Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1)

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»Verzeihung«, brachte ich stockend hervor. »Das war keine Absicht.«

Rechtfertigte ich mich tatsächlich für das Zerspalten eines Marmorbodens?

»Es tut uns leid, dass wir dich … aufgeregt haben« Mr Honk lächelte leicht. »Könntest du dennoch versuchen, unsere Halle der Erkenntnis nicht noch weiter zu zerstören?«

»So eine starke Kraft und nur ein großer Ausraster?«, hörte ich Elvon murmeln und seine Worte jagten mir einen eisigen Schauer über den Rücken.

»Du sagtest, du hast mit deiner Familie und eurer Dienerschaft zusammengelebt«, führte Tatjana ihre Befragung fort. »Hattest du häufig Kontakt zu anderen Leuten?«

»Ich … ja, aber ich war nie sonderlich willkommen bei Fremden«, gab ich zu. »Meine Andersartigkeit war schon immer abstoßend. Besucher kommen natürlich trotzdem zu uns. Ich versuche, ihnen aus dem Weg zu gehen, auf meinem Zimmer zu bleiben. Besuchen wir jemanden, genieße ich lieber das Alleinsein im Garten oder, falls möglich, die Abgeschiedenheit in der Kutsche. Das … ist mir lieber als die geheuchelte Freundlichkeit der Leute, die damit ihre Abscheu verbergen wollen.«

Tatjana warf Elvon einen Blick zu, als wäre in meiner Erzählung die Antwort auf seine vorige Frage zu finden. Sie richtete ihre klugen grauen Augen abermals auf mich. »Wie war dein Verhältnis zu den Menschen auf dem Anwesen? Standen sie dir nahe? Nicht nur deine Familie, auch die Bediensteten?«

Ich wusste nicht, welchem Zweck ihre Frage diente, antwortete aber weiterhin bereitwillig.

»Mit meinen älteren Schwestern verstehe ich mich vorzüglich. Vor allem …«, meine Kehle wurde trocken und ich musste schlucken. »Vor allem mit der jüngeren der beiden. Sie stand mir sehr nahe. Meine Eltern liebe ich ebenso. Mein Vater ist am besten für lange Unterhaltungen zu haben, ich habe viel von ihm gelernt. Meine Mutter … ich fürchte, ich bin ihr etwas unheimlich, deshalb vermeide ich es, mit ihr länger allein zu sein. Doch obwohl sie mich anders sieht, hat sie ein gutes Herz und ich weiß das auch.« Wieder musste ich schlucken, und diesmal dauerte es einen Augenblick, bis ich weitersprechen konnte.

»Meine Zofe ist noch neu bei uns, allerdings nehme ich nicht an, dass sie länger bleibt als die anderen. Sie haben sich bisher alle vor mir gefürchtet. Aber mit meiner Lehrerin Miss Lessing verstehe ich mich blendend. Bei unserer übrigen Dienerschaft … nun ich kenne nur unseren neuen Koch Monloe. Er ist ein leidenschaftlicher Märchenerzähler. Ach, und dann ist da noch Stefan, unser Kutscher, mit dem ich mich unterhalte, wenn wir zu einem auswärtigen Besuch mit ihm aufbrechen. Er ist allerdings recht schüchtern. Alle anderen kenne ich höchstens vom Sehen. Sie sind eben Bedienstete. Das kennt Ihr doch gewiss.«

Als ich Tatjanas Gesichtsausdruck bemerkte, war ich mir da nicht mehr so sicher. Sie wirkte eigentlich nicht wie jemand, der mit einer Dienerschaft zusammenlebte.

»Oder auch nicht«, ergänzte ich deshalb schnell und führte erklärend hinzu: »Ich meine, sie bewegen sich hauptsächlich in den Dienstbotengängen und sind eigentlich wie Geister. Man bemerkt sie gar nicht und sieht nur das Resultat ihrer verrichteten Dienste. Das gemachte Bett, der gefegte Hof …«

»Dann verstehst du dich mit allen Leuten, mit denen du am häufigsten zu tun hast, gut?«, vergewisserte sich die Frau.

Ich nickte.

