Zehn Jahre später

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Ebenfalls wenige Minuten später wurde der Befehl zur Abreise von Blois gegeben, und Prinz von Condé setzte als nächsten Ruheplatz die Stadt Poitiers an. Auf diese Weise spielte sich binnen einer kurzen Stunde eine Intrige ab, mit der sich fast alle Diplomaten Europas beschäftigt hatten. Ihre einzige greifbare Folge war jedoch, daß ein armer Musketier-Leutnant um seine Stelle und um seinen Verdienst gekommen war. Aber er gewann dafür wenigstens die Freiheit.

5. Kapitel Athos

An demselben Morgen, an dem Ludwig von dem Abschied von Maria zurückkehrte, ritt Karl II., der unglückliche Verbannte, der König ohne Land und ohne Geld, auf der Landstraße dahin. Sein treuer Parry bildete sein ganzes Gefolge. Eine halbe Meile etwa waren sie von Blois entfernt, da begegnete ihnen ein Reiter, der an ihnen vorübersprengte, aber trotz der Eile, in der er sich befand, grüßend den Hut zog. Der König, in düstere Gedanken versunken, hätte diesen Mann, einen Jüngling von etwa 25 Jahren, gewiß nicht bemerkt, wenn er ihm nicht dadurch aufgefallen wäre, daß er sich wiederholt umsah und mit dem Hut winkte. Nun erkannte der König auch, daß der Gruß gar nicht ihm gegolten hatte, sondern dem alten Manne, der vor einem Gitter stand und die Winke des jugendlichen Reiters erwiderte. Karl II. wollte weiterreiten, als Parry nach einem Blick auf diesen alten Mann einen Schrei der Ueberraschung ausstieß. Im selben Augenblick war dieser Greis auch auf die beiden fremden Reiter aufmerksam geworden, sah von dem älteren zum jüngeren hin, stieß ebenfalls einen Schrei aus, faltete die Hände und verneigte sich mit allen Zeichen tiefster Ehrerbietung.

»Mein Gott, Parry!« stammelte der König, »dieser Alte scheint mich zu kennen. Wer kann das sein?« – »Sire,« antwortete Parry, »so ist es auch. Gestatten Eure Majestät, daß ich ihn anspreche! Grimaud, sind Sie es wirklich?« rief er und trieb sein Pferd dicht vor das Tor. – »Ich bin es,« antwortete der Greis, sich aufrichtend. – »Sire« rief Parry, »ich hatte richtig gesehen. Dies ist der Diener des Grafen de la Fère, des würdigen Kavaliers, der dem Gedächtnis Eurer Majestät so teuer sein muß.« – »War das nicht der Mann, der meinem Vater in seinen letzten Augenblicken beistand?« fragte Karl, erbebend. »O, sagen Sie!« wendete er sich an Grimaud, »wohnt Euer Herr, Graf de la Fère dort? Und ist er zu Hause?« – »Dort steht er – dort unter den Kastanien.« – »Ich muß ihm persönlich meinen Dank sagen – Freund, haltet mein Pferd.«

Er sprang ab und eilte in den Garten. Als der Graf, der in der Kastanienallee nachdenklich hin und her ging, Schritte vernahm, sah er auf. Beim Anblick eines Unbekannten, der sich durch eine edle Haltung und ein sicheres Auftreten als Kavalier kennzeichnete, nahm er den Hut ab und wartete. Auch Karl entblößte das Haupt. »Herr Graf,« rief er, auf Athos zutretend, »ich bin Ihnen seit langer Zeit Dank schuldig. Ich bin Karl Stuarts Sohn, Karl II.« – Athos erschrak, starrte den Fremden mit seinen großen, blauen Augen an und verneigte sich dann tief. Karl ergriff seine Hand. »Sie sehen keinen König vor sich,« sprach er düster, »sondern einen Unglücklichen, der keinem Menschen die Liebe lohnen kann.« – »Es ist wahr,« sagte Athos, »Eure Majestät sind schwergeprüft.« – »Die schwerste Prüfung steht mir noch bevor,« antwortete der Geächtete. »Gestern noch hatte ich Hoffnung. Mein Vetter, der Statthalter von Holland, hatte mir seine Hilfe zugesagt, wenn Frankreich den ersten Schritt täte. Von Frankreich habe ich nun eine Million Frank und 200 Mann erbeten, mit denen ich alles hätte erreichen können.« – »Und der König hat Ihnen das abgeschlagen?« rief Athos. – »Der König nicht,« antwortete Karl, »aber der Kardinal Mazarin.« – Athos biß sich auf die Lippe. »Das war nicht anders zu erwarten,« murmelte er, »ich kenne den Italiener seit langem.«

