Mond über Beton

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Auch ich hatte Eltern. Auch ich wurde geboren in diese Welt, die einen Abdruck auf einem hinterlässt, in der Sekunde, in der man die Augen öffnet. Und auch, wenn man sie nicht öffnet.

Man muss ordentlich schneiden, sonst reißt das Zeitungspapier. Das ist ja nicht gut, immer schlechter geworden in all den Jahren, selbst die Kreuzberger Kiezzeitungen damals waren besser als die Zeitungen jetzt. Das ist zumindest ihr Eindruck, wenn sie das Blatt zwischen die Hände nimmt. Früher war das dicker, das hätte man als Klopapier benutzen können. Hat man ja auch.

Vielleicht haben sich auch einfach ihre Finger verändert. Das Gefühl für das Dicke, für das Dünne. Sie muss mal Günther fragen, was er dazu denkt. Liest doch Zeitung, seit sie ihn kennt. Oder tut zumindest so. Schon länger hat sie ihn im Verdacht, dass er nur die Werbung anschaut. Drauf reinfallen tut er ja auch. Wie er sich neulich diese goldfarbene Uhr gekauft hat. Dabei haben sie ja nun wirklich kein Geld zum Rauswerfen. Schön, wenn es ihn glücklich macht. Wenn er denkt, dass er so irgendwen beeindrucken kann, seinen Minigolfverein oder am Ende noch Birgit, diese Dampfschratel. Aber ihr kann man nicht so leicht etwas vormachen. Gab’s im Sonderangebot bei Karstadt, ja ja. Die Werbung hatte sie auch gesehen, war eine ganzseitige Anzeige.

Wenn die Zeitung so ausfranst, an den Rändern so einreißt wie jetzt, dann kann man sie nicht gut archivieren. Aber was soll man machen. Und es gibt ja jetzt auch Internet. Ein Laminiergerät, laminieren für die Nachwelt, das wäre mal eine Investition, die das Stadtteilmuseum voranbringen würde. Aber sie haben kein Geld übrig für so was, und überhaupt, wenn, dann müsste sie sich drum kümmern, sonst macht es keiner.

Wo kam denn dieser bittere Gedanke jetzt schon wieder her? Nein, Marianne schneidet weiter, sie nimmt das ja niemandem übel, sie macht es gerne, aber Pause, das sollte sie eben auch mal wieder machen. Ohne ein Innehalten kommt man auch nicht wirklich weiter, aber es hilft schließlich nichts. Im Stadtteilmuseum ist man auf sie angewiesen, und das: nichts Neues eigentlich. Meistens ist es sie, die mehr gibt, das muss man einfach mal so sagen. Was sie ihr ganzes Leben schon gibt, damals für die Bewegung, dann im Ehrenamt im Obdachlosencafé, immer mit Günther, für Günther. Aber jammern, nein, das ist auch nicht ihre Sache. Mit dem Kotti ist es ja dasselbe: Sie erträgt das nicht nur, den Lärm, den Schmutz, ohne Murren, sie kümmert sich auch drum, von Anfang an schon, sie sorgt sich, vielleicht zu viel, aber so ist das eben, wenn man an etwas wirklich hängt.

Marianne schiebt die Brille höher auf die Nase und beugt sich über die Zeitung, schnipselt an der Kante entlang, die Werbung unten, die halbnackte Frau mit geöffnetem Mund, die hat sie weggeschnitten. Den Artikel streicht sie glatt, tut ihn zu den anderen. Lesen will sie ihn lieber nicht noch mal. Sie würde ja gerne sagen: alles Gerede. Und ganz sicher ist auch viel Gerede dabei. Aber dass da so viel kommt, immer wieder. Sie merkt das ja selbst. Merkt, wie die Angst sich einschleicht. Dabei ist sie ja wirklich, nein, ängstlich war sie nie.

Man darf natürlich auch nicht so viel nachdenken über diese Schauermärchen. Und wenn dann das Haus in den Dreck gezogen wird, da wird ihr ganz anders. Wie das schon wieder aussieht auf dem Foto. Ganz schlechter Winkel, das machen die doch extra. Das Kottbusser Tor wirkt irgendwie blutleer darauf. Sie weiß natürlich: Beton hat kein Blut. Aber eine Seele doch schon. Hat sie schließlich gehegt und gepflegt.

Marianne seufzt.

