Zeit der Könige

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Sie begrüßte Nicolas mit einem breiten Lächeln. „Oh. Nicolas, Ihr seid noch da? Wie hab ich Euch in den vergangenen Monaten schon vermisst. Und Euren ewig hungrigen Bauch… ha, ha“, lachte die Köchin.

Verlegen grinste Nicolas zurück. „Berthe, wer sonst soll denn deine Kochkünste loben, wenn ich nicht da bin? Der Schellenberger etwa?“ rief Nicolas.

Berthes Lächeln erstarrte. „Der würde nicht mal einen Braten für den Kaiser loben. Nichts recht machen kann man ihm, immerzu beklagt er sich, dass er nicht seinem Stande gemäß mit Speisen bedacht würde. Dabei ist er auch nur ein Knappe wie Ihr“, grollte sie. „Kommt, setzt Euch, junger Herr“, lud sie ihn an den Tisch.

„Ach Berthe, nimm es nicht so schwer. Jeder andere weiß, wie gut du kochen kannst. Und es ist auch jedem bekannt, was der Schellenberger für ein Mensch ist. Der würde niemanden loben, denn das könnte seinem Stolz schaden“, beschwichtigte Nicolas die alte Frau.

„Ihr habt ja recht, junger Herr. Aber Sorgen mache ich mir schon. Denn was wird denn jetzt werden“, klagte sie, „Eigentlich hängen wir alle vom Wohl und Wehe der Herren ab.“ Sie stellte Nicolas eine große irdene Schüssel mit fetter Brühe hin.

„Deine Künste sind jedem Herrn recht, Berthe“, tröstete der junge Mann sie und schaufelte die Suppe hungrig in sich hinein. Die alte Frau reichte ihm auch einen Teller mit Brot und Käse, und Nicolas langte kräftig zu. Der Tod der Markgräfin hatte ihn nicht weiter belastet, im Gegenteil, er hielt es für eine gerechte Strafe Gottes, dass sie in die Ewigkeit hinübergegangen war. Sie hatte ihm das Leben schwer genug gemacht, seine Dienste ständig in Anspruch genommen und immerzu an ihm herumgenörgelt. Ihr Tod war ihm schon seltsam erschienen, und er war nicht abgeneigt, den Gerüchten Glauben zu schenken, die davon sprachen, dass sie vergiftet worden sei.

Als Nicolas etwas später in sein Quartier kam, erwarteten ihn dort schon ungeduldig die anderen Knappen. „Sag schon, Nico, was ist geschehen in Camburg? Ist die alte Hexe vergiftet worden?“ fragte Modorok respektlos. Die anderen schauten sich erschrocken um, in der Hoffnung, dass keiner der Knechte die losen Worte gehört hatte.

„Sei vorsichtig, Modorok“, warnte Nicolas ihn. „Man weiß nie, wer deine Worte dem Herrn zutragen könnte.“

„Wenn du meinst, dass ich vor Falk Angst habe, muss ich dich enttäuschen. Ich habe ihn in letzter Zeit oft genug im Schwertkampf besiegt, als dass er mir zu nahe treten würde“, begehrte Modorok auf.

„Dir vielleicht nicht, aber vielleicht tritt er nahe an das Ohr des Markgrafen. Und dann Gnade dir Gott!“

„Amen“, kam es leise von den Lippen der anderen Jungen.

„Wo ist der Schellenberger überhaupt?“ wunderte sich Nicolas. „Hat er jetzt ein eigenes Quartier?“

„Nein, Tassilo hat ihn Ritter Wolfger mitgegeben. Der ist nach Altzella, um die Ankunft Albrechts zum Begräbnis der Markgräfin vorzubereiten.“

Nicolas war sichtlich erleichtert, nicht nur um seines Freundes Modorok wegen.

„Nun sag schon, Nico, was weißt du über den Tod der Markgräfin“, drängte Modorok in ihn. Auch die anderen Jungen hatten sich um ihn geschart.