»Und wer war die Person, die du versehentlich umgebracht hast?«

Ich zuckte zusammen. Einen Moment überlegte ich, auf die Frage, von der ich gehofft hatte, sie würde sie nicht stellen, keine Antwort zu geben. Doch ich riss mich zusammen. »Wie gesagt, es war … es war ein Unfall! So wie der Riss im Marmorboden. Ich wollte das alles nicht, ich hatte keine Ahnung, was ich da tat …«, brach es aus mir heraus, und während ich mich zwang, weiterzusprechen, schaute ich auf meine Schuhspitzen, als würden dort plötzlich interessante, kleine rote Blumen wachsen. »Die Person … war meine … meine Schwester.« Ich stockte. »Evie. Sie war immer für mich da. Und ich? Ich habe sie getötet!«, stieß ich voller Selbsthass hervor.

Tatjana zögerte kurz, bevor sie den Meter, der uns trennte, mit zwei schnellen Schritten überbrückte und mich tröstend in den Arm nahm. Ich schluchzte auf und lehnte mich erschöpft gegen ihre Schulter.

»Das war aber nicht deine Schuld«, murmelte sie beruhigend, während ihre warme Hand über meinen Rücken strich. Schließlich nahm sie ihren Arm weg und brachte wieder Abstand zwischen uns, um mich weiter zu befragen.

»Was ist danach passiert? Wie haben deine Eltern ihren Tod aufgenommen? Übrigens kannst du gern du zu mir sagen.«

Ich räusperte mich, um den weinerlichen Klang aus meiner Stimme zu vertreiben und ihr normal antworten zu können. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Das Ganze … ist erst gerade passiert, bevor ich … gestorben bin?«

Tatjana verschränkte grüblerisch die Arme vor der Brust. »Wie wäre es damit, Lucy? Bevor du uns mit deinen Antworten nur noch weitere Fragen in den Kopf scheuchst, erzählst du uns die ganze Geschichte. Von deiner Schwester, dem Licht aus deinen Augen, dem … Monster und, wie du glaubst, hierhergekommen zu sein. Und für dich zum Verständnis: Du bist nicht gestorben!«

Ich wusste nicht, ob ich über ihre Mitteilung erleichtert sein sollte oder nicht. Also beschloss ich, die Entscheidung auf später zu verschieben, holte tief Luft und begann mit einer detailreichen Schilderung des vergangenen Abends. Dabei verschränkte ich die Finger ineinander, was ich immer tat, wenn ich mich zu konzentrieren versuchte.

Ich erzählte ihnen von den Besuchern, die zu unserem Fest gekommen waren und unter denen sich der Earl befunden hatte, gekleidet in seinen langen Mantel, der so gar nicht zu den sommerlichen Temperaturen gepasst hatte. Ich verschwieg auch nicht die Schmerzen, das Brennen meiner Augen und wie Evie mir hatte helfen wollen, bevor ich erstarrt war und der Strahl aus meinen Augen in sie eingedrungen war. Wie ich sie dann auf den Gang geschleppt hatte und dort dem schwarzäugigen Mann begegnet war. Auch von seiner unheimlichen Verwandlung berichtete ich, und dass ich Evie hatte zurücklassen müssen, um vor dem Monster zu fliehen.

Als ich die Goldblitze erwähnte, sah ich wie Tatjana Mr Honk zunickte. Doch bei der Schilderung, wie die Blitze von den Spiegeln abgeprallt waren und einer schließlich das Monster getroffen hatte, das daraufhin zu Staub zerfallen war, fühlte ich erneut ihre Blicke auf mir. Ich endete mit dem Strahl, der mir in die Augen geschossen war und wie ich geglaubt hatte, innerlich zerrissen zu werden und mit blutenden Augen zu sterben. Als ich endlich fertig war, herrschte einen Augenblick lang Stille.

»Und … bei deinem Ausbruch, was für Gefühle hattest du da?«, unterbrach schließlich Tatjana das Schweigen mit einer weiteren seltsamen Frage.