Nicht nachdenken, sonst kommt es zurück, das Unbehagen, leise schon lange nicht mehr. Lieber die nächste Zeitung. Berliner Zeitung, reißerische Überschrift, die Zeitungen werden sich auch immer ähnlicher. Aber vielleicht liegt das auch am Alter, also an ihrem, da wird ja alles ähnlicher über die Jahre, gleicht sich an. Neues muss auch erst mal geschaffen werden. Selbst wenn Günther ein halbes Kilo mehr, oder die Haare auf dem Kopf weniger, nur die auf der Brust nicht, die bleiben und bleiben, die auf dem Rücken werden sogar mehr.

Der Artikel über den Thüringer Wald, der dahinten hervorguckt, den will sie später noch lesen. Eine richtige Erholung ist das, immer wenn sie im Frühjahr die Fahrräder auspacken, raus aus der Stadt, wenigstens kurz. Dass Günther mittlerweile nur halb so viel schafft wie früher – geschenkt. Wenn er bloß nicht, wie letztes Jahr. Dieses Jahr nicht, Marianne, der Rücken, das Geld.

Aber den Berliner Mief wegatmen. Das ist doch auch wichtig. Den liebt sie ja, natürlich, da ist sie zu Hause, aber einmal im Jahr was Grünes, so richtig grün eben, nicht nur Schrebergarten von Freunden, und wenn die Sonne dann durch die Äste. Sie vermisst ja sonst nichts in der Stadt.

Der Küchenwecker klingelt. Herrje, gleich schon sechs?

Marianne faltet die Zeitung zusammen. Den Artikel über den Thüringer Wald legt sie nach links. Da muss Günther ihn gleich sehen, wenn er nach Hause kommt.

Jetzt aber schnell, heute ist sie dran mit Abendessen machen, Günther und sie wechseln sich ab, Gleichberechtigung, das war ihnen immer wichtig, und sie will heute Moussaka machen, das dauert so lange. Rasch noch die Kaffeekanne zurück in die Küche gebracht, ausgewaschen, ins Abtropfgitter gestellt. Die Schere ordentlich an den Haken und dann zurück ins Wohnzimmer, den Tisch abräumen.

Und noch einmal bleibt ihr Blick an dem Zeitungsstapel hängen, der Artikel liegt obenauf, der mit der Schreck-Überschrift.

Sie überlegt, dann lässt sie den Stapel liegen. Sie wird Günther später vorlesen, was sie schon wieder über den Kotti schreiben, dann hat sie das wenigstens nicht alleine im Kopf. Man muss nämlich aufpassen, dass der Kopf nicht zu voll ist mit so was: Sonst fehlt einem am Ende der Blick für die Wirklichkeit.

Dienstag

»Das Ergebnis ist ein städtebaulich reizvolles ›Mischprojekt‹, das bis 1974 verwirklicht sein soll. ›Wir wollen keinen Gewerbeklotz hinstellen, sondern planten nach dem Motto wohnen und arbeiten‹, erklärten gestern die für das Objekt verantwortlichen Geschäftsleiter. Angrenzend an die Skalitzer/Gitschiner Straße sollen – zum Teil in Hochhäusern – 300 familiengerechte Wohnungen, ferner 15000 Quadratmeter Gewerbefläche als ›Beletage‹ der Kreuzberger Industrie geschaffen werden.«

Der Abend, 3.12.1970

Mutlu steht im Flur, und die Jungs sind in der Schule. Wenn die Wohnung leer ist, flüstert sie. Der Wasserkocher geht manchmal von alleine an, ein Rauschen. Gaukelt eine Stimme dazwischen.

Mutlu steht im Flur, und am liebsten würde er das Licht gar nicht erst anmachen, aber dann findet er die Schuhe nicht. Als Ladenbetreiber muss er ordentlich aussehen. Aber dieser Spiegel, den sie damals im Flur hängen haben wollte. Ein riesiger Spiegel. Jetzt ist da der Spiegel, immer noch, und schaut zu, manchmal sieht man Aylin darin oder die Jungs. Früher standen sie nebeneinander vor dem Spiegel, und sie richtete seine Sachen. Sie wusste immer ganz genau, wie das aussehen sollte. Sie: Hier muss das Hemd rein, da raus, hier hochgeschlagen, da runter. Er: Wie du willst. Alles, wie du willst.

Was sieht der Spiegel jetzt? Einen Mann, einen Schatten, der sich selbst im Spiegel nicht mehr findet.

Am besten wäre, er würde den Spiegel zuhängen. Er tut es nicht, der Jungs wegen. Zwei Jungs sind es, keine Mädchen. Zum Glück keine Mädchen. Mädchen ohne Mutter sind wie Jungs ohne Mutter, nur noch komplizierter.

Mutlu weiß: So geht es nicht weiter. Es ist schon wieder ein Anruf aus der Schule gekommen. Burak geht nicht hin. Barış geht hin, aber, sagt die Lehrerin, er schläft. Der Junge schläft. Sie als Vater, Sie müssen.