„Da gibt es nichts groß zu erzählen. Sie war halt eines Morgens plötzlich tot“, sagte Nicolas, sich in der Aufmerksamkeit seiner Gefährten sonnend.

„Ohne jegliche Vorzeichen, so ganz plötzlich?“, fragte der jüngere Konrad aufgeregt.

„Na ja, so ganz unerwartet kam es ja eigentlich nicht. Sie hat sich merkwürdig verhalten. Schon das ganze Weihnachtsfest über.“ Er machte eine Pause. Sein Blick schweifte über die Jungen hinweg und zum Fenster hinaus, als würde er in der Ferne die Ereignisse noch einmal an sich vorüberziehen sehen.

„Das Weihnachtsfest war recht traurig einhergegangen“, sagte er unvermittelt. „Nicht so, wie hier, wo an den Feiertagen Spaß und Spiel stattfinden. Die Markgräfin nahm nur mit einigen ihrer Damen das Weihnachtsmahl ein, dann ist sie den ganzen Abend und die halbe Nacht in der Kirche gewesen. Auch den ersten Weihnachtstag hat sie hauptsächlich in der Kirche verbracht. So ging das weiter bis Hochneujahr.“

Nicolas erschauerte. Die Jungen schauten ihn gespannt an. Nach Weihnachten hatte es noch einmal kräftig geschneit und eine dicke Schneedecke die Landschaft rings umher in ein weißes Tuch gehüllt. Nicolas musste damals unwillkürlich an ein Leichentuch denken, so sehr hatte sich Sophie lebendig vergraben. Auch jetzt überkam ihn noch das Grauen, wenn er daran dachte.

„Am meisten hat mir die kleine Christina leid getan“, fuhr Nicolas mit seinem Bericht fort. „Die ganze Zeit über war sie in der Obhut ihrer Damen und kein Kind in der Nähe, mit dem sie hätte spielen können.“

Als das Frühjahr seine ersten zarten Fühler ausstreckte, hatte man die Markgräfin schon beinahe vergessen, so selten ließ sie sich sehen. Ihre Mahlzeiten nahm sie vorwiegend in ihrer Kemenate ein. Sonst brauchte sie wenig und nur einige ihrer vertrautesten Dienerinnen durften zu ihr. Dann begannen die Tage wieder wärmer zu werden, der Winter musste das Land aus seinem eisigen Griff freigeben. Endlich konnte man wenigstens tagsüber die Läden von den Fenstern nehmen und ein wenig Sonne und Tageslicht in die Räume lassen. Das schien auch der Dame gut zu tun, nach und nach erschien sie immer öfter wieder in der Halle, um mit ihren Hofdamen und einigen Rittern ihrer Begleitung die Mahlzeiten einzunehmen. Hin und wieder hörte man sogar das Lachen des Kindes, wenn seine Mutter mit ihm scherzte.

„Im Februar hat die Markgräfin einen Brief von Albrecht bekommen.“

„Woher weißt du das?“, unterbrach ihn Ragin, der ebenso wie Thilo hinter Modorok und Konrad stand.

„Das hat mir ihre Zofe erzählt.“ Nicolas grinste und die Jungen lächelten ihn wissend an.

„Ich weiß zwar nicht, was in dem Brief stand, aber irgendwie hatte es den Anschein, dass von dem Tag an die Gräfin wieder ins Leben zurückkehrte.“

„Und wieso war sie denn dann plötzlich tot?“, wollte es Konrad nun nochmals genau wissen.

„Ja, das war sehr unheimlich“, sagte Nicolas und senkte seine Stimme, als wolle er nicht, dass der Geist Sophies ihn belauschte.

„Eines Abends, es war der 25. März, kam Sophie mit ihrer Tochter in die Halle, um das Abendessen zusammen mit ihren Höflingen einzunehmen. Irgendwie sah sie bleicher als sonst aus. Und das wollte was heißen!“ Nicolas lachte rau auf. „Unruhig und etwas gehetzt, so als hätte sie eine schlechte Nachricht erhalten. Auch aß sie an diesem Abend wenig und zog sich beizeiten in ihre Gemächer zurück. Einige Stunden später hörten wir dann Lärm im oberen Stockwerk. Die Burg ist nicht groß, und so bekam auch bald jeder mit, dass mit der Markgräfin etwas nicht stimmte.“

„Und? Was dann?“, drängte nun auch Thilo, als Nicolas mitten in seiner Erzählung stockte.