»Ähm … ich glaube, dass ich vor allem Angst und Panik hatte, wegen des Monsters. Ich war verzweifelt wegen Evie und ziemlich verwirrt, weil aus meinen Augen dieses Leuchten und die goldenen Blitze kamen.«

Mr Honk ergriff das Wort. »Und vor diesem einen Mal, genauer gesagt, vor heute, hast du noch nie das Leuchten aus deinen Augen schießen sehen? Noch nie ein schmerzhaftes Brennen verspürt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Dürfte ich nun ebenfalls Fragen stellen?« Ich wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Wo bin ich, wenn ich nicht tot bin? Und wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir? Und … verzeiht bitte, wenn es unhöflich klingt, warum tragt Ihr eine Hose, Mylady?«

Tatjana sah an sich herab und, als sie dann wieder aufblickte, lächelte sie mich an. »Lucy, sicherlich hast du bemerkt, dass das alles sehr kompliziert ist. Wir vier, dieser Raum und der Grund, warum du den Boden aufgespalten hast, das ist alles erst der Anfang. Wie du gerade sicherlich zu verstehen beginnst, gibt es zwischen Himmel und Erde mehr, als du geahnt hast. Wir werden versuchen, dir nach und nach alles zu erklären und dir helfen, dich bei uns einzugewöhnen. Du bist zwar nicht tot, aber das Leben, das du bisher geführt hast, kannst du nicht mehr so weiterleben. Du wirst in den Inneren Schleifen bleiben müssen.«

»Innere Schleifen?« Geschockt starrte ich sie an. Ich verstand zwar nicht alles, was sie sagte, aber eines begriff ich: Ich würde nie wieder nach Hause zurückkehren.

»Die Inneren Schleifen sind Zeitschleifen.« Tatjana lächelte mich mitleidig an. »Sie existieren neben und zwischen der Welt, aus der du stammst. Es ist unsere Heimat und nun auch deine, Lucy, denn du bist eine von uns. Du bist eine Augenschöne. Eine junge Göttin.«

Wer herausfordert die Zeit,

der führt einen verlorenen Kampf.

(Silvana Gustani, Augenschöne, zu Lebzeiten eine Nele)

Kapitel 4

Ich hätte gerne etwas Schlaues geantwortet. Etwas, das darauf schließen ließ, dass ich die gesamte Situation logisch überschauen konnte. Etwas Lockeres, wie: »Ach, jetzt wo Ihr es sagt. Selbstverständlich bin ich eine junge Göttin.« Leider war das Einzige, was ich herausbrachte nur ein »Hä?«

Tatjana wandte sich kurz an Mr Honk und Elvon. »Ich denke, ich werde Lucy einmal herumführen, die übliche Prozedur, und ihr alles erklären.«

Mr Honk nickte und steckte zeitgleich mit Elvon seine Hand in die Tasche seiner Jacke. Ein leises Klicken ertönte, Elvon erstrahlte in lilafarbenem Licht, Mr Honk in braunem und dann … waren beide verschwunden.

Ich starrte die Stellen, an denen sie Sekunden zuvor noch gestanden hatten, schockiert an.

»Atlas, du kannst ebenfalls zurück in die vierte Schleife«, wandte sich Tatjana unterdessen an den verbliebenen Mann. »Egal zu welchem Auftrag man eingeteilt ist, Übung kann niemals schaden.«

 

Der Jüngere, Atlas, nickte mürrisch, steckte seine Hand zurück in seine Tasche, ein Klicken ertönte, er leuchtete im Türkis seiner Augen auf und war ebenfalls verschwunden.

Ein leises Platschen, wie von verschüttetem Wasser, hallte in der Halle nach. Was ging hier vor sich? Waren das Magier wie eben jene, von denen mir die Zofe erzählt hatte?

Tatjana sah sich um. »Beginnen wir am besten direkt.«

Etwas Nebel wirbelte auf, als sie neben mich trat.

»Wie bereits erwähnt, ist das hier die Halle der Erkenntnis. Dieser Nebel ist magisch. Sein Einatmen wird dir helfen, die Dinge besser zu verstehen, mich besser zu verstehen. Doch erst einmal starten wir mit dem Ursprung all dessen.«

Das erleichterte mich ein wenig. Wenn alles der Reihe nach ging, konnte ich besser folgen.

»Du hast im 16. und 17. Jahrhundert gelebt, also gab es bereits Uhren. Somit ist dir Zeit ein Begriff?«

Ich nickte.

»Es gibt Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, richtig?«, hakte Tatjana nach.

Ich nickte erneut.

»Und manchmal fragt man sich, wann das alles angefangen hat. Wann war der Beginn dieser Zeit? Wann wird das Ende sein?« Sie sah mich ernst an. »Hier, wo wir sind, das sind die Zeitschleifen. Doch sie sind nicht nur ein Wohnort für unseresgleichen. In den Zeitschleifen gibt es keine Zeit. Man ist in der Zeit, vor der Zeit, nach der Zeit. Das ist etwas verwirrend, nach und nach wird es klarer. Kennst du dich mit Geschichte aus?«

Bei Miss Lessing hatte ich so einiges gelernt, also nickte ich ein drittes Mal.