Er muss zur Arbeit. Er muss die Planen, den Schlüssel. Die Bestellung. Seine Schuhe sind dreckig, aber außer Yussuf fällt das nie jemandem auf. Frühjahrsdreck, Schlamm, der wenige, der am Kottbusser Tor durch die Steine dringt. Anders kann er sich nicht erklären, wo jetzt schon wieder Dreck herkommt. Wenn es regnet, schwimmt der Platz.

Mutlu macht doch kurz das Licht an, zum Schuhebinden. Der Spiegel glotzt. Spiegel: Wo willst du hin, Mutlu? Mit solch einem verknitterten Gesicht? Zu vielen Nasenhaaren? So genau willst du nicht hinschauen, was?

Mutlu, den Schlüssel schon in der Hand:

Deine Augen, Hilal, sind wunderschön in diesem Licht.

Meine Geschichte hat zwei Väter.

Meine Väter: zwei weiße Männer. Saßen nachts in einem Zimmer, saßen tags in einem Zimmer, zwei Freunde vielleicht, es spielt keine Rolle. Wer gemeinsam so ein Kind zeugt, ist bald schon nicht mehr befreundet.

Ich war ein Wunschkind. Die Zeitungen schreiben heute etwas anderes, schreiben, ich sei schon hässlich zur Welt gekommen, oder tot, meine Väter: zwei Männer, die mit Bauklötzen spielten wie stumpfsinnige Kinder, die ihre Allmachtsfantasien in Papier gossen und dann in Beton, die sich dachten, sie wüssten, wie man Häuser schafft. Wie Menschen leben.

Aber zu Beginn: Man wollte mich, man lobte mich, man liebte mich. Man applaudierte, als sie mich präsentierten. Es waren viele Zuschauer gekommen, im Dezember 1970 in die Kneipe »Die kleine Weltlaterne«. Es wurde noch geraucht damals, die Luft war trübe, dazwischen glimmende Augen und Zigarettenenden. Man schrieb Artikel, in denen meine Geburt verkündet wurde. Man wartete auf mich, freudig. So war das.

So war das wirklich.

Aber das Happy End blieb aus. Die Vorfreude hat sich selbst gegessen und ist am Beton erstickt.

Ich wurde zu spät geboren.

Einfach beschissen ist das. Da hat er die ganze Einstellung fertig, und dann ist da an der Seite dieser Streifen Rosa. Dreimal hat er die Kamera jetzt schon ausgerichtet, mindestens. Das kann doch nicht so schwer sein, dass man nur ihn sieht und den weißen Teppich, genau bis zum Rand, nicht weiter, ohne rosa Wand. Wenn er das hochgeladen hätte – das Internet vergisst ja nie und so.

 

Wenn er Burak wäre, hätte er schon längst was wegen der Wand gemacht. Ist doch egal, wenn baba sagt, dafür ist kein Geld da und schon gar keine Zeit. Wofür hat der kleine Pisser denn seine tollen Kumpels? Wofür zieht der denn sonst kleine Mädchen ab?

Und jetzt hat natürlich er die Scheiße, weil er mit der rosa Wand arbeiten muss. Da bringt es auch nichts, dass Burak über das Rosa was drübergehängt hat und seine Fußballbettwäsche auf dem Bett darunter und der restliche Mist. Sieht man ja doch als Erstes das Rosa. Dabei ist das ein ganz simples Video, Bizepstraining, die Follower warten darauf, wenn er da erst die ganze Playlist vollständig hat, das ist nicht so ein Fit-in-den-Frühling-Scheiß, wie ihn dieser Justin macht, auf den alle so abfahren. Bei ihm sieht man wirklich, wie das geht. Und er labert auch nicht so dumm rum. Hundert Prozent Erfolgsgarantie, mindestens. Das sagt er in jedem Video. Ist ja auch wichtig, immer zu motivieren. Das hat er von Kaan gelernt. Da bleiben die Leute dabei. So gewinnt man Follower und Abos.

Jetzt hat er die Kamera endlich richtig ausgerichtet. Nervt natürlich, dass er so nah ranzoomen muss, damit man Buraks Wand nicht sieht. Da kommen die Armübungen nicht wirklich zur Geltung. Breite Schultern, dafür braucht er breites Format. Wieder etwas rausgezoomt, wieder rosa Ecke.

