Kittys Salon: Legenden, Fakten, Fiktion

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1.3 KZ- und Wehrmachtsbordelle

Die eigens eingerichteten Bordelle in den Konzentrationslagern und Wirkungsstätten der Wehrmacht könnten gar nicht weiter entfernt sein von den oft primitiven „Nuttenbetrieben“ für „Asoziale“ und einfache Soldaten einerseits und den Plüschsalons der Luxusklasse für die Mächtigen und Reichen − wie der „Salon Kitty“ einer war – andererseits. Dennoch oder gerade deshalb gestatten diese Einrichtungen einen interessanten Einblick in das gespaltene und teils auch schlichtweg masochistisch-sadistische Denken der Nazi-Herren und NS-Schergen über den geschlechtlichen Trieb und Drang des Mannes, der bei aller Ideologie in der Praxis oft nur gewerblich befriedigt werden konnte. Und wie so oft im Staate Hitlers spielten dabei ökonomische Überlegungen der Leistungssteigerung und des Produktivitätsgewinns, der rationalen, jedoch unmenschlichen Maximierung der humanen Ressourcen eine zentrale Rolle.

Heinrich Himmler sah den Bordellbesuch als Ansporn für die Häftlinge, mehr Arbeitseinsatz zu leisten. Bei einer Inspektion des KZ-Mauthausen im Juni 1941 erteilte Himmler den Befehl, dort ein Bordell für Häftlinge einzurichten, was bis Juni 1942 auch umgesetzt wurde. „Für notwendig halte ich allerdings, daß in der freiesten Form den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden“115, schreibt Himmler am 23. März 1942 an den Chef des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes der Konzentrationslager, Oswald Pohl.116

Mithilfe eines Drei-Stufen-Prämiensystems, das bis spätestens 1. Mai 1943 in allen Konzentrationslagern eingeführt werden sollte, wollte Himmler die Lagerinsassen nicht nur über Sachmittel und Geld, sondern auch durch „natürliche Anreize“ zu zusätzlichen Anstrengungen motivieren: „Wenn ich diese Natürlichkeit als Antriebsmittel für höhere Leistungen habe, so finde ich, daß wir verpflichtet sind, diesen Ansporn auszunützen.“117 Dem Leistungssystem zufolge sollte ein Häftling in der ersten Stufe Zigaretten oder ähnliche kleine Belohnungen als Anreiz bekommen; in der zweiten Vergünstigungsstufe sollte er 10-20 Reichspfennige118 pro Tag erhalten; und schließlich sollte zur Auslobung der dritten Prämienstufe „(…) in jedem Lager die Möglichkeit sein, daß der Mann ein- oder zweimal in der Woche das Lager-Bordell besucht“119.

Zwei Wochen später, am 15. Mai 1943, trat dann die von Pohl verfasste „Dienstvorschrift für die Gewährung von Vergünstigungen an Häftlinge“ in Kraft. Die erhöhte Arbeitsleistung, so die Vorschrift, könne nur durch „Führung und Erziehung“ der Häftlinge erreicht werden: „Häftlinge, die sich durch Fleiß, Umsichtigkeit, gute Führung und besondere Arbeitsleistung auszeichnen, erhalten künftig Vergünstigungen. Diese bestehen in Gewährung von 1. Hafterleichterung120, 2. Verpflegungszulagen121, 3. Geldprämien122, 4. Tabakwarenbezug123, 5. Bordellbesuch.“124 Ausschließlich „Spitzenkräften“125 sollte der Bordellbesuch ermöglicht werden; der dafür nötige Antrag konnte beim Lagerkommandanten einmal wöchentlich gestellt werden. Für den Besuch mussten zwei Reichsmark126 in Form eines Prämienscheins bezahlt werden. „Von diesem Betrag erhält die Insassin des Bordells 0,45 Reichsmark, der aufsichtsführende weibliche Häftling 0,05 Reichsmark, der Rest in Höhe von 1,50 Reichsmark ist vorläufig zu hinterlegen (…).“127 Im Vergleich dazu kosteten 20 Zigaretten in der Kantine drei Reichsmark.128

Nach dieser Verordnung wurden 1943 in Auschwitz, Buchenwald129 und Sachsenhausen KZ-Bordelle eingerichtet. 1944 folgten Bordelle in Neuengamme, Flossenbürg, Dachau, Mittelbau-Dora.130 Das Prämiensystem erreichte für die SS den zusätzlichen positiven Effekt der Spaltung der Häftlinge. Es förderte die Anpassung an die KZ-Regeln und verminderte gleichzeitig die Solidarität unter den Insassen.131