»Vor deiner Zeit haben viele Menschen gelebt und sind gestorben. Und auch nach deiner Zeit werden viele Menschen leben und sterben. Nun stell dir vor, man könnte durch die Zeit reisen. In die Vergangenheit wie auch in die Zukunft. Um ein paar Tage, ein paar Jahre, ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende. Stell dir vor, das würde so funktionieren, dass man in Zeitschleifen steigt, die dich in eine andere Zeit bringen können. Diese Schleifen sind Orte, die man von außen, der gewöhnlichen Zeit, nicht wahrnehmen kann. Diese Schleifen sehen unterschiedlich aus, jede anders und mit ihren eigenen angepassten Bewohnern. Wo wir uns befinden, ist die dritte Schleife. Wir stecken zwischen der richtigen Zeit fest. Man könnte es so sagen, dass gerade in den Äußeren Schleifen, der zeitlich gesteuerten Welt, alles passiert, bereits passiert ist und alles noch passieren wird.«

Ich starrte Tatjana an. Nur langsam sickerten ihre verwirrenden Worte und die darin enthaltenen Informationen in meinen Kopf. Die einzige Frage, die über all dem schwebte, war allerdings eine andere.

»Was habe ich mit all dem zu tun?«

Tatjana schmunzelte.

»Diese Zeitschleifen gibt es eigentlich schon immer. Jedenfalls seit die Erde existiert – das nehmen wir zumindest an. Und was es auch schon von jeher gab, war die Natur, mit all ihren Inhalten. Inklusive Himmel, Mond, Sonne und Sternen. Es gab auch schon seit Anbeginn der Zeit diejenigen, die diese Dinge innehatten. Im alten Griechenland oder in Rom hat man an viele Götter geglaubt. Besondere, mächtige Götter, die eine oder mehrere Aufgaben haben, die sie erfüllen müssen. Diese Götter – in gewisser Weise gibt es sie wirklich. Doch nicht nach der herkömmlichen Vorstellung, dass sie wie ein Mensch aussehen, meine ich. Sie bestehen stattdessen aus den Dingen, dessen Herr sie sind. Den Dingen, die sie repräsentieren. Es gibt zum Beispiel den Gott der Weisheit. Er ist überall dort, wo Weisheit herrscht, auf der ganzen Welt, durch die Zeit verteilt. Dann gibt es noch solche Götter, wie den Gott des Mondes. Er besteht nur aus dem Mond, der um die Erde kreist. Allerdings ist er ebenfalls dort anwesend, wo an ihn gedacht wird. Von Göttern gibt es Milliarden. Götter, die Gegenstände, Dinge, Gase, Flüssigkeiten, Gerüche und so viel mehr verkörpern. Götter, die Herrscher über ein Gefühl sind. Vielleicht kennst du ja ein paar alte Mythen über Götter?«

Wieder konnte ich guten Gewissens nicken.

»Fast immer spielen auch ihre Kinder eine große Rolle. Hier gehen Wirklichkeit und Mythos jedoch stark auseinander. Die wahren Götter können keine Kinder bekommen. Das überlassen sie den Menschen. Allerdings fügen sie ausgewählten Kindern ihre Gene ein. Diesen Prozess nennt man Cynierung. Die eingefügten Gene enthalten aber nicht das Aussehen des göttlichen Elternteils, sonst würden sich manche ihrer Kinder entmaterialisieren. Es sind nur die Kräfte des Gottes in einer abgewandelten Form. Die Kinder verändern sich auch nicht sehr. Sie unterscheiden sich von normalen Menschen lediglich durch die innere Magie und ein fortwährend tadelloses Aussehen, das sie nahezu perfekt erscheinen lässt. Nur ein Teil ihres Körpers verkündet deutlich, wer ihr göttlicher Elternteil ist.«

»Die Augen«, flüsterte ich rau. Endlich begriff ich. Tatjana, Mr Honk, Elvon und dieser Atlas waren Götterkinder. Tatjana hatte sie vorhin Augenschöne genannt … und ich war eine von ihnen.