„Dann war sie einfach tot“, sagte er tonlos.

„Wie, dann war sie tot? Wie ist sie denn nun gestorben, war sie krank?“ Langsam riss Modorok der Geduldsfaden.

„Mach`s doch nicht so spannend, Nico. Da läuft einem ja eine Gänsehaut über den Rücken“, meinte nun auch Ragin.

„Kurz nachdem wir im Obergeschoß Gerenne und Rufen gehört haben, kam einer ihrer Ritter runter und informierte die anwesenden Höflinge darüber, dass die Markgräfin gestorben sei. Die Dienerschaft munkelte von Gift, das man Sophie verabreicht hätte, doch bestätigen konnte das niemand. Wer würde auch freiwillig zugeben, dass er von so einer Tat weiß. Na, offiziell hieß es jedenfalls, sie sei an einem plötzlichen Fieber gestorben.“

„Und wieso bist du mit der Nachricht nach Meißen gekommen und nicht einer ihrer Ritter?“, fragte nun Modorok.

„Ich gehörte sowieso nicht zum engeren Kreis Sophies. Ihr Hofmeister hat mich wahrscheinlich als entbehrlich eingeschätzt und mit der Todesnachricht nach Meißen geschickt. Sicher hatte er keine Lust, sich selbst dem Unmut von Sophie Ehemann auszusetzen.“ Nicolas zuckte mit den Schultern, als ließe ihn dieser Umstand vollkommen kalt.

„Dennoch war ich froh, dass der Markgraf noch nicht da war. Irgendwie fand ich es ungerecht, dass ausgerechnet ich das Glück hatte, so eine miese Nachricht überbringen zu müssen. Den Rest der Geschichte kennt ihr ja.“

Obwohl die Jungen Nicolas darum beneideten, bei so einem einschneidenden Ereignis dabei gewesen zu sein, waren sie im Grunde genommen froh, dass diese Vorfälle sich in Camburg und nicht in Meißen abgespielt hatten. Das hätte nur ihr gewohntes Leben durcheinandergebracht, und sie wären womöglich mit unliebsamen Fragen behelligt worden. Ansonsten ging ihnen der Tod der Markgräfin nicht sehr nahe, war sie doch immer eine hartherzige Herrin gewesen, die ihnen mit ihrer ewigen Frömmelei auf die Nerven gegangen war. Oft hatte sie sich als Tugendwächterin über die jungen Burschen aufgespielt, und nicht selten erhielt einer von ihnen eine harte Strafe, weil er mit einer Magd im Stroh verschwunden war.

Nicolas sonnte sich noch eine Weile in der Aufmerksamkeit der anderen Jungen. Zu lange war er in den letzten Monaten allein gewesen, und er freute sich über ihre Gesellschaft. Vor allem Modorok und Konrad hatte er schmerzlich vermisst. Noch lange unterhielten sich die drei an diesem Abend über die Ereignisse der letzten Monate. Und sie schworen untereinander, immer zusammenzubleiben und einander zu helfen, möge da kommen, was wolle.

Wenige Tage nach der Ankunft des Markgrafen erschien der Herr von Auenstein eines Abends im Quartier der Knappen. Nicolas staunte nicht schlecht als dieser ihm wortlos zu verstehen gab, dem Ritter nach draußen zu folgen, ohne die anderen auch nur eines Blickes zu würdigen. Modorok schaute seinen Freund mit hochgezogener Braue fragend an. Doch Nicolas zuckte nur hilflos mit den Schultern.

