf meinen Augen. »Es … es kommt irgendwie von innen.«

Evie zog mich hoch. »Ganz langsam, Lucy, alles wird gut werden«, murmelte sie beruhigend, doch ihre Stimme zitterte. »Nimm deine Hände bitte für einen Augenblick von den Augen. Ich bin zwar nicht der Medicus, vielleicht erkenne ich aber trotzdem, woher die Schmerzen kommen, die dich plagen.«

Ich nahm langsam die Hände vom Gesicht und öffnete die schmerzenden Augen.

»Was …?«, schrie Evie auf.

»Evie!« Jetzt packte ich ihre Schultern. »Was hast du?« Doch im selben Moment erstarrte auch ich. Der Raum wurde von einem hellen goldenen Licht erleuchtet, das von meinen brennenden Augen zu kommen schien. Ich sah Evies aufgerissene Augen vor mir. Sie starrte mich an. Ich starrte zurück und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Ein goldener Strahl aus meinen Augen schoss in ihre, und ließ die Luft vor Hitze flimmern. Keine Sekunde später fiel Evie zu Boden.

Der dumpfe Aufprall ihres leblosen Körpers holte mich aus meiner Starre. Das Leuchten zog sich in meine Augen zurück, verschwand aber nicht ganz, sondern ließ sie weiterhin im Halbdunkeln glühen.

Was ging hier nur vor sich?

Ich ließ mich neben meine Schwester in den Staub fallen. »Evie …«, flüsterte ich entsetzt und rüttelte leicht an ihren Schultern. Meine brennenden Augen waren vergessen, jetzt zählte nur noch Evie. Was war mit ihr passiert? Was hatte dieser goldene Strahl mit ihr gemacht? Panisch drehte ich sie auf den Rücken und legte meine Hand dorthin, wo ich ihr Herz vermutete. Nichts. Ich hob mein Ohr über ihren Mund und ihre Nase und lauschte auf ihren Atem. Auch nichts.

»Nein! Nein!!!«, schluchzte ich. Tränen traten mir in die Augen, aber ich spürte, wie sie in der Hitze des goldenen Glimmens einfach verdampften.

Das konnte nicht sein! Nein, Evie war nicht tot. Sie konnte es einfach nicht sein!

Aus den Lexika der Augenschönen

(Band 1, Kapitel 5)

Die Augen eines Augenschönen sind von dem Moment der Cynierung an bereit, Magizismen auszuführen. Willentlich wurde dies vor der Ersten Fahrt (siehe Kapitel 6) bisher noch nicht geschafft, lediglich die Gefühlsausbrüche eines Augenschön in den Äußeren Schleifen können Magizismen verursachen, welche dann besonders stark ausfallen und häufig mit dem Tod einer oder mehrerer Personen enden.

Wenn die Augen zum ersten Mal einen Magizismus produzieren, ist das für das Augenschön sehr schmerzhaft. In den meisten Fällen kommt es sogar zu Blutungen der Augen, da diese die große Kraft nicht gewohnt sind. Bei den später folgenden Magizismen sind die Augen bereits auf die Ballung der Magie eingestellt und mit steigender Häufigkeit sinkt die Anzahl der Nebenwirkungen.

Aus dem Bericht:

Der erste Magizismus von E. Shepden

Kapitel 2

»Evie!« Ich wusste, dass es sinnlos war, doch ich redete weiter auf sie ein. »Evie, alles wird gut werden. Bewahre deine Kräfte noch kurz. Ich werde dich zum Medicus bringen.«

Ich mühte mich, sie hochzuheben, und legte ihren Arm um meine Schulter. Unter ihrem schweren Gewicht keuchte ich leise und wankte zwei Schritte vor zur Tür. Ich drückte die quietschende Klinke herunter und taumelte in den Gang. Bei der nächstbesten Tür, die aus den Dienstbotengängen hinausführte, hielt ich an und drückte sie ebenfalls auf. Ich zog Evie hinter mir hinaus auf den Flur und sah mich um.