»Genau, die Augen. Sie sind auch der Schlüssel zur Nutzung der Magie, die einem mit den Genen zugefügt wurde. Bei guter Übung und hartem Training kann man lernen, diese Kraft zu steuern. Sie den eigenen Willen erfüllen lassen. Das ist jedoch wie gesagt harte und schwere Arbeit.«

Ich beobachtete Tatjana, die gedankenverloren in den Nebel starrte.

Irgendwann schüttelte sie ihren Kopf und sprach weiter. »Die Magie tritt entweder durch gezielte, kontrollierte Steuerung des Willens aus oder durch sehr starke Gefühle. Hast du schon einmal die Redewendung gehört, in den Augen könne man die Gefühle der Menschen erkennen? Diese Redewendung kommt von uns. Bei großen, heftigen Gefühlsausbrüchen, die wir wie Wutausbrüche nicht wirklich kontrollieren können, tritt die Magie unaufgefordert und von selbst aus den Augen heraus.«

»Wodurch ich meine Schwester getötet habe«, flüsterte ich und meine Augen füllten sich erneut mit Tränen.

»Wie ich schon sagte, du konntest nichts dafür. Du hast noch nicht gelernt deine Kräfte zu kontrollieren.« Tatjana drückte mitfühlend meine Hand. »Viele von uns haben liebe Menschen auf diese Weise verloren in unserem früheren Leben in den Äußeren Schleifen. Irgendwann aber kommen wir hierher. Entweder während wir etwas ganz Normales machen, wie essen, schlafen … oder wenn wir als normale Menschen sterben würden, weil wir beispielsweise ertrinken oder erschossen werden. Selten passiert es auch, dass man durch einen heftigen Gefühlsausbruch hierher geschleudert wird, so wie du. Bei den meisten passiert das im Alter von fünfzehn bis fünfundzwanzig. Es gibt jedoch ein paar Ausnahmen, wie Elvon und mich, wir sind ein paar der Älteren. Der Jüngste bei uns ist dreizehn. Leider, denn wenn man in die Inneren Schleifen kommt, wird man nicht mehr älter.«

»I-ich bleibe für immer siebzehn?«, fragte ich schockiert.

»Ja, du wirst ab jetzt nicht mehr altern. Niemand von den zweihundert Augenschönen tut das«, antwortete Tatjana und zwirbelte zerstreut an einer ihrer Haarsträhnen.

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie, bis auf die seltsame Kleidung, eigentlich ganz hübsch aussah. Ihre glatten braunen Haare trug sie in einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre Haut hatte einen leichten Olivstich, zu dem ihre grauen Augen wunderbar passten. Ich schätzte sie auf Anfang dreißig. Doch wenn man hier nicht alterte, wie alt war sie dann wirklich?

»Übrigens wohnen alle Augenschönen in der vierten Schleife«, unterbrach sie meine Gedanken. »Dort wirst du ebenfalls hinkommen, wenn ich dir alles erklärt und gezeigt habe. Wir leben dort zusammen und trainieren. Nicht nur, um die Kraft unserer Augen zu kontrollieren, sondern auch, um zu kämpfen.«

»Auch die Mädchen?«

»Auch die Mädchen. Kämpfen müssen wir alle lernen, da wir einen immerwährenden Krieg gegen die Nächtlichen Geschöpfe führen. Das sind schreckliche Monster, die danach trachten, uns auszulöschen. Du bist einem von ihnen in deiner Zeit begegnet. Sie leben ebenfalls in den Schleifen, und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, sie zu bekämpfen. Zum einen, um unser eigenes Leben zu schützen. Zum anderen aber auch, um die Zeit zu retten, denn die Nächtlichen Geschöpfe versuchen, Herr über Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit zu werden. Doch dazu später mehr. Jetzt rüsten wir dich erst einmal für dein neues Leben. Äußerlich sowie innerlich. Wir beginnen genau hier.«

Tatjana holte ein kleines gläsernes Fläschchen mit einer milchig trüben Flüssigkeit aus ihrem Mantel und ging in die Hocke. Sie machte eine kreisende Handbewegung in der Luft. Der Nebel ballte sich zusammen und schoss in das Fläschchen. Als es sich vollständig gefüllt hatte, schloss Tatjana den Deckel und richtete sich auf. Sie reichte mir das Gefäß, in dem der Nebel über der Flüssigkeit herumwirbelte. Ich nahm es vorsichtig in die Hand und betrachtete die weißgrauen Schlieren darin.