»Nachdem Frankreich seine helfende Hand verweigert, ist alles verloren – ich muß dem Schicksal weichen,« sagte Karl II. – »Majestät, ich möchte Ihnen darin nicht ohne weiteres beistimmen,« versetzte Athos. »Ich habe oft schon erlebt, daß gerade dann, wenn es am schlimmsten stand, eine glückliche Wendung plötzlich eintrat.« – »Danke, Herr Graf. Sie meinen es gut, indem Sie mich trösten,« erwiderte Karl mit der Kürze der Verzweiflung, »aber ich weiß, woran ich bin – für mich ist keine Rettung mehr. Ich reite nach Holland, wo man mir ein kleines Schloß als Exil überlassen will. Möge nur der Tod nicht lange auf sich warten lassen!« – »Wollen Eure Majestät mir noch ein paar Minuten vergönnen und mit mir kommen?« fragte Athos, indem er dem Hause zuschritt. Karl II. folgte ihm.

In seinem Zimmer angelangt, bot der Graf dem König einen Sessel an. »Majestät,« sagte er, »Sie äußerten eben, daß Sie mit einer Million Frank Ihr Reich wiedererobern könnten. Hören Sie mich an! Die Geschichte vom Tode Ihres Vaters muß seinem Sohne allerdings sehr schmerzlich sein, dennoch muß ich jetzt darauf zurückkommen, weil gewisse Umstände, so getreu Ihr Diener Ihnen auch alles erzählt haben mag, außer Gott im Himmel nur mir allein bekannt sind.« – »Sprechen Sie, Herr Graf.« – »Als Ihr Vater das Blutgerüst betrat, war alles zur Flucht vorbereitet, und ich selbst befand mich unter den verhängnisvollen Brettern des Schafotts. ›Geh' auf einen Augenblick fort,‹ sprach der erlauchte Märtyrer zu dem maskierten Henker, ›und komm wieder, wenn ich dir das Zeichen gebe. Ich will erst ungestört beten.‹«

»Eine Frage, Herr Graf!« unterbrach Karl II. ihn, »wie hieß der Elende, der den Henkerdienst verrichtete?«

Athos wechselte die Farbe. »Ich darf seinen Namen nicht nennen,« antwortete er. – »Aber was ist aus ihm geworden? Man weiß in England nichts von seinem Verbleib.« – »Er ist in einer schrecklichen Nacht eines furchtbaren Todes gestorben. Von einem Dolchstoß durchbohrt, rollte er in die Tiefe des Ozeans. Gott möge dem verzeihen, der ihn tötete! Doch weiter. Karl I. sprach ferner noch zu seinem Henker: ›Höre wohl, du führst den Beilhieb erst, wenn ich die Arme öffne und rufe: Remember!« 2 – »Ich weiß,« nickte der Verstoßene vor sich hin, »dies war das letzte Wort meines unglücklichen Vaters. Doch in welchem Sinne sprach er es, in welcher Absicht?« – »Es war an den unter dem Schafott verborgenen Franzosen gerichtet.« – »Also an Sie, Herr Graf?« – »An mich. Und die Worte des Königs, der nun niederkniete und zu mir sprach, klingen mir noch heute in den Ohren. ›Graf de la Fère,‹ sagte er, ›sind Sie da? Sie haben mich nicht retten können, es sollte nicht sein. Vernehmen Sie meine letzten Worte: Ich habe den Thron meiner Väter verloren, aber ich besitze noch eine Million in Gold, die im Keller des Schlosses zu Newcastle vergraben ist.‹«

»O, Herr Graf!« rief Karl II. und nahm die Hände von dem in Tränen gebadeten Gesicht, »eine Million, sagen Sie!« – »›Um dieses Geld wissen nur Sie,‹ fuhr der König fort, ›verwenden Sie es zum Besten meines ältesten Sohnes, wenn Sie die Stunde gekommen glauben. Und nun leben Sie wohl!‹ Darauf klang von seinen Lippen das letzte Wort: › Remember!‹ Und Sie sehen, Majestät, ich habe daran gedacht.« – Der König konnte seine Gefühle nicht mehr niederdrücken; er schluchzte laut auf, und auch Athos fühlte sich von den wiedererweckten Erinnerungen überwältigt. – »Sire,« fuhr er dann fort, »mir scheint, die Stunde, dieses letzte Hilfsmittel zu benützen, ist nun gekommen. Ich wollte mich schon aufmachen und Sie suchen. Nun schickt Gott Sie mir zu.«

