Zeit der Könige

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Unschlüssig hockte Nicolas neben seinem Freund, die Arme schlaff herunterhängend. Er getraute sich nicht, weiter in Modorok zu bohren. So vergingen einige Minuten, in denen sie nur schweigend nebeneinandersaßen. „Ich habe immer gewusst, dass es eines Tages so kommen würde“, begann Modorok.

Nicolas schaute ihn verständnislos an.

„Er will, dass ich mich seiner Truppe anschließe.“ Modorok blickte weiterhin starr auf das Wasser. Langsam dämmerte es Nicolas, was sein Freund meinte. Tassilo von Hohnberg hatte die Knappen in Gruppen eingeteilt, damit auch während der Übungen der Kampf mit einem Gegner simuliert werden konnte. Falk war der Führer einer dieser Gruppen. Und erst an diesem Morgen hatte Tassilo Nicolas die Leitung der anderen übertragen, als Basilo von Wardenburg nach Hause gerufen wurde, um das Erbe seines Vaters anzutreten.

Nicolas wartete. So leicht sollte ihm sein Freund nicht davonkommen. Erst bezichtigte er ihn des Hochmutes und nun labte er sich auch noch an der Tatsache, dass es noch andere gab, die Interesse an diesen armen Schlucker hatten! Er schaute zu Modorok hin. Dieser saß am Rand des Ufers, als wollte er sich gleich in die Fluten stürzen. Plötzlich kam Bewegung in ihn. Mit einer geschmeidigen Drehung richtete er sich auf. Erschrocken sprang auch Nicolas auf die Füße. Obwohl er selbst einige Schritte höher am Ufer war, stand ihm der Freund Auge in Auge gegenüber. Nein, dieser Junge ließ sich von niemandem einschüchtern. Noch einmal sah er im Geiste, wie Falk Modorok mit dem Fuß angestoßen hatte. Durch die absolute Gleichgültigkeit, die dieser an den Tag legte, war Falk wütend davon gestapft.

„Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht zu ihm komme, sondern in deiner Truppe bleibe. Ich kämpfe dort, wo es mir Spaß macht und ich gewiss sein kann, nicht plötzlich eine Axt im Rücken zu haben. Das habe ich auch Falk gesagt. Der hatte wenig Verständnis dafür, dass ich mich mit einem Schwächling wie dir abgebe.“ Modorok schaute Nicolas abwartend an, den Blick unter seinen langen Wimpern hervor fast lauernd von unten her auf diesen gerichtet.

Nicolas dachte gar nicht daran, sich provozieren zu lassen. Im Stillen tat er Abbitte, dass er jemals an der Treue seines Freundes gezweifelt hatte.

„Danke“, sagte er schlicht.

Modorok zog seine rechte Augenbraue etwas empor, und die Andeutung eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. „Was, mehr hast du nicht zu sagen. Nur ‚danke’? Mehr wert ist dir meine Loyalität nicht?“ Er packte Nicolas so plötzlich am Genick, dass dem anderen keine Zeit blieb, zu reagieren. Dann zog er dessen Kopf an seinen und schloss die Augen. „Du bist mein einziger wirklicher Freund hier an diesem furchtbaren Ort. Dir folge ich überall hin, und wenn es die Hölle ist. Aber glaube mir, ich tue das nur, weil ich es so will, weil ich weiß, welche Stärke in dir steckt. Verzeih mir, was ich vorhin zu dir gesagt habe. Ich weiß es zu schätzen, dass du dir Sorgen um mich machst, gibt es mir doch das Gefühl, nicht ganz wertlos zu sein. Allerdings muss ich zugeben, dass es mir auch geschmeichelt hat, dass Falk von Schellenberg genug von mir hält, um mich als Kämpe zu werben“, gab er lachend zu. „Komm, lass uns zurückgehen, sonst kommt noch jemand auf den Gedanken, wir hätten hier ein geheimes Stelldichein.“