»Wie ich bereits sagte, der Nebel ist magisch. Bei uns nennt man ihn den Nebel der Erkenntnis. Erkenntnis hat immer etwas mit Worten zu tun, deshalb gehört das auch zur Magie des Nebels. Öffne den Deckel vom Fläschchen und halte es dir vor Mund und Nase. Atme den Nebel ganz tief ein und nimm die Magie darin in dich auf. Der Nebel wird dir alle Geheimnisse und Entwicklungen der Sprache mitteilen, sodass du auch die Worte verstehen kannst, die mehrere hundert Jahre nach deiner Geburt in deiner Sprache verwendet werden«, erläuterte mir Tatjana. »Da du ihn schon eine Weile eingeatmet hattest, bevor wir dich fanden, konntest du dich schon etwas unserer Sprache anpassen. Durch die Substanz in dem Fläschchen wird er extrem verstärkt. Wenn du das Gemisch jetzt einatmest und die ganze Magie des Nebels in dir hast, wirst du alles darüber wissen.«

Ich betrachtete den Nebel in dem Fläschchen. Magisch? Vorsichtig drehte ich an dem Verschluss und hielt es mir vor den Mund. Als ich den Deckel abnahm, holte ich tief Luft und sog den Nebel in meine Lungen. Geschockt torkelte ich, denn eine Flut von Gedanken drohte mich zu ersticken. Es fühlte sich an, als würde jemand gewaltsam Wissen in mich hineindrücken. Buchstaben a, b, c, d, die Worte bildeten. Realität, sagenhaft, Hallo. Worte, die Sätze formten. Monologe, Erklärungen, Texte, Bücher! Mein Kopf schwirrte und ich lehnte mich keuchend an Tatjana, die mich festhielt, bis ich wieder einigermaßen da war und sprechen konnte.

»W-was war d-das?«

»Du hast die Sprache gesehen, sie in dich aufgenommen. Jetzt kannst du dich auch mit Leuten unterhalten, die erst Jahrhunderte nach dir geboren wurden und mit anderen Worten und Ausdrucksarten aufgewachsen sind.« Sie stützte mich und ließ mich erst los, als ich wieder allein stehen konnte. »Jetzt machen wir mit der menschlichen Entwicklung weiter. Mit Technik, der Ernährung, der Geschichte und so weiter.«

Während sie sprach, ging sie einfach in den Nebel hinein. Ich beeilte mich, ihr zu folgen, damit ich sie nicht verlor. Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis wir zu einer großen, breiten Tür gelangten. Offensichtlich hatte die Halle doch Wände und Ausgänge.

Tatjana öffnete die Tür und ich kniff geblendet die Augen zusammen, denn nach dem schummerigen Licht in der Halle der Erkenntnis, war das hier, wie in die Sonne zu schauen. Vor uns erstreckte sich ein weiterer großer Saal, in dessen Mitte eine Tafel mit den merkwürdigsten Speisen stand, die ich jemals gesehen hatte. Auf riesigen silbernen Platten stapelten sich große sahneverzierte Kuchen, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Daneben bog sich eine Schale unter dem Gewicht seltsam aussehender Früchte, die scharlachrot im hellen Licht glänzten. Der ganze Tisch war bedeckt mit Speisen auf Tellern, in Schüsseln und auf Tabletts. Der Boden um den Tisch herum war gepolstert mit großen weichen Kissen.

Wozu die wohl dienten?

Tatjana führte mich an der Tafel entlang, bis ungefähr zur Mitte. Dort stand ein weißer Teller mit saftigen Erdbeeren. Davor stand ein kleines hölzernes Schild, auf dem in schnörkeliger Schrift stand:

17. Jahrhundert, weiblich, 16 bis 17 Jahre

»17. Jahrhundert?« Ich sah Tatjana mit gerunzelter Stirn an. »Wie viele Jahrhunderte kommen denn danach noch?«

Tatjana lächelte amüsiert.