»Eine Million im Schloß Newcastle,« murmelte Karl II. »Aber Schloß Newcastle ist zur Zeit von General Monk besetzt. Der Ort, wo Hilfe für mich verborgen liegt, ist in der Hand meines Feindes.« – »General Monk kann den Schatz nicht entdeckt haben,« versetzte Athos. – »Das mag sein, aber soll ich mich in Monks Hände liefern? Ach, so oft ich mich wieder aufrichte, gleich wirft mich das Schicksal wieder zu Boden.« – »Majestät, was Ihnen und Ihrem Diener nicht gelingen kann, vielleicht gelingt es mir. Ich will für Sie nach Newcastle reisen.« – »Sie, Herr Graf, der Sie hier so glücklich leben?« – »Ich bin nie glücklich, solange ich noch eine Pflicht zu erfüllen habe. Und über den verborgenen Schatz zu wachen, hat mir Ihr Vater als heilige Pflicht übertragen. Es bedarf nur eines Winkes von Eurer Majestät, und ich gehe.«

Alle Etikette vergessend, fiel der König dem Grafen um den Hals. »Sie beweisen mir,« rief er, »daß es einen Gott im Himmel gibt, der die Unglücklichen nicht vergißt.« – Athos trat ans Fenster und rief hinaus: »Grimaud, die Pferde!« – »Sie wollen –?« fragte Karl II. »Aber, Herr Graf, ich bin nicht imstande, solche Dienste zu belohnen.« – »Majestät scherzen,« war die Antwort. »Sie besitzen doch eine Million. Einstweilen habe ich noch einige Rollen Geld und ein paar Familienbrillanten. Majestät werden mir die Ehre erweisen, mit einem treuen Diener zu teilen.« – »Mit einem Freunde,« antwortete der König: »Unter der Bedingung, daß dieser Freund später auch mit mir teilt.« – Die Freude färbte zum ersten Male seit langer Zeit wieder die bleichen Wangen Karls II. Grimaud führte die reisefertigen Pferde vor. – »Blaisois!« rief Athos seinem Diener zu, »dieser Brief ist an den Grafen von Bragelonne zu befördern. Ich reise nach Paris – halte gut Wirtschaft.«

1  Englisch: denke dran!

6. Kapitel Herr d'Artagnan sucht seine Freunde

Zwei Stunden nach der Abreise des Hausherrn ritt ein Reiter vor. Blaisois erkannte ihn und rief: »Der Chevalier d'Artagnan! Geschwind, ihr andern, macht das Tor auf!« – Acht dienstfertige Burschen, über die nun Blaisois als Gebieter gesetzt war, eilten hinaus und ließen den Ankömmling herein. – »Wo ist der liebe Graf?« rief dieser, bereit, sich aus dem Sattel zu schwingen. – »Der gnädige Herr hat wirklich Unglück,« antwortete Blaisois, »der Herr Graf ist vor zwei Stunden weggeritten.« – »So warte ich,« antwortete d'Artagnan ruhig. – »Da könnten Sie lange warten, Herr Chevalier, denn es handelt sich um eine lange Reise, von der der Graf sobald nicht wiederkommen wird. Der Herr Graf hat das Haus meiner Obhut anvertraut, und das tut er nur, wenn er lange wegbleiben will. Als Reiseziel nannte er mir Paris.« – »Mehr brauche ich ja nicht zu wissen. Und zwei Stunden ist er voraus?« Mit diesen Worten saß der Chevalier schon wieder im Sattel. »Ist er allein?« – »Nein, zwei Männer, die ich nicht kenne, sind bei ihm, ein alter und ein junger, und dann noch Herr Grimaud. Doch einen Augenblick noch, gnädiger Herr!« setzte Blaisois hinzu und hielt das Pferd fest, »die Sache mit Paris ist nur ein Vorwand gewesen – ich weiß das genau –« – »Nun, zum Teufel, wo will er sonst hin?« – »Das ist's ja eben, Herr – ich habe keine Ahnung. Paris ist es nicht, denn Grimaud hat mir mal geschworen, wenn er je nach Paris gehe, für mich etwas an meine Frau mitzunehmen, von der ich getrennt lebe. Jetzt hätte er also ganz bestimmt dieses Versprechen ausgeführt, denn Grimaud denkt an seine Versprechen, das wissen Sie ja. Daran habe ich erkannt, daß es in Wahrheit nicht nach Paris geht.« – »Und wohin sonst, das kannst du mir auch nicht sagen?« rief d'Artagnan. »Nun, das fängt ja wieder gut an. Adieu!« Er riß sein Pferd herum und sprengte von dannen.