Wir waren in einem der Spiegelgänge gelandet, die sich durch das gesamte Schloss zogen. Ich schaute den Gang entlang und suchte nach Hinweisen, wo wir uns genau befanden. Vor lauter Angst hatte ich nicht auf den Weg geachtet und war vollkommen orientierungslos. Mein Blick blieb an einem der großen Spiegel hängen.

Ich ließ Evie sanft zu Boden gleiten und trat auf die gegenüberliegende verspiegelte Wand zu. Ich sah zwei Mädchen. Eines auf dem Boden hinter mir und eines, das mich entsetzt anstarrte.

Aber das konnten nicht Evie und ich sein, denn die Kleider der Mädchen waren an einigen Stellen zerrissen und schmutzig. Über die Gesichter und die Arme waren Rußspuren verteilt, als hätten sie sich in einem Kamin gewälzt. Rote Striemen und Kratzer zogen sich über die Haut. Doch das Verrückteste war das goldene Leuchten.

Ich trat noch näher an den Spiegel und musterte mein Gegenüber, das wohl ich sein musste. Meine Augen bestanden aus einem goldsilbernen, tanzenden Feuer. Die Flammen leckten an meinen Pupillen und an den äußeren Rändern der Iris, als wollten sie alles verbrennen. Sie leuchteten heller als Kerzenschein und warfen glitzernde Punkte an die Spiegelränder.

Ich hatte meine Augen schon oft im Spiegel betrachtet, um besser verstehen zu können, was alle anderen daran so abstieß. Sie waren schon immer ungewöhnlich gewesen, mit ihrer intensiven goldenen Farbe und dem leichten Glitzern, besonders wenn ich sie bei Sonnenschein betrachtete. Doch so ein Leuchten wie jetzt hatte es noch nie gegeben.

»Interessant, nicht wahr?«, vernahm ich eine hohe kalte Stimme.

Ich fuhr herum und hätte am liebsten laut geschrien. Es war der Earl. Er stand etwa vier Meter von mir entfernt und lächelte mich kühl an.

»Was … was wollt Ihr?«, stotterte ich unsicher.

Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Sein Blick wanderte zu Evie.

Ich stellte mich schnell schützend vor sie und versuchte, ruhig zu bleiben.

»Diesmal musste also die eigene Schwester dran glauben.« Er schüttelte missbilligend den Kopf, ohne den Blick von ihr zu lösen. »Wer war es davor?«

»Was meint Ihr mit davor?«, fragte ich und wich ängstlich einen Schritt in den Gang zurück. Es behagte mir überhaupt nicht, Evie allein auf dem Boden zwischen mir und diesem Mann liegen zu sehen, der mir Angst machte.

»Ach Engelchen«, sagte er gespielt entrüstet, »ich weiß doch ohnehin alles. Mit siebzehn begeht kein Augenschön seinen ersten Mord.«

»M-mord?« Ich hatte nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was er gesagt hatte, doch dieses Wort schon. Stimmte das, was er sagte? Hatte ich meine eigene Schwester ermordet?

Der Mann schaute wieder zu mir auf. Kurze Verunsicherung huschte über sein Gesicht, dann war es erneut unbewegt und ausdruckslos.

»Ja, meine Süße, Mord. Du hast dein hübsches Schwesterchen getötet, so wie all die anderen, die du mit deinen Augen ausgebrannt hast.«

Mit meinen Augen ausgebrannt? Was schwafelte dieser seltsame Earl da nur?

»Ich habe noch nie jemanden ausgebrannt«, widersprach ich mutiger, als ich mich fühlte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, was ausbrennen bedeutete.

»Also Herzchen …«

Ich zuckte zusammen, als er mich mit dem Kosenamen anredete, den meine Mutter immer benutzte.

 

»… so belügen kannst du mich nicht«, fuhr er fort und machte einen Schritt in meine Richtung. »Eine hast du mindestens umgebracht.« Er wies mit dem Finger auf Evies leblosen Körper. »Du sagst, es war die Einzige?« Er schaute mir fragend ins Gesicht und ich nickte schnell.