Markgraf Albrecht stand am Fenster seines Arbeitskabinetts. Schon eine ganze Weile beobachtete er die beiden jungen Männer dort unten am Fluss. Was trieben die dort bloß? Ihm kam der Gedanke der Sodomie, als er den einen den anderen umarmen sah. Doch nein. Erst kürzlich sah er Modorok mit einer der Küchenmägde im Stall verschwinden. Und Nicolas? Zugegeben, der Bursche war fast zu hübsch für einen Jungen. Doch war nichts Weibisches an ihm. Als er kürzlich bei der Ausbildung der Knappen eine Weile zugesehen hatte, um sich über deren Fortschritte zu informieren, sah er den Anflug eines Schattens auf den noch zarten Wangen des Jungen. Also spross ihm doch schon ein Bart. Auch seine Schultern begannen breiter und kräftiger zu werden und sein schön geschwungener Mund wies einen energischen, wenn auch etwas herben Zug auf. Neben Falk tat sich Nicolas als einer der geschicktesten Kämpfer hervor. Nicht mehr lange, und aus dem Jüngling würde ein kräftiger Mann. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, ihn etwas näher im Auge zu behalten. Gute Kämpen gab es nicht so viele. Außerdem befand sich das Lehen des Jungen in seinem Besitz. Ja, es war an der Zeit, die Dinge etwas fester in die Hand zu nehmen. Heinrich bereitete einen weiteren Italienzug vor, um sich zum König von Sizilien krönen zu lassen. Albrechts Bruder Dietrich gab auch keine Ruhe. Sicher würde er die Gelegenheit wahrnehmen, sich beim Kaiser einzuschmeicheln. Noch hatte er nicht aufgegeben, die Markgrafenkrone an sich zu bringen. Und Heinrich vertraute ihm, Albrecht, nicht mehr. Er musste verhindern, dass Dietrich die Gunst des Kaisers erhielt. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Warum sollte er nicht einen so unbedeutenden Jungen wie Nicolas von Lichtenwalde opfern, wenn es dem Wohl der Markgrafschaft diente. Isbert war ein enger Freund Dietrichs gewesen, sicher war der Junge der Familie des Markgrafenbruders genauso treu ergeben, wie sein Vater. Er genoss also Dietrichs Vertrauen. Er würde den jungen Lichtenwalder erpressen. Das Lehen gegen Informationen über die Umtriebe seines Bruders. Ha, es wäre doch gelacht, wenn er nicht genügend Beweise zusammenbringen könnte, um den Bruder wegen Hochverrates vor das kaiserliche Gericht zu bringen. Albrecht gratulierte sich in Gedanken zu seiner genialen Idee. Noch heute würde er mit Hohnberg sprechen. Zufrieden wandte sich der Markgraf vom Fenster ab. Ach ja, fast hätte er vergessen, dass seine Frau nebenan auf ihn wartete. Sie würde schnauben vor Wut, weil er sie von ihrer Andacht abgehalten hatte. Die Scheinheiligkeit dieser frömmelnden Ziege ging ihm schon lange auf die Nerven. Aber Sophie war die Nichte des Herzogs Ottokar von Böhmen. Und dieser war ein zu wichtiger Verbündeter, wenn es darum ging, die Machtpositionen gegenüber dem Kaiser auszubauen, auch wenn er sich zurzeit wieder einmal im Exil befand, da er den Unwillen Heinrichs auf sich gezogen hatte. Entschlossen ging er auf den Eingang zum Nebenraum zu. Er straffte seine Schultern, nahm den Riegel fest in die Hand und öffnete schwungvoll die Tür in das Gemach.

Kapitel 5

Sophie erwartete ihren Gemahl mit sauertöpfischer Miene. Wie konnte er es wagen, sie wie eine Magd zu sich zu befehlen? Wo blieb er überhaupt? Was hielt ihn so lange auf? Als ihr Gemahl eintrat, wollte sie schon zu einer Tirade ansetzen, aber der seltsame Gesichtsausdruck Albrechts hielt sie davon ab.

„Was ist? Hast du ein Gespenst gesehen, weil du so seltsam schaust?“

„Ich wünschte, es wäre nur das gewesen“, antwortete der Markgraf. „Gerade habe ich einen Brief erhalten, den ein Vertrauter mir schickte. Heinrichs Befehle waren wohl eindeutig. Dieser Hurensohn hat es doch tatsächlich gewagt, mir, einem der mächtigsten Fürsten des Heiligen Römischen Reiches einen Aufpasser hinterher zu schicken.“ Albrecht atmete schwer. Ein kaltes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, stahl sich über sein Gesicht. „Es ist ihm nicht gut bekommen.“

Sophie sah ihren Mann entsetzt an. Sie brauchte nicht zu fragen, wem etwas nicht gut bekommen war. Sie kannte das aufbrausende Naturell ihres Gemahls. Dennoch fragte sie leise: „Was hast du getan?“