 

»Sollte Athos wirklich auf die Reise gegangen sein? Er hat den Teufel mit seiner ewigen Geheimniskrämerei! Vielleicht kann ich ihn für meine Zwecke doch nicht brauchen. Ein schlauer Kopf, ein andauernder Geist – das ist's, was ich brauche, und das finde ich nur in einem gewissen Pfarrhause zu Melun. Also auf, dorthin. Vier und einen halben Tag zu reiten. Doch das macht nichts, es ist ja schönes Wetter.« –Vier Tage später traf er denn auch in Melun ein. D'Artagnan pflegte unterwegs nie in geringfügigen Dingen um Auskunft zu fragen, und solange er sich nicht völlig verirrt hatte, verließ er sich stets auf seinen oft bewährten Scharfsinn und auf seine dreißigjährige Erfahrung. Er fand das Pfarrhaus sogleich, denn die Häuser erkannte er an ihrem Aeußern ebenso sicher wieder wie die Menschen. Aus dem Erdgeschoß erscholl ein Summen von Stimmen, als wenn Kinder das Alphabet buchstabierten, und eine tiefere Stimme schien ihre Fehler zu korrigieren. Diese Stimme erkannte d'Artagnan; er ritt heran, steckte den Kopf durch das Weinlaub am Fenster und rief: »Guten Tag, lieber Bazin!«

Ein kleiner dicker Mann mit breitem Gesicht und einer Tonsur auf dem Haupte, fuhr von seinem Platze in die Höhe, als wenn eine Nadel ihn gestochen hätte. »Sie hier?« rief er erstaunt, »Herr d'Artagnan?« – »Ja, ich bin's. Wo ist Aramis oder vielmehr Chevalier d'Herblay oder noch richtiger, der Herr Generalvikar?« – »Ihro Gnaden sind in ihrer Diözese,« antwortete Bazin.

»Was? Aramis hat eine Diözese.« – »Freilich! Warum sollte er keine haben?« – »Er ist also jetzt Bischof?« – »Na, gnädiger Herr, wissen Sie denn das nicht?« – »Wir Leute vom Degen wissen wohl, wenn jemand Marschall wird, aber wir fragen nicht danach, wer Bischof und wer Papst wird.« – »Still! still!« rief Bazin, »reden Sie nicht so vor den Kindern hier.«

Die Kinder hatten inzwischen Herrn d'Artagnan umringt und staunten sein Roß, sein Schwert und seine Sporen an. Bazin jagte sie mit Schlägen in die Schulstube zurück. – »Wo ist die Diözese deines Herrn?« rief der Haudegen. – »Monseigneur René ist Bischof von Vannes.« – »Wer hat ihm denn dazu verholfen?« – »Der Herr Oberintendant, unser Nachbar.« – »Was? Fouquet? Also steht sich Aramis gut mit ihm?« – »Er hat dort alle Sonntage gepredigt und ist später mit dem Herrn Oberintendanten immer auf die Jagd gegangen?« – »So, so! Und nun ist er in Vannes? Warum bist du nicht mit deinem Herrn gegangen? Wie lange ist er dort?« – »Seit einem Monat. Ich habe hier doch so viel zu tun. Da kann ich doch nicht weg.« – »Wie? Bist du denn gar Priester geworden?« – »Noch nicht. Da nun aber der gnädige Herr fort ist, wird's damit nicht mehr lange dauern,« antwortete Bazin, sich die Hände reibend.

»Laß mir was zum Abendbrot zurechtmachen, Bazin!« rief d'Artagnan, »und besorge meinen Gaul, wenngleich ihr hier wohl nicht mit Pferden umzugehen versteht.« – Bazin betrachtete das Pferd ziemlich geringschätzig. – »Der Herr Oberintendant,« antwortete er, »hat vier Pferde aus seinem Marstall hergeschickt, die alle mehr wert sind als Euers hier. Junge!« rief er einem seiner Schüler zu, »lauf und sag' der Köchin, sie solle ein kaltes Huhn herrichten.« – Diese Worte besänftigten den Soldaten wieder, der über die Beleidigung seines Rosses schon außer sich geraten wollte. »Sieh da!« sagte er, »wenn der Herr Oberintendant so viele Pferde hat, so hat er wohl auch Musketiere.« – »Jedenfalls hat er Geld genug, alle Musketiere des Königs zu unterhalten,« versetzte Bazin prahlerisch.

Da das Abendessen inzwischen fertiggemacht war, trat der Reitersmann in die Küche und ließ sich's gut schmecken. Während des Essens versuchte d'Artagnan, Bazin über alles mögliche auszufragen, aber er hatte damit wenig Glück. Bazin war auf seiner Hut und ließ die Neugierde seines Gastes unbefriedigt. Obwohl das Bett, das ihm angewiesen wurde, in seiner Art fast noch härter war, als das gebratene Huhn gewesen, so fürchtete sich d'Artagnan doch ebensowenig davor, sondern streckte sich behaglich aus und brauchte nicht mehr Zeit dazu einzuschlafen, als er zum Abnagen des letzten Hühnerknochens gebraucht hatte.