»Hmm … dann bist du wohl eine Schwache? Oder eine besonders Mächtige? Die Augen leuchten immer noch«, murmelte er leise. »Sonne auf jeden Fall, aber was noch? Nun ja, wen interessiert das schon? Niemand wird es je herausfinden.«

Er hatte kurz geistesabwesend gewirkt, doch nun wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Für dich macht das keinen Unterschied.«

Als ob ich überhaupt irgendetwas von dem verstanden hätte, was er gesagt hatte!

»Tot ist tot«, fauchte er in veränderter Stimmlage.

Tot? Das verstand ich. Entsetzt stolperte ich zurück.

Auch der Earl trat einen halben Schritt zurück und kauerte sich auf den Boden. So wie eine Katze, die sich bereit zum Sprung machte. Er stieß ein unmenschliches Knurren hervor, das mir die Haare zu Bergen stehen ließ und meinen Fluchtinstinkt wachrief.

Der Earl fing an, sich zu verändern. Seine Finger wurden länger und länger, bogen sich wie die Klauen eines Adlers.

Sein Gesicht schien aufzureißen, Fellbüschel sprossen aus der Haut. Seine schwarzen Augen wurden größer und zogen sich in die Breite. Sein Bauch hingegen zog sich in die Länge. Als sein Hemd aufplatzte, konnte ich runde, matschbraune Schuppen erkennen. Die Beine wuchsen in seinen Körper hinein und die Arme immer weiter hinaus, bis er auf ihnen zu stehen schien.

Er riss sich den Mantel herunter und ich konnte erkennen, warum er ihn die ganze Zeit getragen hatte. Aus seinem Rücken entfalteten sich zwei lederne Flügel, die zwischen den Gangwänden kaum Platz hatten, sodass er sie nicht ganz ausbreiten konnte. Die Nase und der Mund wuchsen zusammen zu einem braunen, krummen Schnabel, den das Geschöpf jetzt öffnete, wobei es einen grellen Schrei hervorstieß. Es war ein Knurren, Zischen und Krähen zugleich.

Es war der unpassendste Moment, aber beim Anblick der Kreatur fiel mir die alte Henne unseres Gärtners ein, die voriges Jahr gestorben war. Nur hatte das Huhn keinen schuppigen Schlangenkörper mit einem Hundegesicht gehabt. Außerdem war diese Kreatur leider äußerst lebendig. Gerade legte sie den Kopf in den Nacken, stieß ein weiteres keckerndes Knurren aus und schlängelte sich auf mich zu. Es war närrisch, da ich diesem Monster nie entkommen würde, doch mein Fluchtinstinkt gewann die Oberhand. Ich drehte mich um und rannte panisch los. Ein hämisches Zischeln erklang hinter mir, als würde das Monster mich für meinen erbärmlichen Fluchtversuch auslachen. Ich rannte trotzdem weiter, so schnell ich konnte. Nur war ich nicht besonders erfolgreich damit, da ich ein schweres Kleid mit mehreren Unter- und Überröcken trug.

Ein schleifendes Geräusch hinter mir informierte mich, dass der Schlangenkörper mir folgte. Ich strengte mich in panischer Angst bis zum Äußersten an und meine Augen fingen erneut an zu brennen. Es war ein quälender Schmerz, der mir fast den Verstand raubte. Diesmal hielt ich meine Augen geöffnet, da es zuvor ohnehin nichts genutzt hatte, sie zu schließen, und rannte einfach weiter. Vor mir konnte ich eine Biegung im Gang sehen, und auf dem Spiegel, der dort die Wand schmückte, sah ich mich und das Monster. Mich mit strahlenden goldenen Augen, die Blitze in alle Richtungen abschossen.

Instinktiv duckte ich mich, als einer von dem Spiegel abprallte und zurückkam. Der Blitz zischte über mich hinweg und ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Ich wirbelte herum und sah eine große Staubwolke. Das Monster war verschwunden.