„Ich habe ihn blenden lassen.“

Sophie keuchte entsetzt auf. „Das wird dir der Kaiser nie verzeihen, Albrecht. Wie konntest du nur? Willst du uns alle endgültig ins Unglück stürzen? Reicht es dir nicht, dass Heinrich dich bereits in Ungnade hat fallen lassen, willst du, dass er dir das Lehen entzieht, dass er dich davonjagt, wie einen räudigen Hund?“

„Das wird er nicht wagen. Noch stehen mächtige Fürsten an meiner Seite. Der sächsische Herzog Bernhard, mein Vetter, Markgraf Otto von der Ostmark…“ Die Stimme Albrechts wurde immer leiser, gerade so, als würde er selbst nicht recht überzeugt sein, dass die Genannten ihm zur Seite stehen würden. Gerade war er noch so voller Optimismus gewesen, dass er die Angelegenheiten in den Griff bekäme, war ihm der Gedanke mit dem jungen Lichtenwalde als die ideale Lösung erschienen. Aber vielleicht hatte er ja später noch „Verwendung“ für den Burschen.

Sophie konnte nicht glauben, was Albrecht ihr da erzählte. Sie hatte ihn gewarnt, sich am Reichsgut zu vergreifen. Doch Albrecht in seinem Jähzorn hatte sich nicht damit zufriedengegeben, mit seinem Bruder um das Erbe zu streiten, nein, er musste auch den Kaiser bedrohen und sich dessen Güter, die sich auf dem Gebiet der Mark Meißen befanden, bemächtigen. Das musste natürlich den Zorn der Reichsministerialen hervorrufen, deren Aufgabe es war, den kaiserlichen Besitz zu wahren und zu verteidigen. Nun hatte Albrecht einen dieser mächtigen Staatsdiener gefangengenommen und blenden lassen. Das würde ihm Heinrich nicht durchgehen lassen. Zudem wurde er auch noch erneut von seinem Bruder bedrängt, der zusammen mit dem Landgrafen von Thüringen vor den Toren Meißens stand und die Stadt schwer attackierte.

Gerade setzte er dazu an, Sophie auch das zu beichten, als es zaghaft an die Tür klopfte. Ein Diener steckte unaufgefordert den Kopf herein und schaute seinen Herrn herausfordernd an.

„Was willst du? Du besitzt die bodenlose Unverschämtheit hier hereinzukommen, ohne dass ich dich dazu aufgefordert hätte. Das lasse ich nicht ungestraft durchgehen.“ Albrecht war kurz davor, vor Wut zu schreien und seine Wachen herbeizurufen, die den Frechling in den Kerker bringen sollten. Auspeitschen lassen wollte er ihn, endlich hatte er etwas, woran er seine Wut abreagieren konnte. Doch kaum hatte er den Mund zum Rufen geöffnet, unterbrach der Diener ihn. „Draußen steht ein Bote. Er kommt vom Bischof von Prag. Er will unverzüglich mit Euch sprechen. Meißen ist erobert. In der Stadt wütet das Chaos.“ So schnell, wie er gekommen war, verschwand der Lakai wieder, bevor ihn Albrecht weitere Fragen stellen konnte.

 

Sophie stieß einen entsetzten Schrei aus. Nun war es geschehen. Alle Welt hatte sich gegen sie verbündet. Was sollte nun werden? Ihre Familie konnte ihr nicht helfen. Sie hatten ihre eigenen Sorgen in ihrem Kampf um die böhmische Königskrone. Und dass jetzt auch noch Bischof Heinrich von Prag in Meißen einmarschierte, zeigte ihr, wie tief der Markgraf beim Kaiser in Ungnade gefallen war.

„Ich werde alle meine Streitkräfte zusammenziehen und meinem Bruder und seinen Busenfreunden entgegentreten.“ Die Stimme des Grafen riss Sophie aus ihren Gedanken.

„Und wie willst du das machen, nachdem wir hier eingeschlossen sind? Willst du deine Flügel ausbreiten und hinausfliegen, um deine Vasallen zu mobilisieren? Oder willst du dich durch den Latrinengraben schleichen, vorbei an den Feinden? Sicher ist der Burggraf auch schon auf Seiten des Kaisers. Oh, Albrecht, wie weit hast du es kommen lassen?“

Wütend drehte Albrecht sich zu ihr um. „Nicht ich war es, der damit angefangen hat, sich um die Mark Meißen zu streiten. Es war meine unselige Mutter. Sie hat sich vom Engelsgesicht meines kleinen Bruders blenden lassen, wollte von Anfang an für ihn die Markgrafenkrone. Sag mir, was habe ich getan, dass meine eigene Mutter mich so hasst? Warum nur hat mein Vater zugelassen, dass sein ältester Sohn so gedemütigt wurde und dem Gespött des Reiches zu Opfer fiel!“

„Vielleicht ist es deine Gier, immer alles besitzen zu wollen, dein Hang, über andere zu bestimmen“, sagte Sophie leise.