Am andern Morgen war d'Artagnan bei früher Stunde schon wieder unterwegs. Sein nächstes Ziel war Pierrefonds, wo er endlich einen Freund und eine volle Geldkiste zu finden hoffte. Er ritt an dem Schlosse des Herzogs Ludwig von Orléans vorbei – einer mittelalterlichen Burg mit dicken Mauern und hohen Türmen – und erblickte am Morgen des dritten Tages am Ufer eines großen Teichs und am Saume eines herrlichen Waldes das Schloß seines Freundes Porthos. Als er in den Wald hineingeritten war, sah er wenige Schritte vor sich einen großen Kasten, der sich auf zwei Rädern bewegte und von zwei Lakaien geschoben, von zweien gezogen wurde. Der unförmige Gegenstand, der sich darin befand, war zunächst nicht zu erkennen, dann glaubte d'Artagnan, es sei ein Faß, und dann, als er noch näher kam, ward ihm klar, daß es ein fabelhaft aufgedunsener Mensch war, der das ganze Innere ausfüllte. Und dieser Mensch war Mousqueton – Mousqueton mit weißen Haaren und rotem Gesicht.

»Wahrhaftig, das ist ja Mousqueton!« rief er aus. »Heda, Freund!« – »Was?« schrie der Dicke. »Herr d'Artagnan! Haltet an, Kerle! O, verehrter Herr! Ich kann Ihre Knie nicht umfassen, ich bin ein Krüppel geworden.« – »Das bringt das Alter mit sich, Freundchen.« – »Nein, ich hab's vom Herzeleid!« stöhnte Mousqueton. »Ach, meine Beine wollen mich nicht mehr tragen.« – »Du fütterst sie zu gut.« – »Jenun, ich habe für meinen Körper stets getan, was in meinen Kräften stand. Ich bin nie einseitig gewesen. Aber wie wird sich der gnädige Herr freuen, daß Sie mal wieder an ihn gedacht haben! Das muß ich ihm gleich schreiben.« – »Was? Schreiben? Also ist er nicht hier? Wo ist er denn? Weit weg oder in der Nähe?« – »Das weiß ich nicht,« antwortete Mousqueton.

»Potzblitz! welch ein Pech! Der Stubenhocker Porthos ist ausgeflogen!« rief d'Artagnan und schlug sich auf den Schenkel. – »Allerdings. Unser Herr pflegt selten auszugehen, aber wenn man von einem Freunde aufgescheucht wird –« – »Von wem denn?« – »Von Chevalier d'Herblay.« – »Was du sagst! Aramis hat Porthos aufgescheucht? Wie ging denn das zu?« – »Lassen Sie sich erzählen,« berichtete Mousqueton, »Herr d'Herblay hat an den gnädigen Herrn einen Brief geschrieben, der ihn ganz außer Rand und Band gebracht hat. Das war vor etwa acht Tagen. Er schlug förmlich um sich – na, und Sie wissen ja! Ueberhaupt jetzt! er ist auch nicht mehr so gut auf den Beinen, da hat sich alle Kraft in die Arme gezogen –« – »So daß er also noch jetzt einen Ochsen zu Boden schlagen kann, wie früher.« – »Ganz recht. Kaum hatte der gnädige Herr den Brief gelesen, so schrie er: ›Geschwind, meine Pferde! Meine Waffen!‹« – »Dann hat es sich wieder um ein Duell gehandelt,« meinte d'Artagnan. – »Mit nichten. Der Brief enthielt nur die Worte: ›Wenn Sie noch rechtzeitig vor der Tag- und Nachtgleiche eintreffen wollen, lieber Porthos, dann wird es nun Zeit, daß Sie sich auf den Weg machen.‹«