Verwirrt schaute ich mich um. Meine Augen schossen brennende Pfeile umher, deren flackerndes Licht den Gang golden erhellte. Was war nur los mit mir?

Da hörte ich plötzlich das leise Zischeln von Flammen direkt vor mir. Ich konnte den Blick nicht schnell genug abwenden und ein goldener Feuerblitz, der von einem Spiegel zurückgeworfen wurde, traf mich mitten in den Augen. Es war ein Schmerz, wie ich ihn noch nie verspürt hatte, als würde ich innerlich verbrennen, als wäre alle Peinigung in meinen Körper übertragen worden und wollte mich zerstören.

Mein gellender Schrei hallte durch die Gänge, bevor alles schwarz wurde, und ich fiel. Immer tiefer. Doch gleichzeitig schien ich in Millionen Stücke zerrissen zu werden und meine Schreie konnten die gefühlte Qual nicht mehr ausreichend ausdrücken.

Ich spürte und roch warmes Blut, das mir die Wangen hinunterlief. Es tropfte aus meinen Augen und verklebte meine Wangen, wie Tränen. Dann war alles schwarz.

Aus den Lexika der Augenschönen

(Band 1, Kapitel 6)

Das erste Zeichen dafür, dass jemand ein Augenschön ist, ist die Veränderung der Augenfarbe innerhalb der ersten sieben Lebensjahre. Meist ereignen sich in der Zeit danach viele Unfälle, die erst nach und nach seltener werden. Bei solchen Gefühlsausbrüchen kann es auch zum Tod einer oder mehrerer Personen kommen. Die Erste Fahrt in die Inneren Schleifen ereignet sich in der Regel zwischen dem sechzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr während gewünschten Zauber in Beibehaltung eines Gefühlsausbruchs. Beim gewöhnlichen Tode fährt das Augenschön sofort in die Inneren Schleifen. (So ist auch die Erste Fahrt mit nur dreizehn Jahren möglich.)

Aus dem Bericht:

Die Erste Fahrt von E. Shepden

Kapitel 3

»… ist einfach so hier reingeplatzt.«

»In die dritte Schleife?«

»Ja … ist ungewöhnlich … wohl eine mächtige Magie.«

»Welches Alter?«

»Ich schätze so sechzehn, siebzehn.«

»Ehrlich? Ganz schön spät für so eine Kraft.«

»Ja, … die anderen kommen meistens früher. Der normale Durchschnitt kommt eher in diesem Alter.«

»Könnte das womöglich eine Titanin sein? … mehrere … Elternteile?«

»Die letzten Titanen … schon eine Weile her …«

»Die Möglichkeit kann bei so einer Kraft durchaus bestehen.«

»Ja, aber … schaut! Sie bewegt sich.«

Verschwommene Gesprächsfetzen sickerten langsam in meinen Kopf, der pochte, als wollte er die Trommeln am Hofe des Königs übertönen. Ein leises Stöhnen drang über meine Lippen und ich drehte den Kopf herum, sodass meine Wange kühlen Boden berührte. Marmor vielleicht? Ich öffnete die Augen und sah in ein schummrig waberndes Licht, das aus der Luft selbst zu kommen schien. Leicht hob ich eine Hand an und fuhr durch den weißen Nebel, der den Boden bedeckte. Ja, er war aus Marmor. Hatte ich es doch gewusst! Wo war ich hier?

»Bin ich tot?«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme zu niemand Bestimmtem.

»Schön wär’s«, antwortete eine fremde männliche Stimme hinter mir.

»Pssst«, zischte ein weiterer Mann.

Ich richtete mich ein Stück auf und dachte angestrengt nach. Was war passiert? Evie!, durchschoss es mich. Das seltsame Leuchten, das von meinen Augen auszugehen schien, der Mann im Mantel. Die Blitze, die das Monster getötet hatten, das zuvor noch der Earl gewesen war. Der eine Blitz, der auf mich zugekommen war, die Schmerzen und das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden.