 

„Keine Ahnung, was er will“, sagte er. „Ich bin mir keiner Schuld bewusst“, setzte er etwas kleinlaut hinzu und versuchte einen tapferen Eindruck auf die anderen zu machen. Die Jungen hatten sich in der Zwischenzeit um ihn geschart, denn es geschah nicht oft, dass es etwas Interessantes zu erfahren gab.

„Jetzt lasst mich durch, der Auensteier wartet. Und er ist kein sehr geduldiger Mensch, dass sag ich euch.“

Nicolas schob Modorok beiseite, der daraufhin ein empörtes Schnauben ausstieß.

„Ich komme mit“, verkündete er.

„Nein, Modorok, ich geh allein. Der Auensteiner hat mich rausgerufen. Und jetzt macht endlich Platz.“ Mit den Armen die Menge teilend, drängte er sich Richtung Ausgang.

Wolfram von Auenstein stand mit ungeduldiger Miene draußen auf dem Gang. Als er Nicolas erblickte, fasste er ihn am Arm und zog ihn ein Stück mit sich in eine dunkle Nische.

„Was hast du solange gebraucht?“, herrschte er Nicolas an, der sich hütete, zu einer Verteidigung anzusetzen. „Es darf uns niemand hören. Ich war sowieso von Anfang an dagegen, dass du von der Sache erfährst. Aber Dietrich hat sich einfach nicht umstimmen lassen. Wahrscheinlich hat er einen Narren an dir gefressen.“

Nicolas hatte nicht den blassesten Schimmer, wovon Wolfram sprach. Er hatte den Bruder des Markgrafen seit dem Tod seines Vaters so gut wie nie zu Gesicht bekommen und noch seltener mit ihm ein Wort gewechselt.

„Was soll`s“, fuhr der Auensteiner fort. „Dietrich will, dass du ihn triffst. Er erwartet dich morgen Abend im ‚Schwarzen Schwan’“. Wolfram sah den Jungen prüfend an. Jetzt riss Nicolas der Geduldsfaden.

„Was!“, rief er erstaunt aus. „Was will er von mir?“, fragte er etwas ungehalten, da der Auensteiner in Rätseln sprach. „Ich denke, er hält sich in Weißenfels auf? Wenn Albrecht erfährt, dass er in Meißen ist, wird er seine Häscher ausschicken.“

„Deshalb darf ja auch niemand erfahren, dass du zu ihm gehst“, sagte Wolfram im scharfen Ton. „Ich hoffe, du bist vernünftig genug, und posaunst es nicht überall herum, dass Dietrich wieder hier ist.“

„Ich bin zwar erst fünfzehn Jahre alt, aber kein Trottel“, antwortete Nicolas respektlos.

Der Auensteiner war zu überrascht über die Worte des Knappen, als dass er darauf einging.

„Ich treffe dich morgen Abend mit dem Angelusläuten in der Gasse hinterm Bischofspalast. Wir werden dann nach Einbruch der Dunkelheit in die Stadt hinuntergehen. Aber pass auf, dass dich niemand sieht. Das wäre unser aller Ende.“

„Ich werde da sein“, sagte Nicolas, ohne weitere Fragen zu stellen. „Keiner wird bemerken, dass ich mich davonschleiche. Ich habe gelernt, für manche unsichtbar zu sein“, setzte er bitter hinzu. Vor seinem geistigen Auge erschien das Bild Falks von Schellenberg, der ihm immer noch das Leben hier auf der Burg schwermachte.

„Ich verlasse mich auf dich, Nicolas. Wollen wir hoffen, dass das Vertrauen Dietrichs in dich gerechtfertigt ist. Und nun geh wieder rein, bevor einer der neugierigen Bengel rauskommt und uns belauscht.“

Was dachte der Auensteiner eigentlich? Dass er noch ein unreifes Kind sei, das überall herumplapperte und jedem verriet, worüber die Erwachsenen sich unterhielten? Nicolas war entrüstet. Eine knappe Verbeugung andeutend, kehrte er auf dem Absatz um und ging zurück in den Schlafsaal. Sollte Wolfram ihn doch für ein bockiges Kind halten. Das ist mir egal, dachte er und merkte nicht, dass er sich gerade wie ein solches benommen hatte.