Barış weiß gar nicht, wie seinen Eltern das passieren konnte. Dass Burak ein kleiner Pisser wird und kein Mädchen, das hätte man doch schon im Bauch merken müssen. Bei ihm ist ja schließlich auch keiner auf die Idee gekommen, seine Seite rosa zu streichen. Aber Burak war ja eh so ein kleines Püppchen, als er zur Welt kam. Oh, ist der süß. Was für lange Wimpern. Scheiß lange Wimpern hatte das kleine verschlagene Ding.

Also noch mal, etwas zoomen, alles startklar, das rote Lämpchen ist an. Jetzt ist zwar was von seinem Bett auf der anderen Seite der Wand zu sehen, aber besser als Rosa.

Barış kämmt sich wieder durch die Haare, rückt die Kette zurecht. Ist die Beleuchtung korrekt? Ja, passt alles.

Was er jetzt macht, hat er noch nicht hundert Prozent drauf, aber er wird immer besser: gucken wie Kaan.

Aufgepasst, Leute, heute zeige ich euch –

Nein, das klang scheiße. Ist nicht einfach, den richtigen Ton zu treffen. Aber wenn man’s einmal raushat. Einfach lässig, einfach lässig gucken, Haare richten, Schultern nach hinten.

Hey Leute, heute zeige ich –

Hey Leute, ich bin Barış und voll die Schwuchtel, und ich zeige euch heute, wie ich meinen –

Verpiss dich, sagt Barış, aber Burak denkt gar nicht daran. Spastet auf seinem Bett rum und glotzt immerzu rüber. Hat sogar die Tür offen gelassen. Man hört, wie irgendwer im Hausflur einen Trolley über den Boden zieht.

Mach ruhig weiter, ich stör auch gar nicht.

Ich versuch, hier zu drehen, also verpiss dich.

Gib Kohle, dann geh ich.

Barış greift zur Hantel, der leichtesten, und wirft sie, na klar bringt das Armmuskeltraining was, ein schöner Bogen ist das, sie kracht auf das Bett, direkt neben Buraks Fuß.

Bist du behindert?

Burak hechtet rüber und versucht, ihm die Faust in den Bauch zu rammen, aber Barış kann niemand so leicht was. Er kennt Buraks Tricks. Hat er ihm doch selbst beigebracht. Damals, als er noch nicht so coole Freunde hatte, als er noch heulend auf seiner Mädchenseite saß. Und dann liegt die kleine Ratte schon mit dem Gesicht in den Teppichflusen.

Jetzt verpiss dich endlich.

Ich erzähl’s baba, sabbert Burak in den Teppich und strampelt ein bisschen, und Barış lässt los, und da rennt sie, die Ratte.

Baba, baba, jammert Barış in die Kamera.

Das rote Lämpchen blinkt noch immer. Barış muss seine Haare neu machen. Und wohl ziemlich viel rausschneiden. Toll, wenn er das heute fertigkriegen will, hat er jetzt echt Stress. Aber seine Follower warten zu lassen, das geht gar nicht, da verliert man sofort alle Abos. Weiß er auch von Kaan.

* * *

Stanca steht im Flur und weiß nicht, wie viel Uhr es ist. Die Uhr, die Küchenuhr, ist kaputt, stehengeblieben um drei Uhr fünfzehn in der Nacht, aber jetzt ist es hell, gleißendes Hell von draußen, und im Bad rauscht es.

Jonas hat die Badezimmertür nicht geschlossen. Wohl vergessen, das kleine, sorglose Jüngelchen. Bestimmt aufgewachsen irgendwo, wo man die Badtür offen lässt. Wo man den Vater und die Mutter nackt den Flur entlangwieseln sieht, die nackten Körper voller Stolz. Studierte Eltern bestimmt, so sieht das Jüngelchen aus. Aber selbst ganz große Augen, ganz große Ohren. Schleicht in der Wohnung rum, schleicht um alles herum und glotzt.

Vielleicht sind alle Männer so, bevor sie zu Männern werden. Erst alles glotzend in sich aufsaugen, und dann.

Entschuldigen Sie, wo ist denn das Klopapier?, fragt Jüngelchen.

Ob er auch ein großer Mann sein wird? Ein Mann, der ein Mädchen. Der ein Mädchen hierherbringt?