An dieser Stelle sei erwähnt, dass die männlichen Häftlinge – darunter meist Kapos, Lager- und Blockälteste –, die zu einem Bordellbesuch zugelassen wurden, sich in guter physischer Verfassung befanden, also leichtere Arbeit verrichteten. Meist waren dies Tätigkeiten in der Küche, dem Friseurbetrieb, dem Krankenbau oder in der Metzgerei, wo für diese Gefangenen zudem die Möglichkeit zum illegalen Tauschhandel bestand. Diese dünne Oberschicht unter den Häftlingen bestand nur aus einer kleinen Gruppe im KZ. Für die restlichen Insassen war das Haushalten mit ihrer Energie, um überhaupt überleben zu können, oberste Prämisse. Im KZ Auschwitz-Stammlager gab es unter den insgesamt 30.000 Häftlingen nur zwischen 100 und 200 Bordellbesucher.132

Abb. 5: Der „Sonderbau“ – so die Sprachregelung der SS für die Bordellbaracken – im Konzentrationslager Dachau, eines von insgesamt zehn KZ-Häftlingsbordellen 1944.

Die in den KZ-Bordellen eingesetzten Sex-Arbeiterinnen wurden vorwiegend aus dem Frauen-KZ in Ravensbrück133 rekrutiert. Die Anzahl der „asozialen“ weiblichen Insassen lag dort mit zwei Dritteln ganz besonders hoch.134

Zunächst versuchte die SS, Frauen auf – wie sie es nannte – „freiwilliger Basis“ für die KZ-Bordelle zu rekrutieren. Informationen über das künftige Kommando gab es hierbei jedoch für die betroffenen Frauen nicht, nur das wahrheitsgetreu klingende und vage, aber – wie sich später herausstellte – nicht eingehaltene Versprechen einer frühzeitigen Entlassung.135 Der im KZ Buchenwald stationierte Standortarzt Gerhard Oskar Schiedlausky sagte 1947 unter Eid aus: „Die ersten Frauen, die nach Mauthausen kamen, sollen das Versprechen erhalten haben, nach halbjähriger Tätigkeit als Prostituierte entlassen zu werden.“136 Die Rekrutierung begann strategisch bei den „asozialen“ Häftlingen, die unter besonders schlechten Haftbedingungen litten. So war für viele Frauen die Einwilligung, ihren Körper in den Nazibordellen zu verdingen, oft die einzige Möglichkeit und Aussicht darauf, das KZ zu überleben. Gab es allerdings zu wenige freiwillige Meldungen, entschied die SS selber, wer ins Bordell kam und wer nicht. Hierzu wurden vorrangig ehemalige Prostituierte rekrutiert, die nach der herrschenden Ideologie ohnehin bereits aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen waren.137 Laut Himmler durften allerdings nur jene „Dirnen“ ausgesucht werden,

(…) bei denen von vorherein [sic] anzunehmen ist, daß sie nach Vorleben und Haltung für ein späteres geordnetes Leben nicht mehr zu gewinnen sind, bei denen wir uns also bei strenger Prüfung niemals den Vorwurf machen müssen, einen für das deutsche Volk noch zu rettenden Menschen verdorben zu haben.138

Häftlingsberichten zufolge arbeiteten in den Bordellen vorwiegend deutsche Frauen139, die wegen Prostitution verhaftet worden waren, aber auch Nicht-Prostituierte. De facto war die Auswahl groß.140 Neben Ex-Prostituierten befanden sich auch solche Frauen darunter, die des häufigen Geschlechtsverkehrs mit wechselnden Partnern verdächtigt worden waren oder die sich einfach nur nicht an die gängigen gesellschaftlichen Konventionen gehalten hatten. Berichten zufolge gab es sowohl weibliche Häftlinge, die sich freiwillig für die Bordellarbeit meldeten, als auch solche, die gegen ihren Willen dazu gezwungen wurden.141