»Hm!« brummte d'Artagnan, »dann scheint es ja etwas sehr Dringliches gewesen zu sein. Ob er wohl noch rechtzeitig angekommen ist?« – »Das hoffe ich. Unser Herr ist ja kein Freund von Langsamkeit. ›Donnerwetter!‹ rief er, ›was ist das mit der Tag- und Nachtgleiche? Doch einerlei! Der Kerl muß gut zu Pferde sein, wenn er vor mir ankommen will!‹« – »So meinst du, Porthos sei noch zuerst angekommen?« – »Daran zweifle ich nicht. Bessere Rosse als mein Herr hat niemand.« Mousqueton ließ sich von den Lakaien weiterfahren, und d'Artagnan folgte ihm. Unterwegs stellte er noch viele Fragen, aber es war nichts weiter aus Mousqueton herauszuholen. D'Artagnan schlief in dieser Nacht in einem vortrefflichen Bette. Am andern Tage verließ er denn nun auch Pierrefonds, ohne dort seinen Zweck erreicht zu haben. Und jetzt wußte er nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. Gesenkten Hauptes saß er zu Rosse. »Keine Freunde mehr – keine Zukunft mehr!« brummte er vor sich hin. »Alles vorbei! Das Alter kommt, die Jugend ist heidi. Der Tod streckt seine Hand nach mir aus.« Der Gaskogner bebte, so männlich er auch war. – »Ah bah!« rief er auf einmal, spornte sein Roß und schlug einen Galopp an. »Nach Paris!« – Schon am folgenden Tage kam er dort an. Seit er es verlassen, waren zehn Tage verstrichen.

7. Kapitel. D'Artagnans große Idee

Der ehemalige Leutnant stieg vor einem Kolonialwarenladen in der Rue des Lombards ab. Ein stattlicher Mann, der an der Kasse stand und das Geld der Kunden entgegennahm, stieß bei seinem Anblick einen Schrei freudiger Ueberraschung aus. – »Sie sind's, Herr Chevalier!« – »Guten Tag, Planchet!« antwortete d'Artagnan, eintretend. »Schick das Gesindel da weg, ich muß mit dir reden.« Mit diesen Worten meinte er die Laufburschen und Ladendiener, die im Geschäft die Bedienung der Kunden besorgten. – »Heda!« befahl Planchet, »einer besorgt das Pferd des Herrn, einer richtet ihm das Zimmer her, und einer deckt den Abendtisch! Euer Gnaden müssen sich mit dem Gespräch schon noch ein wenig gedulden, ich kann den Laden nicht verlassen,« setzte er hinzu, sich an den Reitersmann wendend. »Um was handelt sich's denn?« – »O, um etwas sehr Angenehmes, gib dich zufrieden.« – »Das freut mich zu hören.« Und Planchet atmete tief auf. Dann widmete er sich wieder dem Publikum. – D'Artagnan, auf einer Kiste sitzend, betrachtete seinen früheren Diener. Der pfiffige Planchet war ziemlich dick geworden, aber sein Gesicht hatte noch immer die charakteristischen Zeichen der Schlauheit, Habgier und Beharrlichkeit, die das überwuchernde Fett nicht zu verwischen vermochte.

Endlich führte der Kaufmann seinen ehemaligen Herrn in sein Zimmer und bot ihm dort ein einfaches, aber trefflich zubereitetes Mahl an. Dazu gab es Anjouwein, welche Sorte d'Artagnan ja von jeher am liebsten trank. – »Ehemals, Herr Chevalier,« sagte Planchet, eingießend, »trank ich Ihren Wein; nun macht es mich glücklich, Sie den meinigen trinken zu sehen.« – »Und ich hoffe, ihn noch lange trinken zu können,« antwortete d'Artagnan. – »Sie sind also beurlaubt?« – »Sogar verabschiedet.« – »Nicht mehr im Dienst? Und der König?« – »Muß ohne mich fertig werden. Doch nun höre mich an. Ich habe dir was zu sagen. Zuerst von Geschäften! Was macht denn unser Geld?« – »O, das steckt noch immer im Geschäft und bringt neun Prozent. Davon gebe ich Ihnen sieben. Bringen Sie frisches?« – »Nein, hast du denn welches nötig?« – »Gott bewahre! Alle Leute wollen jetzt ihr Geld bei mir anlegen. Ich mache nämlich nebenbei noch Bankgeschäfte. Das rentiert sich. Doch von welcher Angelegenheit wollten Sie denn sprechen?«

D'Artagnan kraute sich im Schnurrbart. »Das ist eine lange Geschichte, Freund, und auch schwer zu erzählen,« begann er. – »Handelt sich's um eine Kapitalsanlage?« – »Ja.« – »Und ist was dabei zu verdienen?«

»400 Prozent.« – Planchet schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Flaschen tanzten. – »Jeder steckt 20 000 Livres ins Geschäft,« fuhr d'Artagnan fort. – »Das wäre Ihr ganzes Guthaben, Chevalier,« sagte Planchet. »Und was wird das Geld uns einbringen?« – »Für jeden 50 000 Livres,« – »Das wäre ja fabelhaft!« rief der Kaufmann. »Und wo ist denn das Geschäft zu machen?«

 