Unwillkürlich fuhr ich mit meiner Hand zu meinen Augen und betastete sie. Als ich den Finger vor mein Gesicht hielt, glänzte er blutrot. Geschockt und verwirrt sah ich mich aus meiner halb liegenden Position weiter um. Ich befand mich in einem riesigen Raum, dessen Decken ich ebenso wie die Wände nur schemenhaft erkennen konnte. Einige Schritte von mir entfernt waberte der Nebel um vier Gestalten, die im aufsteigenden Dunst ebenfalls nicht richtig zu sehen waren.

Noch immer wackelig setzte ich mich richtig auf und stellte fest, dass es sich bei den Gestalten um drei Männer, einer davon noch ziemlich jung – nur wenige Jahre älter als ich – und um eine Frau handelte. Entgeistert starrte ich sie an. Sie trug Hosen. Eine seltsam enge Hose, wie ich sie noch nie gesehen hatte – und ich hatte auch noch nie davon gehört, dass es Frauenhosen gab. Doch nicht nur die Frau trug andersartige Kleidung, alle vier sahen seltsam aus.

Einer der Männer trat auf mich zu.

»Ich bin Mr Honk und sehr erfreut, dich kennenzulernen«, sagte er mit angenehm warmer Stimme. »Kann ich dir aufhelfen?« Er streckte eine Hand aus und ich ergriff sie erleichtert. Mr Honk zog mich hoch und stützte mich, als ich etwas benommen schwankte. Der andere ältere Mann und die Frau betrachteten mich mit kaum verhohlenem Interesse. Der junge Mann starrte nur missmutig zu Boden.

Die Frau lächelte mich an. »Ich bin Tatjana«, stellte sie sich vor und deutete auf den Mann neben sich, »und das ist Elvon.«

Der Mann nickte mir ebenfalls lächelnd zu, bevor er zu dem jüngeren Mann hinübersah. Der hatte die Hände in seinen Taschen vergraben und starrte noch immer nach unten. Doch zumindest brummte er nun eine undeutliche Begrüßung.

»Und wer bist du?«, fragte mich der Mann, der sich mir als Mr Honk vorgestellt hatte.

»Lucy Elizabeth de Mintrus.« Obwohl mich niemand darum gebeten hatte, nannte ich meinen vollen Namen, der mir hier irgendwie angebracht schien. Verlegen strich ich über mein Kleid, das zerrissen und rußverschmiert an mir herabhing.

Die zwei älteren Männer und die Frau tauschten schnelle Blicke aus. Und da fiel es mir auf. Ihre Augen.

Mr Honk hatte kastanienbraune, die Frau, Tatjana, graue und die des Mannes namens Elvon waren violett. Doch das war nicht das Seltsamste an ihnen. Alle waren von einer genauso strahlenden farbigen Intensität wie meine. Sie schienen zu leuchten, ohne einen einzigen Lichtfunken abzusenden.

Der junge Mann blickte kurz auf, sah mich an und mein Mund blieb offen stehen. Er hatte Augen in einem so wunderschönen Türkis wie das Meer. Winzige Wellen schienen durch seine Iris zu wogen und sich an seiner Pupille zu brechen. Als sich Mr Honk an mich wandte, drehte ich mich hastig um und klappte schnell meinen Mund wieder zu.

»Also … Lucy, ist es in Ordnung, wenn wir dir ein paar Fragen stellen?«

Ich nickte vorsichtig. Diese Leute wirkten nicht bösartig. Womöglich war ich ja doch tot und die Fragen waren eine Art Aufnahmeprüfung für den Himmel.

Tatjana und Elvon stellen sich neben Mr Honk, während der Jüngere blieb, wo er war.

»Dann fangen wir mal an.« Mr Honk musterte mich mit seinen leuchtenden braunen Augen. »Wie alt bist du?«

»Siebzehn.« Wozu wollte er das wissen?

»Wo wohnst … hast du gewohnt?«

»In dem Anwesen meiner Familie, im Südosten Englands.«

»Mit wem hast du dort gewohnt?«

Ich runzelte die Stirn. Wieso redete er immer in der Vergangenheit? »Mit meinen Eltern, meinen beiden älteren Schwestern und unseren Bediensteten.«

Die drei tauschten abermals Blicke aus.