Im KZ Buchenwald etwa lief die Bordellarbeit nach militärischer Ordnung wie am Fließband. Der männliche Häftling musste vor seinem Besuch im Bordell einen Antrag beim Blockältesten einreichen. Wurde dieser in der Häftlingsschreibstube genehmigt, wurde der Bittsteller im Krankenbau untersucht. Beim Abendappell gab die SS die Häftlingsnummern142 der jeweiligen bewilligten Bordellbesucher bekannt, die im Anschluss daran zur Bordellbaracke marschierten und vom Arzt eine Spritze verabreicht oder eine Salbe auf den Penis gestrichen bekamen. Dann wurden ihnen Zimmer zugewiesen, wo sie hintereinander vor der Tür warteten. Die Zeit für die sexuelle Befriedigung war auf 15 Minuten begrenzt. Der Häftling musste die Schuhe ausziehen und die Hose herunterlassen. Sex war ausschließlich in der „Missionarsstellung“ erlaubt. SS-Wachmänner überprüften die festgelegte Vorgehensweise über die an den Türen angebrachten Spione und achteten auf die Einhaltung der Zeitspanne. War diese abgelaufen, wies, warf oder prügelte der SS-Wachmann den Häftling wieder aus dem Zimmer; im Anschluss an den Geschlechtsverkehr bekam dieser vom Arzt erneut eine Spritze verabreicht. Die Frau musste nach jedem Besucher ihre Vagina spülen und sofort den nächsten Häftling empfangen.143

 

Um die Attraktivität der Frauen in den Bordellen zu gewährleisten, gab man ihnen mehr und besseres Essen als ihren Mitinsassinnen. Ihre Sex-Arbeit verrichteten sie in Tages- und Nachtschichten. Sie lebten isoliert und durften sich nicht frei auf dem Lagergelände bewegen. Die Bordelldamen mussten täglich arbeiten, d.h. ihnen wurde der sonst übliche „freie Sonntag“ nicht zugestanden. Wenn eine Frau schwanger wurde, musste sie den Fötus abtreiben. Verhütungsmittel gab es nicht, berichtet eine Zeitzeugin über die kontrollierte Vorgehensweise im KZ Buchenwald und sie ergänzt:

Unsere Bekleidung war ein weißer Faltenrock, kleiner Schlüpfer und ein Büstenhalter. Wir mussten nun jeden Abend acht Männer über uns rübersteigen lassen, innerhalb von zwei Stunden. Das hieß, die konnten rein, mußten ins Ärztezimmer, sich eine Spritze abholen, konnten zu der Nummer, also dem Häftling, konnten ihre Sachen da verrichten, rein, rauf, runter, raus, wieder zurück, kriegten nochmals eine Spritze und gingen wieder.144

Frau W.145 war eine von 16 Bordellfrauen im KZ Buchenwald. Weil sie mit einem Halbjuden liiert war, wurde sie im November 1939 von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet und ins KZ Ravensbrück gebracht. 1943 wurde sie von SS-Leuten ausgewählt und ins KZ Buchenwald in den „Sonderbau“ gebracht. Es folgten zwei Jahre lang sexuell gewaltvolle physische wie auch psychische Demütigungen.146

Abb. 6: Insassinnen des Frauen-KZ Ravensbrück 1939.

Man wird abgestumpft. Das Leben zählt einfach nicht mehr, denn sie hatten einem als Mensch alles kaputt gemacht. Man wird gleichgültig, wie soll ich sagen … es erschüttert einen nichts mehr. Reizlos bis zum geht nicht mehr, die hätten mit einem machen können, was die wollten, wir wußten, wir waren denen ausgeliefert.147

Ihr Selbstmordversuch scheiterte.148

Aus derselben Geisteshaltung heraus hielten es die Nazis auch für wichtig, das Sexualleben der überwiegend jungen Soldaten im Einsatz und an der Front zu überwachen und zu lenken. Dies geschah nicht zuletzt aufgrund der negativen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, während dessen vierjähriger Dauer sich zwei Millionen Soldaten mit einer Geschlechtskrankheit infiziert hatten.149 Denn die Gefahren einer etwaigen „versteckten Prostitution“ bestünden „(…) nicht allein in der stark vermehrten Möglichkeit der Ansteckung150, sondern eröffnen erfahrungsgemäß auch dem fahrlässigen Verrat militärischer Geheimnisse viele Wege“151. Um die Schlagkraft der deutschen Wehrmacht nicht zu beeinträchtigen, galt es daher, in größeren Städten bzw. Ortschaften „(…) geeignete Häuser einzurichten und für die ausschließliche Benutzung durch deutsche Soldaten freizugeben (…)“152.