Doch Wolfram schmunzelte nur. Vielleicht lag Dietrich gar nicht so falsch mit der Einschätzung des Knaben. Er war eigenwillig genug und würde sich durchsetzen können. Und dass er das Geheimnis von Dietrichs Anwesenheit in Meißen wahrte, davon war Wolfram jetzt auch überzeugt.

Die Jungen stürmten auf ihren Gefährten ein.

„Was wollte er von dir?“, fragte der jüngere Konrad. Abwartend blickte er seinen Freund an. Die Angst, dass Nicolas fortgehen und ihn allein hier zurücklassen würde, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Doch an so etwas wollte Nicolas jetzt nicht denken. Auch wusste er ja gar nicht, was Dietrich von ihm verlangte. Er registrierte, dass Modorok wortlos neben seiner Strohmatte stand, als würde ihn das alles gar nicht interessieren. Aber Nicolas wusste es besser.

„Nun red schon“, forderte ihn jetzt auch Ragin auf. Die anderen murmelten zustimmend.

„Was glaubt ihr denn?“, fragte Nicolas leichthin. „Denkt ihr, der Auensteiner hat mir eines seiner Geheimnisse anvertraut.“ Er zwinkerte und die anderen lachten.

„Nein, er wollte, dass ich wieder zu ihm ziehe, jetzt, wo seine Töchter fast alle aus dem Haus sind. Seine Frau wünscht, dass ich im Haus bin, da er mit dem Markgrafen so oft auf Reisen ist“, flunkerte Nicolas.

„Na, so häufig kann das dann wohl nicht sein, da du immer hier unter uns weilst, obwohl du sein Knappe bist“, sagte Ragin zweifelnd.

„Ich bin ja auch noch in der Ausbildung“, konterte Nicolas und schaute dabei kurz zu Modorok. Der verstand den Blick seines Gefährten wohl und konnte sich denken, dass mehr dahintersteckte, als der Umzug zum Auensteiner.

„Ich habe ihm aber gesagt, dass ich hierbleiben will“, beruhigte dieser die anderen Jungen, welche nun alle durcheinanderredeten. Damit war für Nicolas die Sache erledigt und er zog sich auf sein Lager zurück. Nach einigen Minuten gesellte sich Modorok zu ihm.

„Du willst doch nicht behaupten, dass der Auensteiner dich das wirklich gefragt hat, Nico?“ Er schaute den anderen forschend an.

„Modorok, ich darf dir nicht sagen, was Wolfram von mir wollte.“ Als sein Freund zu einer Entgegnung anhub, hob er abwehrend die Hand.

„Warte. Es ist wirklich wichtig, dass ich jetzt Stillschweigen bewahre. Das hat nichts mit dir zu tun. Aber es könnte dich in Gefahr bringen, wenn ich jetzt erzähle, was den Auensteiner herbrachte.“ Modorok legte seinen Kopf schief und sah Nicolas zweifelnd an. Was dieser wieder fantasierte! Doch erwiderte er nichts auf Nicolas` Geheimniskrämerei.

„Warte noch einen Tag, dann werde ich dir sagen, was los ist. Ich weiß ja auch noch nichts Genaueres. Also hab Geduld, Modorok“, bat dieser nun seinen Freund. Er konnte sehen, dass seine Zurückhaltung den anderen kränkte, doch durfte er sein Wort dem Auensteiner gegenüber nicht brechen. Nun, er würde bald erfahren, was Dietrich von ihm wollte. Und das würde er seinem Freund mit Sicherheit erzählen.

Den ganzen nächsten Tag wurden die Jungen von Tassilo auf dem Übungsplatz gestrietzt, so dass sie am späten Nachmittag vollkommen erschöpft in die Burg zurückkehrten. Munter durcheinanderredend und sich ihrer Kampftechniken rühmend, fanden sie sich nach und nach im Saal des Palas` ein. Berthe hatte bereits mit den anderen Mägden die Tische vorbereitet. Und bald schlürften die Jungen zusammen mit den Waffenknechten und den einfachen Rittern eine dicke Suppe, die sie aus ausgehöhlten Brotschalen löffelten, welche sie hernach noch essen würden, denn der harte Tag hatte sie hungrig gemacht.