»In welchem Jahr wurdest du geboren?«, übernahm nun Elvon.

»I-ich glaube, 1586.«

»Und wo?«

Seine violette Iris irritierte mich. »Bei uns auf dem Anwesen.«

»Und seit wann hast du deine Augen?«

»Ähm … schon immer?« Jeder Mensch hatte Augen, von Geburt an. Hatte ich die Frage falsch verstanden?

»Ich glaube, ich habe meine Frage falsch formuliert«, bestätigte mir Elvon und faltete die Hände zusammen. »Ich wollte eigentlich wissen, seit wann deine Augen diese ungewöhnliche goldene Färbung haben.«

Empörung machte sich in mir breit. Er bezeichnete meine Augenfarbe als ungewöhnlich, dabei hatte er selbst noch ungewöhnlichere Augen. Dennoch antwortete ich wahrheitsgemäß. »Meines Wissens habe ich diese Augenfarbe schon immer. Jedenfalls so lange ich mich zurückerinnern kann.«

Elvon runzelte die Stirn. »Und deine Eltern? Haben sie diesbezüglich mal irgendwann etwas erwähnt?«

Ich war gerade dabei, den Kopf zu schütteln, als eine uralte Erinnerung in mir aufstieg, die ich zu verdrängen versucht hatte. Die Erinnerung handelte von einem Tag, an dem mein Unterricht bei Miss Lessing, meiner Lehrerin, früher geendet hatte, und ich, keine sieben Jahre alt, auf dem Weg zu meinem Zimmer am Studierzimmer meines Vaters vorbeigekommen war und ein leises Schluchzen gehört hatte.

Leise schlich ich näher an die Tür und lauschte der Stimme meines Vaters, die durch das Holz etwas dumpf klang. »Celine, Schatz, beruhige dich bitte.«

Ein Stuhl knarzte und eine weibliche Stimme jammerte leise eine Antwort, die ich jedoch nicht verstehen konnte.

»Was bedrückt dich, Liebling?«, wollte mein Vater mit seiner beruhigenden dunklen Stimme wissen.

 

»Ach, es ist nur …«, vernahm ich dann die Stimme meiner Mutter deutlich, die sich darum bemühte, sich zusammenzureißen. »Oh Ferris! Ich bin so schrecklich in Sorge. Wegen Lucy.«

Eigentlich wollte ich gar nicht hören, worüber sie sich sorgte. Doch ich war wie gelähmt und blieb stehen.

»Sie ist so furchtbar einsam, ohne jegliche Freunde. Alle Kinder finden sie seltsam, befremdlich. Und weshalb? Wegen dieser abscheulichen goldenen Augen.«

»Celine! Gerade du solltest nicht so von ihr sprechen.« Mein Vater klang verärgert. »Sie ist ein wundervolles, kluges Kind. So schön und makellos …«

»Das ist es doch gerade«, unterbrach ihn meine Mutter aufgebracht. »Merkst du das nicht, Ferris? Jeder, der sie sieht, hält sie für perfekt.«

»Ja …«

»Eben! Sie ist einfach zu perfekt. Hat keinen einzigen Fleck auf ihrer glatten, pfirsichfarbenen Haut, keinen einzigen krummen Nagel an ihren zarten Händen oder Zehen, und kein einziges stumpfes Haar in ihrer prachtvollen, wallenden Mähne. Sie ist zu hübsch. Zu makellos, zu perfekt. Sie ist nicht normal, und obwohl das eigentlich gute Eigenschaften sind, macht es den Leuten Angst, weil sie so anders ist.« Ein Seufzen drang durch die Tür. »Und als Krönung von alledem, die goldenen Augen. Warum konnten sie nicht die schöne grüne Färbung, die sie hatten, behalten? Warum haben sich ihre Augen wenige Tage nach ihrer Geburt in diese goldenen Monster verwandelt? Warum …?«

Ich stolperte von der Tür weg und Tränen liefen mir über die Wangen. Meine Mutter hatte es mit ihren Worten geschafft, dass ich mich selbst hasste.

