Kittys Salon: Legenden, Fakten, Fiktion

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SPIONAGE UND MISSTRAUEN IM DIENSTE DES „FÜHRERS“

Die von den „braunen Saubermännern“ ansonsten so viel geschmähten Dirnen erfüllten im Dienste des Dritten Reichs jedoch nicht nur die nützliche Funktion der als notwendig erachteten sexuellen männlichen Befriedigung – von KZ-Häftlingen über Soldaten bis zu Nazibonzen –, sondern ihnen wurde auch eine wichtige Mission im ausgeklügelten und hochkomplexen Bespitzelungs- und Spionagesystem des NS-Staates zugedacht. Als eigens ausgebildete Agentinnen sollen sie sogar fixer Bestandteil bei der Ausübung von Gesellschaftsspionage gewesen sein206, welche selbst wiederum nur ein kleines Rädchen im Getriebe des enormen Abwehr- und Sicherheitsapparates der Nationalsozialisten darstellte. Denn im Wahnuniversum der Nazis wimmelte es nur so von Volksfeinden, Denunzianten und Spionen.

2.1 Ein „Meer von Denunziation“: Volksfeinde und Spione überall

Der größte Lump im Land ist und bleibt der Denunziant.207

(…) in einem Meer von Denunziation und menschlicher Gemeinheit (…)208

Die neuen NS-Machthaber wollten nicht nur ihre erklärten Gegner ausschalten, sondern auch jene, die dem Regime kritisch gegenüberstanden. Als gesetzliche Grundlage diente den Nationalsozialisten die am 21. März 1933 geschaffene „Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“, die am 20. Dezember 1934 durch das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform“ ersetzt wurde.209 Paragraf 1 desselben Gesetzes stellte jenen Bürger unter Freiheitsstrafe, der „(…) vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen (…)“210. Laut Paragraf 2 waren das „(…) öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen (…), die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben“211. Dazu zählten auch „nichtöffentliche böswillige Äußerungen“212, sprich auch Privatgespräche unter Freunden, Bekannten, Verwandten oder Arbeitskollegen.

Nach dieser Kriminalisierung des frei geäußerten Wortes fanden sich tausende Bürger, die den Behörden nur zu gerne mitteilten, wer was gesagt, gehört oder gesehen habe.213 Denunziationen standen im Dritten Reich auf der Tagesordnung und wurden während des Krieges zu einem regelrechten „Massenphänomen“.214 Allein im Jahr 1937 wurden bei der Gestapo fast 17.200 „Heimtückefälle“ angezeigt.215 Über die jeweils zugrundeliegenden Anschuldigungen kann nur spekuliert werden. Denn in den von der Gestapo angelegten Personalakten – sofern sie nicht vernichtet wurden – finden sich nur selten die tatsächlichen Begründungen, die zur Denunziation geführt hatten. Historiker greifen in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen216 daher noch zusätzlich auf Prozessakten der Nachkriegszeit sowie auf Berichte von Überlebenden zurück.217

Ein gewisser Idealismus oder ihre feste politische Überzeugung mag für die Denunzianten in vielen Fällen das Motiv für die Erstattung einer Anzeige gewesen sein.218 Besonders an öffentlichen Orten musste man auf der Hut sein, denn in Gasthäusern, auf Ämtern, in Geschäften, auf der Straße oder an Bahnhöfen fanden sich überall Anschwärzer, die sogenannte „Volksverräter“ wegen „wehrkraftzersetzenden Äußerungen“ bei der nächstgelegenen Polizeidienststelle meldeten.219 Es wurde allerdings längst nicht nur aus Gründen der politischen Überzeugung denunziert, wie etwa wegen wütendem Rassismus oder einem fanatischen Glauben an den Nationalsozialismus, sondern vielmehr aus persönlichen, oft kleinbürgerlich motivierten Gründen wie Eifersucht, Neid, Angst, Wut, Konkurrenzdenken oder Rachegelüsten.220 So ist beispielsweise überliefert, dass eine Kassiererin in einem Lebensmittelgeschäft in Würzburg im Oktober 1933 eine kinderlose Kundin denunzierte, die auf ihr Wechselgeld von ein paar Pfennigen bestand. Im Zuge ihrer Aussage behauptete sie, die Kundin habe gesagt, sie habe es satt, Steuern zu bezahlen, noch dazu für die Kinderreichen. Beim Verhör durch die Gestapo gab die Kundin zu, erwähnt zu haben, dass die Kassiererin ja nicht so genau rechnen müsse, weil diese ja selbst als Mutter vom Staat finanziell unterstützt werden würde.221

Eine junge „arische“ Frau rächte sich – um einen weiteren Fall aufzugreifen – für ihren erlittenen Trennungsschmerz mittels einer Denunzierung an ihrem ehemaligen Geliebten jüdischer Herkunft, der als Frauenheld bekannt war und sie verlassen hatte.222 Und ein Hauseigentümer denunzierte seinen Mieter, der nicht pünktlich bezahlt hatte, indem er behauptete, jener würde ausländische Sender abhören.223

Unter dem Deckmantel der Regimetreue und mithilfe der Gestapo bot sich so manchem Bürger nun die Gelegenheit, offene Rechnungen mit alten Feinden zu begleichen. Das erlassene Gesetz zur „Kollaboration“ verlieh ihnen eine soziale Macht, die sie nie zuvor besessen hatten; und nicht wenige missbrauchten diese, um private Auseinandersetzungen für sich zu entscheiden, sich bei jemandem für vermeintliches Unrecht zu revanchieren oder gar dazu, ihnen lästige Mitmenschen loszuwerden.224