Alexandru hieß ihre erste Liebe. Auch noch ein Junge damals, auch so schlank, auch so glatte Haut, dunkle Augen, Zottelkopf, Segelohren zwischen den Haaren. Weil er Rumäne war, konnte das nichts werden. Und dann kam der Deutsche. Und dann kam Deutschland, Berlin. Das Kottbusser Tor, erst der Altbau, keine Toilette in der Wohnung, Putz, der bröckelte, Wände, die aussahen, als hätte da jemand. Und dann kam die Wohnung im NKZ, die richtige, die, in der sie sterben wird, wenn es so weit ist. Sie denkt: Wenn ihre Eltern sie früher besucht hätten, nicht erst nach der Wende, als sie schon hier wohnten, im Neubau, dem riesigen mit der frisch gekachelten Toilette, ein echter Luxus, mehrere Zimmer. Die Eltern hätten nicht so geguckt. Die Eltern hätten sich nicht so fremd gefühlt. Die Eltern wären vielleicht auch umgezogen, nach Deutschland Deutschland Deutschland, wären nicht wieder zurückgegangen ins Dorf in der Nähe von Hermannstadt, in dem sonst keiner mehr lebte, alle waren sie ja nach Deutschland gegangen und dort gestorben. Ein Schlaraffenland, hatte der Vater gesagt, das runzelige Gesicht noch verzogen, runzeliger geworden im Angesicht von diesem wunderschönen Beton, diesem Lebensbaum in der Mitte vom Kotti. Schlaraffenland. Mädchen, hier gehörst du hin, hier hast du es gut. Heinrich hatten sie umarmt. Und er hatte sie herumgeführt. Hatte ihnen ein Gästezimmer organisiert. Natürlich, bei ihnen in der Wohnung zu wohnen, das wäre nicht standesgemäß, das machen die Deutschen nicht. Sobald die Eltern weg waren, holte er ihn wieder heraus, den roten Pimmel, so viel Arbeit, leg dich hin, Sabinchen.

Stanca, du kannst mich duzen, sagt Stanca zum Jüngelchen. Dass der so höflich nach einer Rolle Toilettenpapier fragt. Herzallerliebst ist das, der Knabe, blond wie sie früher. Na ja, nicht richtig blond. Die werden ja auch immer brauner, färben sich passend zu Berlin. Genau wie sie, farblos ist sie geworden wie der Beton, den sie so liebte, damals. Neben, auf, unter dem sie sich von Heinrich lieben ließ, sie weiß gar nicht mehr, was sie sich gedacht hat, immer wieder, hach, hatte Heinrich da gelacht, mein kleines Sabinchen, da hab ich mir ja einen jungen Grashüpfer, so ein Mann wie ich.

Stanca, sagt Stanca, ich heiße Stanca.

Jüngelchen guckt ganz herzallerliebst, Grashüpfer, riesige Augen.

Bitte bitte, sagt Stanca, und: Da drüben sind sie. Da irgendwo.

Jüngelchen macht die Tür zu, diesmal richtig, sie hätte ja auch nicht gucken wollen, nicht bei so einem Jungen, wer ist sie denn. Ihre Zeit, längst vorbei. Älter als das Haus ist sie. Damit verwachsen. Wie ein Zehennagel eingewachsen, umschlossen von Haut, poröser Haut. Entzündete Zehennägel, an jedem Fuß hat sie einen. Zum Arzt ist sie ja nie gegangen.

Stanca steht im Flur und weiß nicht mehr, welcher Tag heute ist. Ach doch, ein Klopfen geht durchs Haus, langsam wie der Herzschlag. Heute ist Versammlung.

* * *

Heute ist sie ganz merkwürdiger Stimmung. Irgendwie grau, aber nicht mal das richtig, eher unentschlossen, als wäre selbst diese trübe Farbschicht nur oberflächlich aufgetragen, ist doch eh alles egal, so fühlt sich das an, scheiß auf jede Farbe, obwohl doch sonst alles Sonne ist und blau, Schwäne glücklich im Kanal, nicht am Rand. Am Rand dafür viele Touris, halbnackte Typen, irgendwo ein Ghettoblaster. Sogar die Omas, die mittags im Rewe einkaufen, waren besser gelaunt als sonst, minimal zumindest.

Ist vermutlich so, weil sie heute nicht in Onkel Mutlus Laden gearbeitet hat, sondern nur im Rewe. Da piept es ja ganz anders, und andauernd kriegt sie Telefonnummern von irgendwelchen Hipstern zugesteckt, auf Kassenbons geschrieben und einmal sogar auf eine Packung Deutsches Rind. Sonst käme sie ja auch nicht dazu, ab und an mal woanders zu übernachten. Weg von Onkel Mutlu und den vielen Augen, die im Haus aus den Wänden starren. Aber nach den ersten Dates wird es immer schnell langweilig, darum macht sie so was nicht oft.

Aber so: An den Tagen, an denen sie nur im Rewe arbeitet, fehlt einfach was. Und da kriegt sie dann gleich so eine Wut, wenn am Kanal jemand denkt, er müsste mit seinem Ghettoblaster alle im Umkreis von tausend Metern mitbeschallen. Und dann fängt auch noch irgendein Volldepp an, Saxofon zu spielen. Aber selbst ihre Wut ist ja trübe. Irgendwo reinschlagen wäre jetzt gut, aber den Arm dafür heben: keinen Bock.