Von dem Tag erschien mir meine Schönheit wie ein Fluch und noch etwas veränderte sich. Evie wurde noch wichtiger für mich. Sie wurde so etwas wie meine Mutter, während mich meine richtige Mutter nach ihren Worten für immer verloren hatte.

Ich blinzelte den Schleier der Erinnerung von meinen Augen und kehrte zurück in die Gegenwart.

»Ich habe einmal bei einem Gespräch meiner Eltern gehört, dass ich die goldene Färbung wenige Tage nach meiner Geburt bekommen habe.«

»Wenige Tage? Bist du sicher?« Elvons Falten auf seiner Stirn vertieften sich.

Ich nickte.

Jetzt trat Tatjana vor, sodass ich ihre Damenhose besser betrachten konnte. Sie war aus einem blauen, engen Stoff, fast wie eine Strumpfhose. Vielleicht war dies die neueste Mode aus Paris, die nur noch nicht ihren Weg zu uns gefunden hatte?

»Ich stelle dir nun eine Frage, die möglicherweise etwas unangenehm ist, auf die ich mir aber dennoch eine ehrliche Antwort wünsche.« Ihre grauen Augen glitzerten auf eine geheimnisvolle Weise und ließen sie irgendwie weise erscheinen, als sie mich mit ernster Miene fragte: »Wie viele Menschen hast du in deinem Leben schon umgebracht?«

Da war es wieder, das Wort. Umgebracht. Getötet. Ermordet. Etwas Ähnliches hatte mich bereits der Earl gefragt, bevor er sich in einen Dämon verwandelt hatte.

Dass es Dämonen gab, hatte mir eine meiner Zofen erzählt, die recht abergläubisch war. Sie war sich sicher gewesen, dass diese Wesen in den Schatten lauerten. Dort warteten sie, nachdem sie aus der Hölle emporgestiegen waren, wo sie dem Teufel dienten, um Sünder in die qualvollen Tiefen zu ihresgleichen zu ziehen. Am schlimmsten würde es die Hexen und Magier treffen, die versteckt in der Menschenwelt lebten und die Leute in ihrer Umgebung verfluchten. Später hatte sich herausgestellt, dass die Zofe in mir eine Hexe vermutet und mir die Geschichte erzählt hatte, um mich von meinen finsteren Zaubereien abzuhalten, von denen sie annahm, dass ich sie mit der Kraft meiner goldenen Augen zelebrierte. Wie so viele war sie keinen Monat geblieben und ich hatte wieder eine neue Dienerin gebraucht.

Ich wich drei Schritte zurück. Wenn Tatjana mir dieselbe Frage wie der Dämon stellte, dann waren sie und die anderen womöglich auch welche? Vorsichtig sah ich mich um auf der Suche nach einer Tür, einem Ausgang, der mich retten konnte. Doch dieser Raum schien keinen Anfang und kein Ende zu haben, keine Wände und Decken. Es gab nur den kalten Marmorboden und den allgegenwärtigen Nebel.

»Du hast keine andere Möglichkeit, außer unsere Frage zu beantworten. Ohne Hilfe findest du hier nicht hinaus.« Es war die Stimme des jungen Mannes, der zuvor »Schön wär's« gesagt hatte.

»Ruhe«, wies Tatjana ihn zurecht und trat mit halb ausgestreckter Hand einen Schritt auf mich zu, den ich mit erneutem Zurückweichen ausglich.

»Bitte, Lucy, es ist wichtig, dass wir eine Antwort von dir bekommen.«

»Weshalb?« Meine Stimme zitterte leicht. »Geht das Umbringen so schneller?«

Tatjana wirkte irritiert und sah hilfesuchend zu Mr Honk und Elvon, die allerdings genauso verwirrt wirkten. Da trat der jüngere Mann vor und sah mich aufmerksam an. Mein Herz begann, schneller zu klopfen.