»Nicht hier, sondern in England.« – »Nun, dort blüht freilich die Spekulation. Was ist es denn für eine Art von Geschäft? Ich bin begierig, das Nähere zu erfahren,« und Planchet rückte an d'Artagnan heran. »Planchet,« begann dieser nach kurzem Schweigen, »du hast doch wohl schon von Karl I. gehört?« – »Ach gewiß, Grimaud hat mir doch erzählt, wie Sie versucht haben, ihn zu retten, wie dann sein Kopf doch fallen mußte, und wie Sie eine halbe Nacht in einem mit Pulver geladenen Schiffe gefahren sind – so etwas vergißt man nicht.« – »Nun, dieser Karl I. hatte einen Sohn.« – »Sogar zwei,« sagte der Krämer. »Den jüngern habe ich mal in Paris gesehen, den älteren aber kenne ich nur dem Namen nach.« – »Um ihn handelt es sich aber gerade, denn er ist jetzt Karl II., König von England.« – »Ein König ohne Königreich,« sagte Planchet in salbungsvollem Tone. – »Ja, und unglücklicher als der ärmste Mann in Paris,« setzte d'Artagnan hinzu.

Planchet zuckte die Achseln. Was ging ihn denn dieser unbekannte Monarch an? Und was hatte das mit der großen Idee des Chevaliers zu tun? Das konnte er nicht begreifen. – »Höre weiter, Planchet,« fuhr sein Herr fort. »Ich sah, wie dieser König als Bettler Hilfe bei Ludwig XIV. suchte und wie man ihm jeden Beistand versagte. Der Stolz, mit dem er seinen Jammer ertrug, hat mir gezeigt, daß er von echt königlichem Sinn beseelt ist.«

»Mein Gott ja,« seufzte Planchet, aber er begriff noch immer nicht, inwiefern das alles mit dem fraglichen Geschäft zusammenhinge. D'Artagnan fuhr fort: »Da bin ich nun auf folgenden Gedanken gekommen. Dieser König ohne Königreich, wie du richtig sagtest, ist ohne Zweifel ein Samenkorn, das, um zu blühen und Frucht zu tragen, nur von der richtigen Hand auf den richtigen Boden gesetzt zu werden braucht. Und das will ich nun tun.«

»Sie wollen ihm also wieder zum Throne verhelfen, wenn ich recht verstehe,« antwortete nun Planchet, und als d'Artagnan nickte, fügte er hinzu: »Haben Sie sich das aber auch reiflich überlegt? In England gibt es jetzt ein von der Nation gebildetes Parlament, das seine eigene Armee hat.« – »Aber wir beide zusammen werden doch eben 40 000 Livres anwenden, um eine Armee ins Feld zu stellen.« – »Eine Armee?« rief Planchet, die Hände zusammenschlagend, als hielte er seinen Herrn für verrückt. »Wie stark soll sie denn sein?« – »Vierzig Mann.« – »Nun, Sie selbst sind zwar so viel wert wie 1000 Mann,« versetzte er, »aber trotzdem sind 40 Mann ein bißchen wenig gegen 40 000. Da verlieren wir gleich die erste Schlacht.« – »Auf eine Schlacht wollen wir uns ja auch gar nicht einlassen,« entgegnete d'Artagnan. »Da du in der neuesten Geschichte Englands ein wenig bewandert zu sein scheinst, wirst du wohl auch wissen, daß Cromwell tot ist, daß sein Sohn das Protektorat niedergelegt hat und ein gewisser General Monk jetzt die erste Geige spielt. Das ist ein sehr geschickter Feldherr, denn er hat sich noch nie geschlagen, und auch ein sehr geschickter Diplomat, denn er spricht nie. Ehe er guten Morgen sagt, sinnt er so lange nach, bis es Zeit ist, guten Abend zu sagen. Und deshalb bewundert ihn nun alle Welt. Nun höre, ich gehe mit meinen vierzig Mann hinüber, packe diesen Monk beim Kragen, schnüre ihn zusammen wie einen Warenballen und bringe ihn nach Frankreich. Hier verlange ich nun für ihn ein Lösegeld von 100 000 Talern oder ich liefere ihn an Karl II. aus. Das letztere erscheint mir als das Bessere, denn wenn Karl diesen Monk nicht mehr zu fürchten hat, steht ihm der Weg zum Throne frei, und er wird die 100 000 Taler mit Kußhand bezahlen.«