Solch spezielle Wehrmachtsbordelle wurden beispielsweise in den besetzten Gebieten Polen, Frankreich, Norwegen, Russland, Belgien, Griechenland, Kroatien, Rumänien und der Ukraine errichtet.153 Voraussetzung war eine entsprechende Auslastung, die gemäß der Anzahl an Wehrmachtangehörigen festgelegt wurde. In Paris existierten etwa im April 1941 in der Innenstadt 19 zugelassene Bordelle und in der Banlieue zehn weitere. Verantwortung und Zuständigkeit für diese Etablissements lag bei den jeweiligen Feldkommandanten, die eigenständig über die Notwendigkeit der Errichtung und Schließung von Wehrmachtsbordellen entschieden und eng mit Sanitätsoffizieren sowie Kompanieführern zusammenarbeiteten. Die Ortskommandanten regelten die Überwachung: Jedes Bordell erhielt eine Hausordnung, die auf das Verbot von Lärm und Gewalttaten hinwies und den alkoholischen Ausschank, die jeweiligen Öffnungszeiten sowie den Preis regelte, der zwischen zwei und fünf Reichsmark154 lag, wovon die eine Hälfte für die Bordellinhaberin und die andere für das Bordellmädchen155 bestimmt war. Der Geschlechtsverkehr durfte nur mit Benutzung eines Präservativs, welches von der Bordellinhaberin kostenlos zur Verfügung gestellt werden musste, ausgeübt werden. In einem Kontrollbuch mussten alle Mädchen mit Lichtbild, Namen, Geburtsdatum, Tag ihres Ein- bzw. Austritts aus dem Bordell sowie den jeweiligen Ergebnissen der ärztlichen Untersuchungen registriert sein. Jeder Soldat hatte sich vor seinem Bordellbesuch in der „Sanitätsstube“ zu melden, und seinen Gesundheitszustand − der ihm den Status „gesund“ oder den „Verdacht einer Erkrankung“ bescheinigte − sowie seine Erkennungsmarke vorzuweisen. Nach dem Geschlechtsverkehr musste er dort wieder vorsprechen, die Kontrollnummer der Prostituierten angeben und sich anschließend präventiv gegen Geschlechtskrankheiten behandeln lassen. Einheimischen war der Besuch der Wehrmachtsbordelle nicht gestattet und den Soldaten wiederum war es strengstens untersagt, lokale Bordelle, geschweige denn Straßenprostituierte, aufzusuchen. Vermutlich lag es an der kontrollierten Atmosphäre in den Wehrmachtsbordellen, dass sich die Soldaten oft nicht an diese Vorschriften hielten und sich stattdessen doch lieber heimlich mit den einheimischen Freudenmädchen vergnügten.156

1942 existierten 500 Wehrmachtsbordelle in den besetzten Gebieten.157 Neben der Wehrmacht wurden auch die Mitglieder der Marine sowie der Waffen-SS mit kontrollierten Bordellen versorgt.158

1.4 Die Sexualmoral der Nazi-Oberschicht

Jegliche Liberalisierung des Lebensstils, wie sie in den Zwanzigerjahren praktiziert worden war, wurde nach der Machtergreifung Hitlers – wie beschrieben – weitestgehend abgewürgt. So wandten sich die Nationalsozialisten vehement auch gegen die Kultur der freien Liebe und die – wie es damals hieß – „bolschewistische Verseuchung unserer Sexualmoral“159. Wer mit wem intim verkehrte und vor allem wie man sich in sexuellen und Liebesbeziehungen zu verhalten hatte, sollte nun ebenfalls vom Staat diktiert werden. Nazi-Ideologen betonten, es gebe nur einen einzigen Zweck der Sexualität, nämlich den „der Familie, der Ehe; das ist der, dem Volk gesunde Kinder zu schenken und sie zu gesunden, anständigen deutschen Frauen und Männern zu erziehen“160. Frauen wurden systematisch aus speziellen Berufsgruppen gedrängt161, denn das Ideal einer (linien) treuen deutschen Ehefrau sah nach den Moralvorstellungen der Nationalsozialisten folgendermaßen aus: Sie hatte sich um ein schönes Zuhause und um ihren arischen Nachwuchs zu kümmern. Um diesem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, hatte bereits ab August 1933 jede deutsche verheiratete Frau, die ihren Job aufgab, Anspruch auf eine staatliche Förderung, ein sogenanntes Ehestandsdarlehen, von dem ihr bei jeder Geburt eines Kindes 25 Prozent der Rückzahlung erlassen wurden.162 Besonders kinderreiche Mütter mit mindestens vier Sprösslingen wurden später sogar mit dem „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“ ausgezeichnet.163

Abb. 7: Ehrenkreuz der Deutschen Mutter. Trägerin und Übergabedatum sind unbekannt.