Wenigstens ist Burak nicht am Kanal, zumindest hört sie nirgendwo seine Stimme, oder sie überhört sie wegen des Saxofons. Dafür kommt ihr schon wieder so ein Milchknabe entgegen, gemächlicher Schritt in seinem Hipster-Parka, bleibt viel zu lange an ihr kleben mit seinem Blick. Dann erst sieht sie den Kinderwagen. Ach nee. Kind haben und dann trotzdem so gucken. Schaut zu ihr hin und dann wieder weg, während die eine Hand den Kinderwagen schiebt, als wäre der nur ganz zufällig da. Aus dem Kinderwagen ragt steil ein Bein heraus, auf dieselbe Art einfarbig und glatt, wie nur Kinderbeine es sein können, oder Schaufensterpuppen.

Der Typ ist fast bei den Stufen, der Fußweg dort ist eng. Aylin geht etwas schneller, will vor ihm da sein, ein paar Äste knacken. Sie kann jetzt als fleischiges, rosa Etwas ein Gesicht hinter dem Netzstoff des Kinderwagens erkennen.

Der Typ bleibt stehen, genau da, wo der Weg am engsten ist. Vorbei kommt sie jetzt nicht mehr.

Bleibt sie eben auch stehen, patt. Die Reifen des Wagens kratzen auf dem Boden herum, kratzen sich bedrohlich ihrem Fuß entgegen.

Hallo, sagt der Typ. Guckt immer noch so komisch. Er lässt sich Zeit beim Gucken, erst ihren langen, offenen Mantel runter, dann hoch. Dann zu seinem Kinderwagen zurück, als fiele ihm der erst jetzt wieder ein. Das Kind schweigt und glubscht daraus hervor wie eine Porzellanfigur.

Süßes Kind, sagt Aylin. Total schnuckelig.

Ja, äh, sagte der Typ, blonde Fussel von Bart sorgsam über das Gesicht verstreut. Das Kind, eigentlich eher Baby, hinter dem Sichtschutz bläst die Backen auf.

Tja, sagt Blondie.

Tja, sagt Aylin. Bisschen eng hier.

Also wenn ich dann –

Der Junge deutet an ihr vorbei.

Aha, na klar. Als ob sie jetzt zur Seite treten würde. Nee. Aylin rammt die Beine in den Boden.

Weißt du, sagt sie. Ich bin ja selbst, nun ja. Sie fasst sich an den Bauch, streicht einmal darüber, wie man das so macht. Der Typ checkt das natürlich nicht, muss mit seinem Blick erst ein paarmal ihrer streichelnden Hand folgen, hoch und runter, jedes Mal glotzen seine Augen etwas mehr heraus.

Ah, sagt er dann. Oh.

Ich überlege, ob ich – na ja. Ist ja schon schwer, eine Entscheidung. Man könnte es bereuen, wenn man das jetzt. Ist ja schon süß, also so ein – haaach, ich weiß doch auch nicht, was ich –

Ich wusste gar nicht, dass –, sagt der Junge und schaut zu ihrem Bauch unter dem Mantel, dann hoch bis zum Hals, wo der Mantel eine Naht zu ihrem Gesicht bildet, dann wieder zurück auf ihren Bauch.

Also, dass man das bei euch. Dass das erlaubt –

Ja, sagt Aylin. Ihr Bauchstreicheln hat wohl etwas Hypnotisches. Selbst das Baby stiert ohne Wimpernschlag durch den Netzstoff.

Dürfte ich vielleicht mal, fragt Aylin und deutet auf das Netz.

Oh, sagt der Junge. Äh.

Nur um zu schauen, wie –

 

Ja, sagt er. Ja klar.

Das königliche Baby trägt einen Baumwollstrampler und ein kleines Mützchen, das ihm wie eine Bratpfanne auf dem Kopf sitzt, und sabbert ganz unköniglich. Der Junge hält es ihr hin mit ausgestreckten Armen. Das Baby baumelt daran und sagt nichts. Lässt nur die Beine hängen. Dann sperrt es doch den Mund auf, gähnt.

Aylin stopft sich das Baby in die Armbeuge, wiegt es hin und her. Wow, sagt sie. Was da alles dran ist!

Stimmt aber auch wirklich. Und schwer ist das Ding. Dabei aber irgendwie leblos, wie ein Fleischsack, warm zwar und mit beweglichen Knochen, aber ohne Sinn.