»Vortrefflich, Herr Chevalier!« rief Planchet. »Aber es erinnert mich das an die bekannte Bärenhaut, die verkauft werden sollte, ehe sie dem Bären abgezogen worden war. Monk gefangen zu nehmen, ist ein kühnes Unterfangen, das blutige Köpfe kosten wird, soviel Glück Sie auch bisher in derlei gewagten Unternehmungen gehabt haben.« – »Es kann nicht fehlschlagen, Planchet, wenn ich es einmal in die Hand nehme. Für dich ist es ein glänzendes Geschäft, für mich ein famoses Abenteuer, das mir in meinem Alter noch große Ehre machen wird, und darauf bin ich ebenso erpicht, wie du auf Geld.« – »Wenn ich denke, daß ein so toller Plan hier mitten zwischen meinen Backpflaumen und Rosinen geschmiedet worden ist,« sagte Planchet, »dann kommt mir mein Büdchen wie ein Palast vor.« – »Aber hüte dich ja, etwas davon verlauten zu lassen, sonst wandern wir in die Bastille. Monk ist Mazarins Bundesgenosse.« – »Wenn man mit Ihnen zusammen gewesen ist, Herr Chevalier, dann hat man erstens keine Angst und zweitens Schweigen gelernt.«

D'Artagnan nickte, nahm Feder und Papier und schrieb: »Zwischen Chevalier d'Artagnan, Musketier-Leutnant a.D., und Herrn Planchet, Kolonialwarenhändler, wird folgender Vertrag abgeschlossen: Beide begründen eine Geschäftsgesellschaft mit einem Kapital von insgesamt 40 000 Livres, von welchem beide je die Hälfte einzahlen. Das Kapital wird verwendet, um eine von Chevalier d'Artagnan entworfene Idee auszuführen. Herr Planchet kennt und billigt diese Idee und wird Kapital und Zinsen erst dann beanspruchen, wenn Chevalier d'Artagnan aus England zurückkehrt, denn dieses Land ist der Schauplatz des geplanten Unternehmens. Chevalier d'Artagnan hat das freie Verfügungsrecht über das Kapital und kann die ganze Summe in jeder ihm zum Besten seiner Idee genehmen Art verwenden. Wenn jedoch auf irgendeine Weise Karl II. von England wieder auf den Thron gelangt ist, dann zahlt Chevalier d'Artagnan an Herrn Planchet die Summe von...«

Er hielt zögernd inne, und der kluge Kaufmann fiel rasch ein: »Die Summe von 150 000 Livres –« – »Nein, nein,« antwortete d'Artagnan, »zu gleichen Teilen verdienen? Das geht doch nicht gut.« – »Aber wir zahlen doch jeder die gleiche Summe Geldes ein,« meinte Planchet. – »Ja, aber dafür bleibst du hübsch zu Hause, während ich meine Haut zu Markte trage. Sagen wir: du bekommst ein drittel, ich zwei.« – »Na ja, einverstanden.« – Und d'Artagnan schrieb weiter: »Die Summe von 100 000 Livres, während er selbst auf 200 000 Livres Anspruch hat, sofern es ihm gelingt, bei der Ausführung seiner Idee die Summe von 300 000 Livres herauszuschlagen. Aber auch jede andere Summe soll in dieser Weise – zwei Drittel zu ein Drittel – zwischen beiden Gesellschaftern geteilt werden. Zur Beendung des Geschäfts wird die Frist von einem Monat gewährt.«

Diesen Vertrag unterzeichneten beide, dann speisten sie zu Abend, und dann nahm d'Artagnan ein Licht und ging auf sein Zimmer. Er fand in dieser Nacht keinen Schlaf, obwohl er sich, seit er sein eigner Herr war, schon an ruhiges Schlafen gewöhnt hatte. Seine Idee ließ ihm keine Ruhe. Er grübelte darüber nach – er erwog sie nach allen Seiten hin. Und schließlich kam er zu dem Entschluß, nicht vierzig, sondern nur zehn Mann anzuwerben. Erstens, sagte er sich, ist es dann erheblich billiger, und zweitens auch weit ungefährlicher. Wenn jemand mit einer Geleitschaft von 40 Mann erscheint, so erweckt das in kriegerischen Zeiten unter allen Umständen Verdacht. Mit zehn Mann jedoch konnte er unbemerkt auftauchen und verschwinden. Er gedachte sie als bretonische Fischer zu verkleiden, eine Barke zu mieten und dann nach England hinüberzusegeln. Dort wollte er angeben, der Sturm habe ihn verschlagen, und er war der Zuversicht, daß selbst der mißtrauische Monk dann keinen Argwohn schöpfen würde.

Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg nach Calais, und dort gelang es ihm dank seinem Scharfblick und seiner großen Menschenkenntnis in sehr kurzer Zeit unter dem Gesindel von Abenteuerern, Landesflüchtlingen, entlassenen Sträflingen und andern zweifelhaften Menschen, von denen Hafenstädte ja immer angefüllt sind, zehn auserlesene Kerle herauszufinden, die seinen Zwecken entsprachen und mit denen er, wenn er sie gut bezahlte, alles wagen konnte.