Der Markgraf zog es vor, mit seinen Vertrauten in seinen Gemächern zu speisen und mit Sicherheit würden dort Platten mit Braten und anderen Leckereien aufgetragen, dachte Nicolas bei sich, als er schnell seine Suppe reinschaufelte, da es in Kürze zum Abend läuten würde.

Vor der Kammer Dietrichs hieß Wolfram Nicolas stehenzubleiben.

„Du wartest hier, bis ich dich reinhole.“ Der Auensteiner klopfte dreimal lang und dreimal kurz an die Tür, dann trat er ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten.

Dietrich saß auf einem wackligen Schemel in der Nähe eines Kohlebeckens, dessen Glut im Zimmer einen schwachen Schimmer verbreitete. Unversehens zuckte eine grelle Flamme in der Dunkelheit auf. Der Graf hatte einen Fidibus in die Glut gehalten, um damit eine Öllampe, die auf dem nahen Tisch stand, entzünden zu können. Dennoch erschrak Wolfram vor dem plötzlichen Licht.

„Was ist los, Auensteiner?“, fragte Dietrich belustigt. „Dachtet Ihr, dass Euch hier die Häscher meines Bruders erwarten?

„Nein, nein“, sagte Wolfram schnell, da er Angst hatte, sich lächerlich zu machen. „Ich habe den Burschen hergebracht, Euer Gnaden. Er wartet draußen.“

„Was soll das? Wenn ihn nun jemand vor der Tür rumlungern sieht? Holt ihn schleunigst rein“, sagte Dietrich ungehalten. Der Auensteiner hatte Nerven. Dem Jungen, dessen Vater von Albrecht regelrecht umgebracht worden war, traute er nicht, obwohl der allen Grund hatte, zu Dietrich zu stehen. Doch einen vorwitzigen Wirt, der um die Ecke kommen könnte, sah er nicht als Gefahr an. Gut, dass der alte Anselm ihm wohlgesonnen war und immer ein Zimmer für ihn bereithielt.

Wolfram ging eiligst zur Tür und winkte den Knappen stumm mit einem Kopfnicken herein. Nicolas kam etwas zaghaft durch die Tür. Seit Jahren schon hatte er Dietrich nicht mehr gesehen. Als er ihm gegenüberstand, stürmten all die Erinnerungen ihrer letzten Begegnung auf ihn ein und ließen heiße Tränen in seine Augen steigen. Er schluckte mühsam und verbeugte sich vor Dietrich.

„Na, na, Jungchen“, sagte der Graf mit freundlicher Stimme. „Oder sollte ich lieber sagen, junger Herr?“, versuchte er Nicolas aufzumuntern. „Du bist wahrhaft groß geworden, seit ich dich zuletzt sah. Aber wir wollen jetzt nicht von alten Zeiten sprechen, denn ich merke wohl, wie dir diese Erinnerungen zusetzen.“

Nicolas warf Dietrich einen erstaunten Blick zu. Gab es da wirklich jemanden, der an seinem Schicksal Anteil nahm? Gespannt wartete er ab, was Dietrich von ihm wollte.

„Nun denn, Nicolas. Ich habe dir ein Angebot zu machen. Interessiert es dich, was ich dir zu sagen habe?“ Dietrich wartete die Reaktion des Jungen ab.