Albrecht starrte Sophie überrascht an. So hatte sie noch nie gewagt, mit ihm zu sprechen. Doch die Gräfin ließ sich von seinem Blick nicht beirren. Mit kräftigerer Stimme fuhr sie fort, ihrem ganzen Frust auf Albrecht, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte, freien Lauf lassend.

„Du hättest dich mit deinem Vater friedlich einigen sollen, ihm beweisen müssen, dass du der stärkere, der bessere Sohn bist. Aber nein, du musstest ihn ja gefangen nehmen und einkerkern lassen wie einen gemeinen Dieb. Glaubst du, das hat die Liebe deiner Eltern zu dir zurückgebracht. Nein, nur dein aufbrausendes stolzes Wesen ist schuld daran, dass wir uns jetzt in dieser Situation befinden und alle Welt sich von uns abwendet. Nur dem alten Kaiser Friedrich hast du es verdanken, dass du damals mit dem Leben davongekommen bist. Aber es hätte ihm schlecht zu Gesicht gestanden, seine Pilgerreise ins Heilige Land mit dem Tod eines Grenzfürsten zu beginnen. Auch hatte er keine Zeit mehr für einen Prozess. In seinem Alter zählte jeder Tag, sich auf eine so beschwerliche weite Reise zu begeben.“

Albrecht wollte seine Frau scharf zurechtweisen, doch sie ließ sich nicht beirren. Wie in Trance sprach sie weiter, ihre geweiteten Augen starr auf die Wand hinter Ihrem Gemahl gerichtet. „Du konntest immer noch nicht genug haben. Du musstest dich auch noch nach seinem Tode an deinem Vater rächen und das Kloster schänden, das seine sterbliche Hülle beherbergte. Und statt dir deinen Bruder wohl zu sinnen, hast du ihn aus allen euren gemeinsamen Besitzungen verdrängt und dann auch noch versucht, dir seine Ländereien anzueignen. Bist nicht zurückgeschreckt vor Mord, Gewalt und Krieg. Wieviel Menschen müssen unter deiner harten und ungerechten Herrschaft leiden, wieviel Unglück hast du ihnen gebracht.“

Endlich verstummte sie. Albrecht brachte kein Wort heraus. Wie konnte es nur sein, dass diese Frau, mit der er seit fast neun Jahren verheiratet war, so verbittert war. Nie hatte sie sich beklagt, sich immer seinen Entscheidungen gebeugt. Ewig frömmelnd war sie mehr in der Kirche als in der Burg anzutreffen gewesen, hatte sie sich zur Tugendwächterin des gesamten Hofes aufgeschwungen. Wie konnte er nur so blind gewesen sein. Statt sich diese Frau zu seiner stärksten Verbündeten zu machen, um sich so der Unterstützung ihrer böhmischen Familie zu versichern, hatte er sie einfach ignoriert und als schwach abgetan. Doch dass sie ihm jetzt so die Meinung sagte, zeugte von wenig Schwäche. Aber nun war es zu spät. Er hatte ihre Sympathie längst verloren, wenn überhaupt je besessen.

Albrecht wandte sich ab und schritt langsam zur Tür. „Ich habe keine Zeit für solchen Unsinn. Wenn das hier vorbei ist, werde ich dir sagen, was ich von deiner ach so hohen Meinung über mich halte. Jetzt muss ich mich darum kümmern, mein Land zu verteidigen.“

Albrecht hatte bereits den Türknauf in der Hand, als ihre Stimme ihn innehalten ließ.

„Wenn du klug bist, dann gehst du zum Kaiser und bittest ihn um Gnade. Nur so kannst du vielleicht deine Herrschaft noch retten!“

Der Markgraf stimmte ihr überraschender Weise zu. „Vielleicht hast du recht, Sophie. Ich werde darüber nachdenken. Doch vorher muss ich diesen böhmischen Abschaum aus meiner Stadt vertreiben.“ Damit ließ er sie stehen und ging hinaus, nicht ohne die Tür heftig hinter sich zuzuschlagen.

Sophie verharrte einen Moment wie erstarrt. Diese neuerliche Beleidigung ihrer Familie ließ auch die letzten Gefühle, die sie noch für Albrecht hegte, ersterben. Jetzt sah sie keinen Anlass mehr dazu, sich loyal zu zeigen. Sie wollte sich mit ihrer kleinen Tochter Christina auf die Burg Camburg zurückziehen, eines der Güter, das zu ihrer Morgengabe gehörte.