»Ist dir denn bereits jemand begegnet, der vorhatte, dich umzubringen?«

Tatjana sah ihn fragend an, bevor sich langsames Verstehen auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Ich verstand immer noch nichts. Misstrauisch beäugte ich ihn, bis ich rot wurde und den Blick senkte. »Ja … einmal«, flüsterte ich, »gerade eben erst. Es war der Earl of Holeweavers. Ein seltsamer Mann. Das heißt, er war einer, bevor er sich plötzlich in ein Monster verwandelt hat. Ein seltsames hundeköpfiges Schlangenhuhn. Er wollte mich töten.«

Tatjana sog scharf die Luft ein und der Mann mit den türkisblauen Augen trat zurück in den dichteren Nebel.

»Um eines klarzustellen, Lucy, wir wollen dich nicht töten.« Die Frau kam abermals näher.

Ich blieb abwartend stehen.

»Genau genommen wollen wir dir helfen. Über dieses Monster sollten wir uns später noch unterhalten, doch erst einmal solltest du unsere Frage beantworten. Lucy, wie viele Menschen hast du umgebracht?«

»Mit deinen Augen«, ergänzte Mr Honk.

»Mit meinen Augen? Ich …« Meine Stimme versagte. »Meint Ihr damit, dass sie … anfangen zu brennen? Zu leuchten? Strahlen zu erzeugen und goldene Blitze um sich zu werfen?«

»So in etwa, ja. Nur die Blitze … sind … sind außergewöhnlich.«

Ich schauderte und wich den erwartungsvollen Blicken der vier aus. Sollte ich ihnen tatsächlich von Evie erzählen? Was würden sie dann mit mir machen? Und woher wussten sie überhaupt, dass ich jemanden umgebracht hatte?

Ich schluckte schwer. »I-ich habe …«, setzte ich an und fuhr zitternd fort, »… nur eine Person getötet. Und es war ein … ein Versehen.« Ich musste ihnen nicht die ganze Geschichte sofort erzählen, richtig? Dass es meine Schwester gewesen war?

Evie … bei dem Gedanken traten mir Tränen in die Augen und ich musste heftig schlucken, um nicht zu weinen.

Die vier musterten mich gleichermaßen skeptisch und Tatjana fragte vorsichtshalber nach. »Nur eine?«

Auf einmal wurde ich wütend und ich funkelte Tatjana an. »Was glaubt Ihr denn, wie viele ich ermordet habe? Zehn? Fünfzig? Vielleicht auch hundert? Habt Ihr das erwartet?«

Tatjana blickte betreten zur Seite und auch die Mimik der beiden Männer sprach Bände. Ich hatte ins Schwarze getroffen. Verletzt zerknüllte ich den zerrissenen Samtstoff meines Kleides in den Händen und starrte zornig zu Boden.

Nun passierten so viele Dinge so schnell hintereinander, dass ich ihnen fast nicht folgen konnte.

Der junge Mann lachte leise, und der höhnische Ton machte mich noch wütender.

In meine Augen kehrte das wilde Brennen zurück, zwei goldene Blitze schossen daraus hervor, ein ohrenbetäubendes Krachen hallte in meinen Ohren und ich wurde ruckartig zurückgeschleudert. Mein Kopf schlug hart auf den Boden auf, durch meine Schultern ging ein Ruck und ein leiser Schrei entfuhr mir. Stöhnend richtete ich mich auf, musste husten von der Rauchwand, die sich langsam von der Stelle entfernte, an der ich bis vor einem Augenblick noch gestanden hatte. Dahinter erkannte ich, wie Tatjana, Mr Honk, Elvon und der Jüngere händewedelnd versuchten, aus dem Aschegrau aufzutauchen.

Ich torkelte ein paar Schritte, bevor ich sicher stand und den Boden entsetzt betrachtete. Einen halben Meter vor mir, wo die goldenen Blitze eingeschlagen waren, zog sich ein breiter Riss durch den Marmorboden, aus dem feiner Rauch emporstieg. War das etwa ich gewesen? Mit meinen Augen?