»Ganz genau wissen wir es nicht. Auch wir kennen die Zeit, zwischen der sich die Schleifen befinden, nicht genau. Wir haben Augenschönen aus dem 21. Jahrhundert bei uns. Zwei Mädchen stammen sogar aus dem 22. und 23. Jahrhundert. Allerdings sind sie sehr jung und konnten uns nicht viel Sinnvolles berichten. Außerdem wurden sie zu Lebzeiten gefangen gehalten.«

Ich starrte Tatjana entsetzt an. »Gefangen gehalten? Warum?«

 

»Wegen ihrer Augen«, seufzte Tatjana und wirkte auf einmal sehr müde und ausgelaugt. »Die eine ist ein Kind des Regenbogens, die andere ein Kind des Veilchens. Ihre Augen haben darum besonders auffällige Farben, zusätzlich zu den ohnehin schon vorhandenen Effekten. Welcher normale Mensch hat eine bunte oder violette Iris? Und wie so oft in der Geschichte der Menschheit zeigt sich auch in Fällen, die mit uns zu tun haben, dass der Mensch Neues und Unbekanntes fürchtet. Das Fremde wird als gefährlich eingestuft und eingesperrt. Es scheint für sie die einzige Möglichkeit zu sein, mit Andersartigkeit umzugehen.«

In meiner Angst vor dem Ungewissen war ich wohl nicht viel besser als diese Leute. Seit ich in dieser seltsamen Schleife gelandet war, waren das Misstrauen und die unterschwellige Furcht nicht von meiner Seite gewichen.

»Menschen tun manchmal schreckliche Dinge, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen«, sinnierte Tatjana. »Ich wünschte, dass sie andere Wege fänden, als sich mit Gittern und Mauern ein Gefühl von Sicherheit zu verschaffen«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber lassen wir die Schattenseiten des Menschen und fahren mit deiner Vorbereitung fort.« Sie deutete auf den Tisch und die sich darauf befindenden knallroten Erdbeeren. »Du musst diese Erdbeeren essen. Sie dienen als Wissensüberbringer, da sie mit dem Gift der Dromeden gefüllt sind.«

Gift?! Ich wich vom Tisch zurück und alles in mir verkrampfte sich. Wurde ich letztendlich doch getötet? Verwirrt sah ich Tatjana an, als diese auf mein erschrockenes Verhalten hin nur lachte. Das ließ mich zusätzlich auch einige Schritte vor ihr zurückweichen.

»Du verstehst das falsch, Lucy. Es ist kein böses Gift. Es ist nur giftig, wenn du zu viel oder das falsche nimmst. So wie du es bekommst, handelt es sich eigentlich um flüssiges Wissen in Form eines Gifts. Wenn du die Erdbeere isst, wird das Wissensgift in dich einströmen, aber es wird dich nicht töten. Es funktioniert so wie bei dem Nebel in der Halle der Erkenntnis. Das Gift hat so wie der Nebel die Fähigkeit, dir Unmengen von Informationen innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde zu vermitteln. Über den Fortschritt der Menschen, das Produkt aller Forschungen, die nach deinen Lebzeiten durchgeführt wurden.«

Ungläubig starrte ich sie an. Ich würde einfach nur eine Erdbeere essen und müsste nie wieder etwas lernen? Konnte so etwas wirklich möglich sein? Das wäre ja …

Doch Tatjana zerstörte meine schönen Gedanken: »Bedauerlicherweise können wir dir damit nicht alles beibringen. Es wird noch genug Dinge geben, die du später auf herkömmliche Weise lernen musst, aber das Gift wird dir helfen, dich zumindest einigermaßen in der vierten Schleife zurechtzufinden.« Sie schmunzelte. »In gewisser Weise erfährst du sogar etwas über dein eigenes Jahrhundert, denn in deiner Zukunft haben die Menschen viel über die Vergangenheit herausgefunden. Auch über die Jahrhunderte, Jahrtausende und Jahrmillionen davor.«

Ich beäugte noch immer unsicher die unschuldig daliegenden Erdbeeren, mit ihrem grünen Schopf und dem weichen Fruchtfleisch, in dem sich die kleinen Kerne tummelten. In diesem Moment kamen sie mir allerdings wie riesige starrende Augen vor. Ich schüttelte leicht den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Da sah ich also bereits Monster auf Obsttellern!

Tatjana beobachtete noch immer amüsiert mein Mienenspiel, offenbar erheitert durch mein seltsames Verhalten.

Schließlich gab ich mir einen Ruck und nahm eine der Früchte in die Hand. Sie war schwerer, als sie aussah, verströmte aber einen süßen Duft.