Noch am selben Abend verließ Sophie mit ihrer Tochter in Begleitung eines kleinen Trosses die Stadt Meißen. Man ließ sie unbehelligt ziehen. Zu ihrer Begleitung gehörte auch Nicolas, von dem sie wusste, dass er mehr zu Dietrich als zu Albrecht stand. Sie fragte ihren Gemahl nicht um Erlaubnis, den Jungen mitnehmen zu dürfen. Durch seine Anwesenheit hoffte sie, unversehrt an den Truppen Dietrichs vorbeizukommen. Nicolas war nicht sehr begeistert gewesen, mit der Markgräfin zu gehen. Auch wenn er am Hofe unter den Sticheleien Falks und seiner Kumpane zu leiden hatten, hätte er es vorgezogen, hier im Kreise seiner Freunde zu bleiben. Doch die anderen ermutigten ihn, nicht zu verzagen.

„Es ist eine gute Gelegenheit, zu erfahren, was am Hof der Markgräfin so vor sich geht. Und bestimmt bist du klug genug und lässt dich nicht in irgendwelche Machenschaften, die Sophie gegen ihren Gemahl ausheckt, hineinziehen“, meinte Ragin.

Nach vier Tagen erreichten sie ihr Ziel. Sophie sollte nicht mehr nach Meißen zurückkehren.

Albrecht erlitt vor den Toren von Meißen eine verheerende Niederlage, die Stadt wurde von den bischöflichen Truppen schwer verwüstet. Albrecht floh auf das Gut einer seiner Vasallen. Von hier aus versuchte er mit den kaiserlichen Ratgebern Kontakt aufzunehmen, um mit diesen eine Verständigung zu erzielen. Doch lehnten sie es ab, selbst irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Albrecht musste also den Staufer in Italien persönlich aufsuchen. Er bestellte für die Zeit seiner Abwesenheit seinen Onkel, den sächsischen Herzog Bernhard und seinen Vetter, Markgraf Konrad von der Ostmark zu den Sachwaltern der Burgen Meißen und Camburg, in welcher sich Sophie noch immer aufhielt. Auch wenn ihn mit Sophie nichts mehr verband, so lag ihm das Wohl seiner Tochter doch am Herzen, denn sie war das einzige Kind, das ihnen noch am Leben geblieben war.

Albrecht traf den Kaiser nicht auf seinen italienischen Besitzungen an. Um dem Winter so weit wie möglich zu entfliehen, war der kränkelnde Monarch bis nach Sizilien gezogen. Tagelang wartete Albrecht darauf, zu Heinrich vorgelassen zu werden. Doch der weigerte sich, den Markgrafen zu empfangen und dieser musste den Hof unverrichteter Dinge wieder verlassen.

Blind vor Wut überquerte er im zeitigen Frühjahr trotz grimmiger Kälte und nahezu unpassierbarer Wege die Alpen. Von seinen Gefolgsleuten forderte er schier unerträgliche Strapazen. Mehr als ein Pferd samt Reiter oder Packtier war in einen steilen Abgrund zwischen den eisigen Felsen gestürzt oder im tiefen Schnee auf immer versunken.

Nach einem Monat erreichte Albrecht Meißen, wo er sich in seiner Burg verschanzte und finstere Pläne schmiedete. Seine Mitmenschen behandelte er immer grober, und schon wegen geringster Vergehen ließ er sie hart bestrafen. Sein Ziel war es, im östlichen Sachsen die Gefolgsleute des Kaisers militärisch zu verfolgen, das Ackerland und die Siedlungen der umliegenden Diozösen zu vernichten und danach alle seine eigenen Burgen und Städte nach der Devise der verbrannten Erde zu zerstören, damit dem Feind nichts mehr in die Hände fiel. Nur Leipzig sollte verschont bleiben, um hier eine starke Bastion gegen seine Gegner zu haben und die Stadt und Burg des Pleißenlandes zum Mittelpunkt des Kampfes zu machen.