Auf die männliche Bevölkerung war der Druck von außen, möglichst viele Kinder zu zeugen, um nichts geringer: Beamte ohne Nachwuchs galten als Saboteure und eine Lehrstelle war oft nur in Verbindung mit dem Versprechen einer Heirat am Ende der Ausbildungszeit zu ergattern.164 Werte wie Liebe und geistige Gemeinschaft zwischen Eheleuten wurden dem primären Zweck der Fortpflanzung und Nachwuchssicherung untergeordnet.165 Der Familienrechtsausschuss der Akademie für deutsches Recht formulierte 1936 den Begriff Ehe als

(…) die von der Volksgemeinschaft anerkannte, auf gegenseitige Treue, Liebe und Achtung beruhende dauernde Lebensgemeinschaft zweier rassegleicher, erbgesunder Personen verschiedenen Geschlechts zum Zweck der Wahrung und Förderung des Gemeinwohls durch einträchtige Zusammenarbeit und zum Zweck der Erzeugung rassegleicher, erbgesunder Kinder und ihrer Erziehung zu tüchtigen Volksgenossen.166

Geburtenförderung und Gebärverbot gingen demnach Hand in Hand, denn dass sich die Fortpflanzung lediglich auf die arische Bevölkerung beziehe, das formulierte Hitler unmissverständlich in „Mein Kampf“: „(…) als ob die Behandlung seines Körpers jedes einzelnen Sache selber wäre. Es gibt keine Freiheit, auf Kosten der Nachwelt und damit der Rasse zu sündigen.“167 Eine Vermischung mit „Nicht-Ariern“, „Asozialen“ oder „Degenerierten“ bringe nur „unwerten“ Nachwuchs und war strengstens untersagt.168

Ganz unumstritten war Hitlers Sexualmoral jedoch selbst unter seinen engsten Gefolgsleuten nicht. Während manche Nazis die Ehe als zwingende Voraussetzung für die so dringlich gewünschte Vermehrung der arischen Rasse sahen169, bezeichneten sie andere – darunter Reichsführer SS Heinrich Himmler − sogar als „satanisches Werk der katholischen Kirche“170 und somit als Hemmschuh der sexuellen Fortpflanzung. Klar definierte sexuelle Verhaltensregeln für den arischen Bürger gab es nicht. „Sitte und Moral wurde zwar oft zitiert, aber nie definiert“171. Inmitten der Wirren um die Sexualreform ergriffen somit viele Nationalsozialisten aus der Führungsriege selbst die Initiative, um ihre eigenen Bedürfnisse − und nicht selten exzessiven Fantasien − verwirklichen zu können. Kaum ein Vertreter der NS-Elite hielt sich an die dem Volk gepredigten moralischen Floskeln wie etwa: „Bescheiden, ehrlich und treu stehst du am Webstuhl des neuen Deutschlands.“172 Ganz im Gegenteil: Hinter den Kulissen lebten die Parteibonzen in Saus und Braus, gleichsam in einem „NS-Sündenbabel mit Doppel- und Dreifachmoral“173. Propagandaminister Joseph Goebbels‘ Spitzname war bezeichnenderweise „Kaulquappe“, denn es hieß, er bestehe nur aus Kopf und Schwanz.174 SS-Chef Heinrich Himmler vergnügte sich neben seiner Ehefrau auch mit seiner Sekretärin175, Reichsleiter Martin Bormann zeugte zehn eheliche Kinder und hielt sich – mit Einverständnis seiner Gattin176 − eine Nebenfrau. Extreme, maßlose und übertriebene Sexualvorstellungen wurden von der Nazi-Oberschicht ausgelebt und ehebrecherische Eskapaden standen auf der Tagesordnung − und das alles „Mit Wissen und Billigung Hitlers (…)“177. Es wurde nach zweierlei Maß gemessen. Was für die Masse bestimmt war, galt nicht für die Elite. Sie war durch nichts gebunden, weder durch ihr eigenes politisches Programm noch durch Weltanschauung oder ethische Normen178, urteilte der frühe Parteigänger und erste prominente Abtrünnige des Nationalsozialismus, Hermann Rauschning179, aus eigener Erfahrung.