Ja, haha, sagt der Typ und streicht sich über den Bart. Nicht mal ein Knistern macht das wie bei einem richtigen Bart. Er kratzt sich hinter den Ohren. Noch blitzen seine Augen.

So mit allem Drum und Dran, sagt sie. Fantastisch!

Der Typ hat sich an ihr festgesaugt mit den Augen, oder an dem Baby, wer weiß das schon.

Aber braucht man das alles?, fragt Aylin.

Wie, äh?, sagt der Typ.

Na ja, gehen kann es ja ohnehin nicht oder, da sind doch die Beine im Großen und Ganzen. Kann man die abschrauben, ich meine, bis sie gebraucht werden?

Ah, haha, sehr witzig, sagt Blondie und lacht hysterisch. Ja, also ausprobiert hab ich’s nicht, aber meine Freundin, also vielleicht, haha, abschrauben, witzig.

Sehr süß, sagt Aylin.

Die Augen vom Baby sind groß und viel zu farblos.

Und jetzt mach mal Ah, sagt sie zu dem Baby. Ah! Aylin bleckt die Zähne.

Das Baby spielt mit und sperrt den Schlund auf.

Äh, sagt der Typ.

Jetzt ist er also da, der Punkt, auf den Aylin gewartet hat. An dem die Stimmung kippt.

Die Augen fallen dem Typ fast heraus aus dem weißen Gesicht. Also ich muss dann, sagt er, tritt unbehaglich einen Schritt nach vorne.

Ja, du hast aber einen Riiiesenmund, sagt Aylin zum Baby. Was da alles reeeinpassen würde.

Das Baby lacht keckernd. Im Babyschlund sind keine Zähne. Fleischig ragt nur ein Vorsprung hinein, wo die mal rauswachsen sollen, eine fleischige Düne vor schwarzem Abgrund. Baby strampelt im Arm, will näher ran an sie mit seinem Schlund. Aylin lässt das Baby in ihren Armen wackeln. Das Baby kreischt vor Vergnügen.

Der Blonde guckt wie ein Fisch.

Aylin lässt ihn noch kurz zappeln. Dann sagt sie:

Hier hast du’s wieder, und drückt dem Typen das Baby in den Arm. Muss los.

Sie lässt sich Zeit, sie spürt genau, wie sein erschrockener Blick ihr folgt. Der Dramatik wegen lässt sie ihre Haare ein wenig im Wind flattern. Sonne auf offenen Haaren, mit diesem Blick dran.

Mehmet sagt ja immer: Wenn du so was machst, Aylin, kriegst du das früher oder später zurück. Aber wenn sie Mehmet das von grad eben erzählt, der lacht sich tot.

Sie muss sich nicht umdrehen, sie weiß auch so, dass Bübchen glotzt, bis sie hinter dem nächsten Busch verschwunden ist. Gleich schon viel besser so ein Tag.

Aylin atmet Straßenluft und lacht.

* * *

Barış zoomt. Ist gar nicht so einfach durch das Fenster. Über die Balustrade hinweg. Vielleicht sollte er rausgehen, sich direkt dort hinstellen. Andererseits, am Ende kommt noch irgendein Spacko auf die Idee, ihm die Kamera abzuziehen. Für die hat er lange genug gespart. Okay, war nicht alles gespart. Er weiß ja, wo Aylin ihr Geld versteckt. Wird er natürlich zurückzahlen, Ehrensache. Wenn das YouTube-Geld kommt, das erste. Wenn er Anzeigen schalten kann, Product Placement. Wenn er 100 000 Klicks hat, oder so, so wie Kaan. Wenn er ein Eightpack hat. Ein bisschen was sehen kann man ja schon.

Barış zoomt ran, erst auf den Alki, der schon wieder auf dem Dach der Bushaltestelle steht und rumgrölt, sein Bier auf Touris runterschüttet, die zurückweichen und dabei so tun, als mache ihnen das nichts aus. Nein, wir machen hier nen Bogen, weil wir sowieso lieber woanders langlaufen wollten.

Haha, Story.

Aber den Alki hat er schon mal hochgeladen, kam nicht so gut an, ist ja im Grunde genommen auch langweilig, wie der da oben rumspastet. Einmal hat er auf die Bushaltestelle gekotzt, die Kotze lief am Glas runter, bröckelige Bahnen, das hatte schon was. Geile Optik, hatte jemand in die Kommentare geschrieben, gerade mit den Stücken an der Parship-Werbung.

Barış zoomt direkt auf Buraks Hinterkopf vor den Hinterköpfen seiner Loserfreunde. Wie die da rumlungern, direkt in der Nähe von irgendwelchen Touris. Manchmal geht einer aus dem Pulk von Buraks Freunden hinüber, redet mit den Hipstern. Aber es passiert nichts.