Kapitel 6

Burg Meißen

März 1195

Nicolas schaute sich verstohlen um. Die Mauern warfen bereits lange Schatten, als er sich durch das Burgtor, immer an der Wand entlang, in Richtung Eingang zum Palas schlich. Er war fast einen ganzen Tag und eine ganze Nacht geritten. In großer Eile hatte er Camburg verlassen, noch immer die dramatischen Ereignisse, die sich wenige Zeit zuvor ereignet hatten, vor Augen. Obwohl es Ende März war, wehte ein eisiger Wind, der immer wieder dunkle Wolken brachte, aus denen dann ein gefrorener Regen herabprasselte. Nicolas fror erbärmlich und sehnte sich nach einem wärmenden Feuer. Mit Vorfreude dachte er an die alte Berthe und ihre heiße Suppe.

Schnell schlüpfte er durch die angelehnte Tür. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu schließen, um den kalten Wind von draußen fernzuhalten.

Nicolas atmete auf. In der Halle sah er Tassilo von Hohnberg am Ende der langen Tafel sitzen, einsam über einem Humpen Bier seinen Gedanken nachhängend. Bei dem Geräusch der sich nähernden Schritte hob er den Kopf und ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht.

„Nicolas, mein Junge“, rief er erfreut. „Bin ich froh, dich bei guter Gesundheit zu sehen. Niemand konnte sagen, wo du bist, bis mir der kleine Konrad erzählt hat, dass du mit der Markgräfin die Burg verlassen hast.“ Tassilo schüttelte ungläubig den Kopf.

„Wieso bist du bei Nacht und Nebel von hier fort, Nicolas? Der Markgraf hat getobt vor Wut, als er hörte, dass seine Frau Meißen heimlich verlassen und einen seiner Knappen mitgenommen hat.“

Nicolas verbeugte sich ehrerbietig vor seinem alten Lehrmeister. Die Erleichterung, gerade ihn hier anzutreffen, ließen seine angespannten Schultern nach unten sacken.

„Herr Tassilo, ich habe wichtige Nachrichten für den Markgrafen. Doch hatte ich Angst, ihm unter die Augen zu treten. Aber ich muss unbedingt zu ihm. Es geht um die Markgräfin.“ Nicolas schaute ängstlich um sich.

„Was ist es, was du unserem Herrn so dringend sagen musst, Nico? Der Markgraf ist noch nicht im Meißen. Allerdings hat ein Bote bereits seine baldige Ankunft gemeldet. Er ist auf dem Rückweg von seiner Reise nach Italien, wo er zum Kaiser wollte.“

Nicolas ließ sich direkt vor Tassilo auf den Boden sinken und atmete tief durch.

„Nico, was ist los, bist du krank?“, fragte der alte Mann besorgt.

„Nein, Herr, aber erleichtert.“ Nicolas grinste. „Und erfroren und halb verhungert.“

„Ach, mein Junge. Ich bin froh, dass du wohlbehalten wieder hier bist.“ Tassilo nahm Nicolas bei den Armen und zog ihn zu sich hoch auf die Bank.

„Bald werden die Mägde das Abendmahl auftragen. Dann kannst du dich stärken. Emma“, rief er laut, so dass Nicolas erschrocken zusammenzuckte. Doch schon nach wenigen Augenblicken erschien eine dralle Magd in der Halle.

„Bringe dem jungen Herrn einen Becher heißen Wein, Emma. Aber beeil dich, er ist halb erfroren.“ Die Magd knickste und beeilte sich, dem Wunsch des Waffenmeisters nachzukommen.

„Nun erzähl Nico. Kannst du mir sagen, was dich nach Meißen treibt bei Nacht und Nebel? Wieso kommst du ganz allein und anscheinend heimlich zurück?“ Tassilo hob bedeutsam die Brauen.

„Die Markgräfin ist tot“, begann Nico.

„Ach!“, rief Tassilo. „Gott sei ihrer armen Seele gnädig. Und wie ist das gekommen, Nico?“, fragte er.

„Sie ist vor zwei Tagen an einem seltsamen Fieber gestorben.“

„Und ihre Tochter? Hat sie auch das Fieber?“

Mit „Fieber“ bezeichneten die Leute alle möglichen Krankheiten, die man nicht genau benennen konnte. Und so waren es oft die Schwindsucht, Lungenentzündung oder Darmkrankheiten, die die Menschen dahinrafften, ohne dass man es so genau wusste.

 

„Eigentlich hat es niemanden so recht verwundert, denn seit ihrer Flucht aus Meißen ist sie immer sehr melancholisch gewesen und sprach kaum mit einer Menschenseele. Das einzige Wesen, das sie ständig um sich hatte, war ihre kleine Tochter Christina.“

„Und was ist mit der Markgrafentochter geschehen?“, fragte Tassilo mit angehaltenem Atem.