 

In diesem bunten Treiben war auch der sonst eher „verklemmte“180 „Führer“ alles andere als ein „Spaßverderber“:

Ich hasse diese Prüderie und Sittenschnüffelei (…) Ich werde keinem meiner Leute ihren Spaß verderben. Wenn ich von ihnen das Aeußerste verlange, so muß ich ihnen auch freigeben, sich auszutoben wie sie wollen, nicht wie es alten Betschwestern paßt. Meine Leute sind, weiß Gott, keine Engel, und sollen es nicht sein. Sie sind Landsknechte und sollen es bleiben. Ich kann Duckmäuser und Tugendbündler nicht brauchen. Ich kümmere mich nicht um ihr Privatleben, so wie ich es mir verbitte, daß man hinter meinem Privatleben herschnüffelt.181

Prinzipiell kümmerte sich Hitler nicht um Moral oder Unmoral seiner wichtigsten Paladine, solange diese nicht seine Pläne durchkreuzten. Wo Hitlers Toleranzgrenze lag, wusste allerdings niemand so genau und so lebte die NS-Elite wie unter einem Damoklesschwert, denn nur der „Führer“ selber bestimmte, wann und wer seine ungeschriebenen Moralvorschriften verletzte und daraufhin bestraft werden sollte.182

Jede Menge Spielraum gewährte Hitler beispielsweise seinem Reichsorganisationsleiter Robert Ley. In der Öffentlichkeit nur selten nüchtern, erhielt er den Spitznamen „Reichstrunkenbold“183 und auch seine hemmungslosen Affären – vorwiegend mit sehr jungen Mädchen – sorgten im Reich für ausreichend Gesprächsstoff. Drei Jahre lang hatte der allseits als „Schürzenjäger“ bekannte Ley ein Verhältnis mit Inga Spilker, der Tochter des Opernsängers Max Spilker. Als seine Geliebte schwanger wurde, ließ Ley sich 1938 von seiner herzkranken Frau Elisabeth scheiden und heiratete noch im selben Jahr die um 26 Jahre jüngere Sopranistin. Sogar Hitler war auf seiner Hochzeit zu Gast. Aber auch diese Ehe hielt Ley von sexuellen Abschweifungen nicht ab. Von ihrem Ehemann ständig betrogen, verfiel die junge Künstlerin dem Alkohol und wurde depressiv.184 Himmlers Masseur Felix Kersten erlebte im Hause Ley, wie der betrunkene Reichsorganisationsleiter seiner Frau die Kleider vom Leib riss, um seinen Gästen das Wunder deutscher weiblicher Schönheit zu präsentieren. Die weinende Inga beschimpfte daraufhin ihren Mann als wildes Tier: „Er behandelt mich schamlos (…) eines Tages bringt er mich noch um.“185 Ein Jahr später, am 29. Dezember 1942, nahm sich Inga Ley das Leben.186 Hitler ignorierte die im Selbstmord endenden ehelichen Streitigkeiten der Familie Ley gänzlich. In einem Kondolenzschreiben behauptete er, dass die jahrelange Krankheit den Lebenswillen der jungen Frau gebrochen hätte. Nach dem Tod seiner Gattin fand der trauernde Witwer Ley rasch Trost bei der noch minderjährigen Estländerin Madeleine Wanderer. Aber auch diese nach nationalsozialistischen Grundsätzen moralische wie rechtliche Verfehlung wurde von Hitler und seiner Justiz wohlwollend geduldet.187 Und nicht nur das, Hitler amüsierte sich über Leys exorbitante und zügellose Auftritte. Augenzeugenberichten zufolge erschien der völlig betrunkene Ley eines Tages in den Modellräumen der ihm nicht ressortzuständigen Stadtplanung im piekfeinen Maßanzug mit Handschuhen und Strohhut und gab den Architekten Anweisungen zum Bau von Bordellen: „Ich bebaue hier den ganzen Block (…) und Nutten brauchen wir auch! Viele, ein ganzes Haus, ganz modern eingerichtet. Alles werden wir in die Hand nehmen, ein paar Hundert Millionen für den Bau, das spielt keine Rolle!“188

Abb. 8: Reichsorganisationsleiter, „Reichstrunkenbold“ und „Schürzenjäger“ Robert Ley mit seiner jungen Frau, der Sopranistin Inga Ley im Wiener Raimundtheater am 16. November 1938