„Ich danke Euch, Euer Gnaden, dass Ihr mich nicht vergessen habt“, antwortete Nicolas, nachdem er den Kloß in seinem Hals hinuntergeschluckt hatte. „Und ja, ich bin sehr neugierig darauf, was Ihr mir mitteilen wollt.“

„Gut. Dann höre aufmerksam zu“, fuhr Dietrich fort. „Ich werde in wenigen Tagen das Reich verlassen und nach Palästina gehen. Du weißt sicherlich, dass mein Bruder Albrecht nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen ist.“ Der Graf zögerte einen Moment. Er sah Nicolas bedeutungsvoll an. „Und du wirst ebenso gut wissen, dass unser Gespräch hier nie stattgefunden hat, nein, dass ich nie hier in Meißen war.“

„Natürlich, Euer Gnaden. Ich habe nicht vergessen, wie Ihr zu meinem Vater standet. Ich würde Euch niemals verraten.“

„Ich weiß, Nicolas. Und deshalb habe ich dir folgendes Angebot zu machen. Du begleitest mich ins Heilige Land. Was hält dich hier schon? Was sagst du dazu, mein Junge?“

Obwohl Nicolas einen ähnlichen Vorschlag erwartet hatte, war er angesichts der Tatsache, dass ihn Dietrich für wichtig genug hielt, ihn zu begleiten, zunächst sprachlos. Er würde lieber heute als morgen aus Meißen verschwinden, doch er brachte kein Wort heraus, so sehr überwältigten ihn die Gefühle. Der Graf dachte allerdings, dass Nicolas zögern würde, sein Angebot anzunehmen.

„Und Nicolas, hast du denn irgendeinen Grund, hierzubleiben? Ich könnte so einen wackeren Burschen, wie dich, gut gebrauchen.“

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Euer Gnaden“, hatte Nicolas endlich seine Sprache wiedergefunden. „Natürlich hält mich hier nichts. Ich habe keine Familie, auf die ich Rücksicht nehmen müsste, kein Land und auch sonst nichts und niemanden.“ Er hörte auf zu sprechen, als er sich bewusst wurde, wie einsam doch sein Leben hier in Meißen war. „Aber meine Ausbildung zum Knappen ist noch nicht abgeschlossen, Herr.“ Das war das einzig Wichtige, weshalb er noch in Meißen ausharrte und sein Glück nicht längst woanders gesucht hatte. Doch wo sollte er auch hin. Wie er eben selbst festgestellt hatte, gab es nichts von Wert, was er besaß.

„Du irrst dich, Nicolas“, sagte Dietrich unvermittelt. „das Wichtigste, was du besitzt, ist dein Leben.“ Nicolas wurde etwas unheimlich zumute. Konnte der Graf seine Gedanken lesen?

„Ich weiß, was in dir vorgeht. Auch mir wurde mein Erbe vorenthalten, wenn auch auf andere Art und Weise als dir. Doch im Gegensatz zu dir bin ich in Gefahr, wenn ich die Mark nicht verlasse. Ich hoffe, du weißt, dass es ein großer Vertrauensbeweis ist, dass ich dich habe rufen lassen und du nun mein Versteck hier kennst?“

„Ja, Euer Gnaden, das weiß ich zu schätzen. Doch was wird Herr Tassilo sagen, wenn ich die Burg verlasse?“

„Er wird es erst erfahren, wenn du schon weit weg bist, aus der Reichweite meines Bruders und seiner Häscher. Deshalb darfst du auch zu niemandem ein Wort sagen, dass du weggehen willst. Außerdem werde ich dafür sorgen, dass du deine Ausbildung zum Knappen abschließen kannst. Du willst doch sicher ein ebenso tapferer Ritter werden, wie dein Vater, stimmt`s?“ Dietrich wartete gespannt auf Nicolas` Antwort.

 

Bei der Nennung seines Vaters zuckte Nicolas zusammen. Das Bild Isberts, wie er kalt und tot in seinem Sarg gelegen hatte, erschien vor Nicolas` innerem Auge. Das war der letzte Anstoß, den er noch brauchte. Er konnte an Albrecht für sein Vergehen im Moment keine Rache nehmen, aber so musste er ihm wenigstens nicht mehr zu Diensten sein. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er straffte die Schultern. Dietrich sah ihn erwartungsvoll an. Es lag ihm sehr am Herzen, wenigstens dem Jungen eine bessere Zukunft zu verschaffen, wenn er schon seinen alten Kampfgefährten hatte nicht retten können. Das war er Isbert einfach schuldig.