„Ein Vertrauter der Markgräfin hat sie sofort in ein Kloster gebracht, um sie vor möglichen Zugriffen der Feinde des Markgrafen zu schützen“, antwortete Nicolas.

„Das sind natürlich schwerwiegende Neuigkeiten, die du da bringst, Nico. Der Markgraf wird für morgen erwartet. Am besten du bleibst in deinem Quartier bis ich bei ihm war, um ihn zu informieren. Er ist schon so nicht gut auf dich zu sprechen. Wenn du ihm jetzt auch noch die Nachricht vom Tod seiner Frau überbringst, fürchte ich, dass er etwas Unüberlegtes tun wird.“

„Ich danke Euch, Herr Tassilo.“ Nicolas war seinem Lehrmeister dankbar, dass dieser ihn bei seinem schweren Auftrag unterstützen wollte. Die Magd brachte nun auch endlich den heißen gewürzten Wein, den sie alle hier in Meißen so schätzten. Eine halbe Stunde später wurde das Nachtmahl aufgetragen und Nicolas machte sich mit Heißhunger über die einfachen Speisen her. Die alte Berthe freute sich, ihn zu sehen und zwinkerte ihm aufmunternd zu. Tassilo ließ sich von seinem Schützling im Anschluss an das Mahl noch einmal ausführlich von den Vorgängen in Camburg berichten, bevor er Nicolas entließ. Im Quartier der Knappen angekommen, legte er sich in einer Ecke auf einen Strohsack und war auch bald fest eingeschlafen, bevor die Anderen Gelegenheit hatten, ihn nach seinen Erlebnissen der letzten Monate auszufragen.

„Na warte, so kommst du uns nicht davon“, sagte Modorok und grinste die anderen Jungen verschwörerisch an. Doch sie mussten noch bis zum übernächsten Morgen warten, bis ihnen Nicolas von den Ereignissen berichten konnte.

Die Holzläden vor den Fenstern klapperten im eisigen Wind. Es war finster in den Räumen, hatte man die schützenden Fensterläden noch nicht abgenommen. Seit dem späten Herbst des letzten Jahres waren sie nun schon dort, und der Winter wollte in diesem Jahr immer noch kein Ende nehmen. Albrecht saß zusammengesunken in einem Sessel, dessen hohe Lehne ihn vor der Zugluft vom Fenster her schützte. Doch selbst das prasselnde Kaminfeuer vor ihm konnte ihn nicht erwärmen und er erschauerte immer wieder. Die Kälte, die ihn gefangen hielt kam von innen heraus, und selbst die Feuer der Hölle würden ihn wohl nicht erwärmen können.

Am gestrigen Abend war er zusammen mit einigen Getreuen wieder in Meißen eingetroffen. Die Stadt war noch schwer gezeichnet von den Kämpfen mit seinem Bruder und dessen Verbündeten, dem Bischof von Prag. Sie hatten die Stadt geplündert und gebrandschatzt und sich so nicht gerade die Sympathie der Einwohner erworben. Die eisige Ablehnung und Feindseligkeit der Meißner hatte Dietrich auch bewogen, sich während der Abwesenheit des Markgrafen nach Weißenfels zurückzuziehen.

Als Albrecht die markgräflichen Gemächer betrat, hoffte er, dass seine Frau Sophie ihn erwarten würde. Er hatte ihr kurz nach seinem Aufbruch nach Italien einen Brief gesandt, indem er sie bat, ihn in seinem Kampf gegen seinen Bruder und letztlich den Kaiser zu unterstützen. Zu mächtig war ihre Familie in Böhmen, als dass man deren Gewicht und Stimme außer Acht lassen durfte. Außerdem wollte er in Frieden mit ihr leben. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, sie in den neun Jahren ihrer Ehe so gut wie gar nicht kennengelernt zu haben. Immer nur beschäftigte er sich mit dem Streit um sein Erbe, hielt sich nie groß mit Gefühlen auf, bemühte sich nie, Sophie in sein Leben einzubeziehen. Gott hatte es gewollt, dass ihnen nur eine Tochter geblieben war. Diese wurde bereits im zarten Alter von vier Jahren mit Hartmann von Lobdeburg verheiratet. An ihrem zwölften Geburtstag sollte sie aus der elterlichen Obhut entlassen und zu ihrem Ehemann gebracht werden, der bisher selbst noch im jugendlichen Alter war.