Sah Hitler in jemandem einen politischen Nutzen, so existierte für ihn weder die NS- noch sonst irgendeine Moral. Er duldete Fehltritte, tolerierte Korruption ebenso wie Verbrechen und lachte herzlich über die sexuellen Ausschweifungen und Anekdoten seiner wichtigsten Männer. Angesichts dieser offen zur Schau gestellten Laisser-faire-Haltung des „Führers“ wiegten sich die NS-Bonzen allerdings in trügerischer Sicherheit. Denn so manche Verfehlung eines unbequemen Politikers oder Parteigenossen wurde, wenn die Zeit dafür reif war und Hitler es so wollte, ans Tageslicht gezerrt.189

Die legalisierte Willkür Hitlers, dass jeder Bürger bestraft werden durfte, der „nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient“190, wurde auch auf die Sexualmoral seiner politischen Gegner ausgedehnt. Dies bekam beispielsweise Kriegsminister Werner von Blomberg zu spüren. Als bereits 59-Jähriger verliebte sich der Minister in die junge Stenotypistin Eva Gruhn, eine Frau mit einer gewissen Vergangenheit. Die um 35 Jahre jüngere Auserwählte hatte im Alter von 18 Jahren für Nacktfotos posiert und als registrierte Prostituierte, die zudem gelegentlich ihre Kunden bestahl, gearbeitet.191 Weil Blomberg die junge Schönheit heiraten wollte, ersuchte er Hermann Göring192 um Rat. Der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe riet dem Minister, der zudem Hitlers Kriegspläne behinderte, mit ruhigem Gewissen zu heiraten, und Göring half außerdem, Blombergs Nebenbuhler ins Ausland zu vertreiben. Während Hitler und Göring als Trauzeugen bei der Hochzeit im Januar 1938 auftraten, bearbeitete die Gestapo bereits den Fall Blomberg-Gruhn und sammelte Beweismaterial gegen den Kriegsminister. Als ein Foto auftauchte, das die junge ehemalige Prostituierte beim Geschlechtsverkehr mit einem jüdischen Tschechen zeigte, reagierte Hitler offiziell entgeistert, war insgeheim aber erleichtert, seinen unliebsamen politischen Gegner nun auf diese Weise loszuwerden. Hitler informierte Blomberg kurz nach dessen Hochzeitsreise, dass er für sein Amt als Minister untragbar geworden sei, und forderte seinen Rücktritt.193

Auch Joseph Goebbels überspannte den Bogen und erreichte Hitlers Toleranzgrenze. Der Propagandaminister galt als Weltmeister im Seitensprung. Dass seine zahlreichen Liebesabenteuer – die Goebbels in seinen Tagebüchern verewigte – auch in der Öffentlichkeit bestens bekannt und berüchtigt waren, war dem „Edlen Bock von Babelsberg“194, dem „Hahn von Schwanenwerder“195 selbst − und wohl auch dem „Führer“ − eher gleichgültig, solange seine amourösen Eskapaden nicht seine politische Stellung gefährdeten.196 Sein starker Drang zum weiblichen Geschlecht war Goebbels schon als 28-Jährigem durchaus bewusst. Am 15. Juli 1926 schrieb er in sein Tagebuch:

Jedes Weib reizt mich bis aufs Blut. Wie ein hungriger Wolf rase ich umher. Und dabei bin ich schüchtern wie ein Kind. Ich verstehe mich manchmal selbst kaum. Ich müßte heiraten und ein Spießbürger sein! Und mich dann nach acht Tagen aufhängen! Gute Nacht!197

Abb. 9: Reichspropagandaminister und „Kaulquappe“ Joseph Goebbels und seine tragische Geliebte, die Schauspielerin Lída Baarová, als Gäste bei der Uraufführung des Films „Olympia“ von Leni Riefenstahl im Berliner Ufa-Palast am 20. April 1938