Wenn nicht bald was passiert, wird das schon wieder kein guter Content. Genau wie das Video vorhin. Hat er immer noch nicht hochgeladen. Rosa Wand und so. Eh egal.

Barış filmt näher an Burak ran und wartet.

* * *

Ario mag das Gefühl, wie die Junkies zurückweichen, wenn er kommt. Tun die eigentlich bei keinem, außer bei der Polizei, ansonsten: stehen da und sabbeln ganz selbstvergessen ihre Geschichten in ihre Gesichter hinein. Dass man daran die Junkies erkennt, das wusste er schon als kleiner Junge. Auf die Wangenknochen muss man achten. Wusste er, bevor er überhaupt wusste, dass das so heißt: Wangenknochen.

Warum bei ihm, weiß er nicht. Merken wohl, dass ihm keiner dumm kommen kann. Dass er schon alles gesehen hat. Hat er natürlich nicht, aber ist egal, kommt drauf an, wie man wirkt. Weitere Lektion seines Lebens: Kommt immer drauf an, wie man wirkt.

Ario steht auf dem Platz, und die Sonne scheint, nur irgendwie hier nicht, Wolke überm Kotti. Ist grell trotzdem, graues Grell, spiegelt sich tausendfach im Beton. Beton ist sein Element. Grau und Beton, das ergibt eine Wörterreihe: grau, Beton, Ario. Ach Quatsch, Alphabet: Ario, Beton und so weiter. Alphabet, da denkt er immer an seine Grundschullehrerin, die einzige, die er noch vor Augen hat, Knoten am Kopf hinten, Brille ohne Rand, weiche Hände auf seinen Schultern. Wörterreihen schreiben, Schönschrift. Ario, Ario, Ario, Beton, Beton, Beton, Cent, Cent, Cent, Dach, Dach, Dach, Elektrozaun, Elektrozaun, Elektrozaun, Flur, Flur, Flur, grau, grau, grau.

Die U-Bahn reihert massenweise Touristen auf den Platz, und trotzdem war er heute noch nicht erfolgreich. Er hat kaum Geld übrig. Die letzten Tage, ein Jammertal. Da hat auch die Aspirin aus dem Café nicht geholfen. Die Ehrenamtliche hat ganz erschüttert geguckt. Wie siehst du denn aus? Soll ich den Arzt?

Bloß nicht, nein, nein, nicht so schlimm, hat er gesagt. Bin das ja gewohnt. Die schluckt echt alles. Nie ist er krank gewesen. Mal abgesehen von dem einen Besuch in der Psychiatrie. Emmendingen. Der ganze Ort ist eine Psychiatrie. Erinnert sich an die weißen Gänge. An das Geschrei nachts am anderen Ende des Korridors. Irgendein Schizophrener. Jesusfantasien in der Mittagspause. Das ist der Herr Jesus, hat seine Mutter mal zu ihm gesagt, Kindheit, Kirche, Kruzifix, ein Holzjesus an der Wand. Das ist der Herr Jesus, genau in diesem Ton, eins der wenigen Dinge, die die Mutter mal gesagt hat und die er noch weiß. Und beim Mittagessen kamen zu ihm dann die Schizophrenen, auserwählt von Jesus, von Maria. Lange weiße Gänge, durch die die Erwählten schlurften, eine Reihe von Heiligen, braune Pantoffeln. Spitze Schuhe durfte man nicht tragen.

Gab eine hübsche Doktorandin in Emmendingen, immerhin. Blond, Grübchen in den Wangen. Einmal hat er sie in den Arsch. Hat sie aufgequiekt. Hat ihm fast eine gescheuert. Aber hat sie dann doch nicht gemacht, sah nur die kleine Hand zucken und der Mund, ein O. Ihm hat noch keine was. Dafür kann er zu gut zwinkern. Ups, ein Versehen. Hübsche Augen hast du.

Setz dich, Ario, hatte die Ehrenamtliche gesagt, ihn an der Schulter auf den Stuhl gedrückt. Setz dich, ich hol dir ein Glas Wasser.

Hatte die Aspirin für ihn drin aufgelöst, ihm Tee gebracht. Da war er natürlich schon weg. Hat nur von der Tür aus gesehen, wie sie dastand, den Pony vorm Gesicht, gebeugt über eine Schüssel, in die sie die Zitrone ausdrückte. Ein paar Kerne flutschten rein, und sie schaute, ob jemand hinguckte, dann pulte sie die Kerne aus der Schüssel heraus mit ihrer bloßen Hand. Dummes Ding. Aber niedlich.