„Gut“, sagte Nicolas. „Ich gehe mit Euch. Ich vertraue darauf, dass Ihr mir ein guter Herr sein werdet, genauso, wie ich Euch nicht enttäuschen werde.“ Nicolas schaute Dietrich in die Augen. Der Graf schmunzelte innerlich. Doch gefiel es ihm, dass der Junge nicht an falscher Bescheidenheit litt. Er würde sicher ein guter Ritter werden. Und wer weiß, vielleicht war er selbst ja eines Tages Markgraf. Dann würde er froh sein, ihm treuergebene Kämpen zu haben.

„So sei es“, sagte Dietrich. „Dann komme morgen Abend zwei Stunden nach dem Angelusläuten mit dem Auensteiner wieder her.“ Er schaute kurz zu Wolfram, der die ganze Zeit stumm im Hintergrund gestanden hatte, ohne sich einzumischen. Jetzt verbeugte er sich leicht vor Dietrich um seine Zustimmung auszudrücken. „Du bist ohnehin sein Knappe, also wird sich nicht viel ändern“, ergänzte er lachend. „Und nun lauf, Wolfram und ich haben noch einiges zu besprechen.“

Damit wollte sich Dietrich schon abwenden, als Nicolas nochmals das Wort an ihn richtete.

„Euer Gnaden? Eines brennt mir aber noch auf der Seele...“ Er wagte nicht weiterzusprechen.

„Und was ist es, was dich noch davon abhält, aus Meißen schnellstens fortzukommen?“ Er sah, wie der Junge mit sich kämpfte.

„Mein Freund Modorok“, sagte Nicolas zaghaft. „Er ist genauso ein armer Knappe wie ich hier am Hofe in Meißen. Auch er hat keine Familie mehr, sein Vater, seine Mutter, Geschwister, alle sind sie tot. Aber er ist mein bester Freund, mein Seelenverwandter, und ich kann ihn nicht einfach hier zurücklassen, Euer Gnaden. Das würde er nicht überleben.“

Nicolas hielt den Atem an. Bestimmt hatte er sich jetzt jede Chance, seine schreckliche Vergangenheit hinter sich zu lassen, verwirkt.

„Und, ist er vertrauenswürdig?“, fragte Dietrich aber nur.

„Ja, Herr, er würde für mich in die Hölle gehen. Und für alle, die mir am Herzen liegen“, fügte er hinzu.

„Dann bring ihn mit. Aber gerade jetzt ist besondere Vorsicht geboten. Also, zu niemandem ein Wort. Schärfe das deinem Freund ein.“

„Wir werden schweigen wie ein Grab. Ich danke Euch, Euer Gnaden.“

Wolfram von Auenstein wollte Protest erheben. Doch Dietrich winkte ab.

„Ich vertraue dem Burschen. Er wird uns keinen Kuckuck ins Nest holen.“ Damit war für ihn die Sache erledigt. Er nickte Nicolas noch einmal kurz zu, dann war dieser entlassen.

Wahrscheinlich war der Markgraf nun vollends verrückt geworden. Die Nachricht vom Tode seiner Gemahlin hatte auch einen letzten Rest von Anstand und Gewissen, den er noch besitzen mochte, hinweggefegt. Sollten sie ihm doch trotzen, die Ministerialen des Kaisers, sein Bruder Dietrich und die von ihm beeinflussten Ritter und Adligen und nicht zuletzt die Bürger von Meißen und anderer Städte der Markgrafschaft. Er würde sie alle vernichten, mit Feuer und Schwert. Er würde die Weißenfeldschen Besitzungen seinem Territorium einverleiben und seinen Bruder in den tiefsten Kerker, den er besaß, einsperren. Vor einem Brudermord schreckte er doch zurück, aber Dietrich sollte ihm nie mehr in die Quere kommen. Nur ein kleines Hindernis galt es noch zu überwinden. Er musste Dietrichs habhaft werden. Denn dieser hatte sich in der Zwischenzeit ins Heilige Land abgesetzt.