Ein „Spießbürger“ wurde er dann schließlich aber doch, als er im Dezember 1931 Magda Quandt heiratete und Hitler selbst als Trauzeuge seinen Segen zu dieser Ehe gab.198 Doch neben seinen ungefährlichen, flüchtigen Liebschaften lernte der Reichspropagandaminister 1936 die damals 19-jährige tschechische Schauspielerin Lída Baarová kennen. Die Liebesaffäre der beiden wurde schnell zu einem öffentlichen Skandal. Weil Goebbels sich weigerte, seine Geliebte aufzugeben, ließ seine Ehefrau Magda Beweismaterial gegen ihren Mann sammeln. Karl Hanke, Unterstaatssekretär im Propagandaministerium, half ihr dabei und erstellte eine Liste von Goebbels‘ insgesamt 36 Ehebrüchen, darunter fanden sich viele Schauspielerinnen und Damen der Gesellschaft. Erst als Hitler von Magdas Scheidungsabsichten erfuhr, beschloss er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, weil er Goebbels‘ Frau sehr schätzte.199 Er erteilte seinem Minister den Führerbefehl, den Kontakt zu Lída Baarová umgehend einzustellen, welchen Goebbels schließlich widerwillig befolgte.200 Doch Magda hatte sich in der Zwischenzeit in Hanke – den Unterstaatssekretär ihres Mannes – verliebt und wollte ihn sogar heiraten. Aber nun war es Goebbels selbst, der eine erzwungene Versöhnung unbedingt durchsetzen wollte.201 Hitlers Kommentar dazu: „Bei Frauen ist Goebbels ein Zyniker.“202 Der Propagandaminister hatte später weiterhin zahlreiche sexuelle Abenteuer, die allerdings seine Ehe nicht gefährdeten und für Hitler harmlos genug waren, um nichts gegen ihn zu unternehmen.203

Auch bei den exzessiven Frauengeschichten von Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), drückte Hitler wohl beide Augen zu. Es werden möglicherweise nicht zuletzt Heydrichs zahlreiche Bordellbesuche gewesen sein, die ihn angeblich später auf die Idee brachten, ein eigenes NS-Edelbordell in Berlin zu eröffnen. Seine Ehe mit Lina Heydrich war alles andere als glücklich und so suchte er wohl oft Ablenkung in Berliner Bars und Nachtlokalen. Gerüchteweise war ihm keine sexuelle Praktik abartig genug und Ehefrau Lina wusste von seinen ausgefallenen „horizontalen Bedürfnissen“.204 Oft wurden seine engsten Mitarbeiter, wie etwa der damals noch junge SD-Auslandschef und spätere letzte Spionagechef Hitlers, Walter Schellenberg, verpflichtet, Heydrich bei solchen nächtlichen Streifzügen zu begleiten: „Er zog dann mit mir von Lokal zu Lokal und erging sich dabei ständig in obszönen Gesprächen – sein ungehemmtes sexuelles Triebleben war wohl seine einzige Schwäche, die er nicht zu verbergen vermochte.“205

24Adolf Hitler (1889-1945) war „Führer“ und Reichskanzler Deutschlands, ab 4. Februar 1938 auch Oberbefehlshaber der Wehrmacht; siehe Personenbeschreibung im Anhang

25Hitler zit. n. Domarus 1962: 762

26Adolf Hitlers Werk „Mein Kampf“ galt zwischen 1925 und 1945 mit 12.450.000 Exemplaren in mindestens 1.122 Auflagen und 17 Sprachen als Bestseller (vgl. Hartmann et al. 2016: 9). Die Erstausgabe von „Mein Kampf“ wurde 1925 vom Verlag Franz Eher in München publiziert (vgl. ebd.: 1754).

27Hitler 1939: 275

28Joseph Goebbels (1897-1945) war ab 1926 Gauleiter von Berlin und ab 1930 Reichspropagandaleiter. Er zählte zu den engsten Vertrauten Hitlers; siehe Personenbeschreibung im Anhang

29Tagebuchnotiz Joseph Goebbels vom 9. Mai 1935. In: Fröhlich 2005: 229

30vgl. Gordon 2015: 37

31vgl. Freund-Widder 2013: 42

32„Strich: (allg.) volkstümliche Bezeichnung für einen Ort im Freien, an dem Prostituierte u. Kunden sich treffen; sprachliche Herkunft unklar, üblich seit dem Mittelalter, entweder hergeleitet von „Schreff“ (Prostituierte) oder Anspielung auf die Tatsache, dass in manchen mittelalterlichen Städten die Straßen, in denen sich Bordelle befanden, durch einen auf den Boden gemalten Strich gekennzeichnet waren (daher die Wendung ‚auf den Strich gehen‘ für das Ausüben von Prostitution).“ (Dressler / Zink 2003: 524)

33vgl. Gordon 2015: 35

34vgl. Freund-Widder 2003: 33. Beispielsweise beschloss die Hamburger Bürgschaft am 17. Juni 1921 die Aufhebung der Kasernierung für Prostituierte (vgl. Zürn 1986: 130).