»Stell dich besser etwas weiter weg vom Tisch auf«, empfahl Tatjana mir. »Die Erdbeere enthält viel mehr Informationen als der Nebel, und wie du selbst gespürt hast, hatte der bereits viel Kraft. Du konntest dich da schon kaum auf den Beinen halten, und wenn man deine Erschöpfung dazuzählt, ist dein Zustand nicht unbedingt ideal für die Erdbeere. Riskieren wir es also lieber nicht, dass du dich am Tisch verletzt.«

Ich nickte nachdenklich und drehte die Frucht zwischen den Fingern, während ich sie weiter misstrauisch betrachtete.

»Wie soll ich sie essen? Ganz normal, und dann fange ich irgendwann an zu torkeln?«

Die junge Frau grinste. »Es kommt ganz auf das Augenschön an und was es isst. Manche schlucken nur einen winzigen Bissen, andere schaffen einen ganzen Kuchen.« Sie musterte mich mit einem nahezu neugierigen Blick. »Ich bin gespannt, wie viel du schaffst. Vielleicht ist dir die Magie, von der anscheinend ein Haufen in dir steckt, von Vorteil.«

Wahrscheinlich wollte sie mir nur Mut machen, doch das Gerede über Magie machte mir große Angst. Ich hatte diverse Geschichten über sie gehört, die allesamt zwar recht unglaubwürdig waren, in einem entscheidenden Punkt jedoch übereinstimmten. Magie war böse. Gefährlich, schlecht, tödlich. Und sie kam direkt aus der Hölle. Ich schluckte die aufblühenden Gedanken von Geschichten über krummnasige Hexen und Spitzhüte tragende Zauberer herunter, hob die Beere an den Mund und biss hinein, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

Das Fruchtfleisch war weich und saftig und schmeckte besser als alles, was ich je gegessen hatte. Ich kaute, schluckte, und biss ein weiteres Stück ab.

Tatjana beobachtete mich aufmerksam, während ich in Windeseile die Erdbeere verspeiste. Sie schmeckte fabelhaft. Ich aß das letzte Stück und hielt nur noch den grünen Blätterkranz in den Händen.

Tatjana zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, nachdem ich mir die letzten Fruchtsaftreste von den Lippen geleckt hatte. Sie hatte recht. Sollte nicht längst etwas passiert sein?

Ich öffnete den Mund, um sie zu fragen, ob ich etwas falsch gemacht hätte, als sie vor meinen Augen verschwamm und mein Kopf explodierte. Ein furchtbarer Schmerz überkam mich, als würde jemand Nägel in meinen Schädel schlagen, und ein durchdringender kreischender Laut hallte durch meine Ohren. Geisterhafte Bilder schwebten durch meinen Kopf, die ich durch all den Schmerz nicht ganz zu fassen bekommen konnte. Wie ein Wasserfall sprudelten sie durch mich hindurch, zusammen mit Stimmen, die mir Erklärungen dazu einzuflüstern schienen. Kleine Strudel bildeten sich, die mich ausfüllten, aber unter dem Schmerz kaum greifbar waren.

Ich erkannte Menschen, geteerte Straßen, auf denen sich seltsame Gefährte entlangbewegten, die in der Sonne metallen glänzten. Ein neues Bild glitt vorbei und ich sah Frauen, die wie Tatjana Hosen trugen. Ich staunte über riesige glitzernde Kästen, die bis in die Wolken reichten und plötzlich … wusste ich einfach, dass die seltsamen Metallgefährte Autos waren. Ich begriff, dass Hosen für Frauen ganz normal waren, und dass die glitzernden Kästen Hochhäuser waren, deren Fensterfassade alles um sie herum spiegelte, und dass sie auch Wolkenkratzer genannt wurden.

All das nahm ich nur nebenbei wahr, denn der größte Teil meines Verstands war damit beschäftigt, einen Ausweg zu finden, um den Schmerz zu bewältigen und das Kreischen nicht mehr mit anhören zu müssen, da mich beides zu erdrücken schien. Doch dann, plötzlich, flaute der Strom an Bildern ab. Auch der Schmerz zog sich zurück. Auf einmal fiel mir auch auf, dass ich so entsetzlich kreischte. Es drang gepeinigt aus mir hinaus, weil ich der Qual eine Stimme geben musste. Sofort verstummte ich und lauschte auf das dumpfe Pochen in meinem Kopf. Vorsichtig öffnete ich die Augen und bemerkte nicht wirklich überrascht, dass ich auf dem Boden lag.

Tatjana kniete neben mir, betrachtete mich ängstlich und bemühte sich, mir beim Aufrichten zu helfen.