Doch Albrecht sollte Sophie nicht mehr antreffen. Wenige Tage vor seiner Ankunft war sie gestorben. Zunächst traute sich keiner so recht, ihm zu erzählen, was geschehen war. Nur wenige Höflinge waren noch in Meißen. Die meisten kehrten schon vor Weihnachten auf ihre Besitzungen und in ihre Dörfer zurück, wo sie die Wiederkehr des Markgrafen abwarten wollten. In so unruhigen Zeiten war es ja auch gar nicht so gewiss, ob er überhaupt wiederkehren würde oder ihn der Kaiser nicht gleich einkerkern oder sogar hinrichten ließ. Dass Albrecht gar nicht bis zum Kaiser vorgedrungen war, davon wusste man in der Mark Meißen nichts.

Letztendlich war es sein Waffenmeister, der ihm vom Tod Sophies berichtete.

Am Morgen rief Albrecht Nicolas zu sich, um sich die letzten Begebenheiten nochmals schildern zu lassen.

„Die durchlauchtigste Markgräfin zog sich nach dem Abendmahl in ihre Gemächer zurück“, begann Nicolas. Er fühlte sich äußerst unwohl, wie er dem Markgrafen gegenüberstand, der völlig emotionslos durch Nicolas regelrecht hindurchstarrte.

„Bei Tisch erschien sie noch recht gesund“, fuhr er fort, „obgleich sie sehr bleich aussah und eine gewisse Unruhe ausstrahlte. So aß sie auch nicht viel und ging nach kurzer Zeit zusammen mit ihrer Tochter zurück in die Kemenate. Doch wunderte sich keiner darüber, da sie nie lange in der Halle blieb.“ Nicolas verstummte und wartete darauf, wie der Markgraf reagieren würde. Nicolas wusste ganz genau, wie wenig ihn Albrecht mochte, und ihm wurde recht unbehaglich zumute, als der Markgraf weiterhin keine Reaktion zeigte. Er konnte ja nicht wissen, dass Albrecht gehofft hatte, seine Frau und sein Kind hier anzutreffen, und dass ihn diese Nachricht so niederschmetterte, dass er zunächst zu keiner Regung fähig war. Mit einem Winken seiner linken Hand schickte er Nicolas hinaus.

Vor der Tür hörte Nicolas regelrecht, wie der Stein von seinem Herzen zu Boden fiel, und so schnell er konnte, rannte er über den Hof in Richtung der Quartiere der Knappen. Tassilo kam ihm schon am Eingang entgegen und sein Lächeln zeigte Nicolas, dass sein Betreuer froh war, ihn unversehrt zu sehen.

„Nicolas, was hat der Markgraf gesagt? Hast du etwas von seinen Plänen erfahren können?“ fragte er aufgeregt.

„Nein, Herr, natürlich nicht. Er hat eigentlich überhaupt nichts gesagt, hat nur vor sich hingestarrt und mich dann mit einer Geste hinausgeschickt.“ Nicolas atmete noch einmal tief durch. „Ich könnte aber nicht behaupten, dass ich darüber recht betrübt bin“, grinste er Tassilo an.

Tassilo nickte nachdenklich. „Ich glaube nicht, dass du wieder nach Camburg gehen wirst. Geh in dein Quartier, Nicolas. Ab morgen wirst du deinen Dienst als Knappe bei Herrn von Auenstein wiederaufnehmen.“ Über Tassilos runzliges Gesicht huschte ein verschmitztes Lächeln. „Der arme Herr Wolfram läuft mit vollkommen verrosteter Rüstung umher, da sie ihm bei diesem feuchten Wetter niemand einölte“, scherzte er. „ Die anderen Ritter haben ihn bereits ausgelacht. Nun lauf los, Nico, vielleicht ist auch noch etwas zu essen in der Küche. Die alte Berthe hat dich schon vermisst.“

Das ließ sich Nicolas nicht zweimal sagen, seit dem frühen Morgen hatte er nichts mehr zu sich genommen. Die Köchin war noch in der Küche. Auf dem gewaltigen Herd köchelte in einem eisernen Kessel eine Hühnerbrühe leise vor sich hin. Immer wieder kam es vor, dass auch außerhalb der festen Mahlzeiten ein hungriger Magen zu füllen war. Vor allem jetzt, bei diesem nasskalten Wetter erwies sich jedermann dankbar, wenn er nach einem langen Ritt oder stundenlangem Wachdienst auf den Zinnen eine heiße Brühe schlürfen durfte. Berthe wusste auch, dass, falls jemand in der Burg erkranken würde, eine heiße Brühe Wunder vollbringen konnte. Und so hatte sie immer einen Vorrat auf dem Feuer kochen.