Es kam vor, dass Schüler mit oftmals haltlosen Anschuldigungen ihre Lehrer denunzierten. Vor allem Mitglieder der Hitlerjugend kannten hier wenig Zurückhaltung, denn angeblich waren selbst Familienmitglieder nicht sakrosankt.225 So zeigte beispielsweise ein junges Mädchen ihren Bruder an, weil sie ihn für einen „Klugschwätzer“ hielt, der ständig Ausreden dafür erfände, gewisse ausländische Radiosender zu hören, obwohl sie ihm wiederholt gesagt hätte, dass der Empfang dieser Sender von der Partei strengstens verboten sei. Ihre Begründung bei der Polizei lautete: „Ich habe nur die Anzeige gegen meinen Bruder erstattet, um ihm zu beweisen, dass er nicht recht hat. Mein Bruder ist stets rechthaberisch und meint immer, was er sagt, ist richtig.“226

Eifrige Denunzianten gab es unter Freunden, Bekannten, Nachbarn, Arbeitskollegen, und − wie eben vorhin erwähnt − sogar unter Familienmitgliedern. Die Bereitschaft zur Denunziation war in der deutschen Bevölkerung so groß, dass sogar die Nationalsozialisten überrascht und teils mit der Fülle der Anzeigen überfordert waren. Ihre Haltung dazu war ambivalent und ebenso ihr Umgang damit widersprüchlich: Einerseits war die Bevölkerung ja zur Denunziation aufgefordert worden, andererseits wurde in der Praxis schnell klar, dass man gegen die zahlreichen anonymen, wissentlich falschen und rein persönlich motivierten Anzeigen vorgehen und sie sogar als unerwünschtes, menschlich feiges und gemeines Verhalten bekämpfen musste.227

Selbst Hitler kritisierte bereits zwei Monate nach Erlass der entsprechenden Verordnung die dysfunktionalen Effekte der Denunziation in der Wirtschaft sowie in den eigenen Reihen und er beklagte gegenüber Reichsjustizminister Gürtner im Mai 1933: „(…) daß wir zur Zeit in einem Meer von Denunziation und menschlicher Gemeinheit leben“228. Denn Hitler erkannte sehr wohl, dass es keine Seltenheit war, dass jemand einen anderen denunzierte und sich gleichzeitig selber als Nachfolger für die dadurch freiwerdende Stelle des Verratenen empfahl.

Auch der Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in Karlsruhe, Karl Berckmüller, wies am 20. Juni 1934 in einer Pressemitteilung darauf hin,

(…), daß die Geheime Staatspolizei keinesfalls die Beschwerdestelle politischer Gehässigkeiten oder gar niedrigen Denunziantentums sein darf. Ich werde gerade diesen Verleumdern gegenüber die ganze Strenge des Gesetzes zur Durchführung bringen lassen, wenn es sich herausstellt, daß durch wissentlich falsche Anzeigen der Apparat der Geheimen Staatspolizei unnötig belastet und dadurch Unglück und Aufregung Unschuldigen zugefügt wird.229

 

Abb. 11: Trügerische Idylle – wer lauscht mit? Die Bereitschaft zur Denunziation war in der deutschen Bevölkerung groß. Im Bild eine Kundgebung auf dem Stuttgarter Marktplatz zum 47. Deutschen Wandertag 1938.

Sogar für Reinhard Heydrich – wohl der penibelste und durchtriebenste Informationssammler unter allen NS-Funktionären – war das Ausmaß an privat motivierten Denunziationen bald zu viel des Guten. Zwei Tage nach Kriegsausbruch stellte er in seinen „Grundsätzen der inneren Staatssicherung während des Krieges“ klar: „Gegen Denunzianten, die aus persönlichen Gründen ungerechtfertigte oder übertriebene Anzeigen gegen Volksgenossen erstatten, ist an Ort und Stelle in geeigneter Weise – durch eindringliche Verwarnung und in böswilligen Fällen durch Verbringung in ein Konzentrationslager – einzuschreiten.“230

Doch beinahe zeitgleich erließ Propagandaminister Joseph Goebbels, am 1. September 1939, die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“, welche für eine weitere Flut an Denunziationen und daher auch für Kritik in den eigenen Reihen231 sorgte. Die neue Anweisung untersagte „das absichtliche Abhören ausländischer Sender“232 und jeder Bürger wurde aufgefordert, diejenigen zu melden, die dieses Verbot umgingen. Das Abhören sowie die Verbreitung solcher Nachrichten konnten sogar mit dem Tode bestraft werden. In der deutschen Presse wurde die Vorschrift mit dem Argument gerechtfertigt, dass im Weltkrieg die Gegner Deutschlands mit der „gemeinen Waffe der Hetze, mit dem Gift der Lügen und der aufrührerischen Provokation (…)“233 arbeiten würden. Goebbels war sich durchaus bewusst, dass er unmöglich zwölf Millionen Rundfunkgeräte in Deutschland234 überwachen konnte und hier auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen war. Das Gesetz wurde von der Gestapo so energisch exekutiert, dass sich selbst Regierungsbeamte auf Ministerialebene vorsichtshalber zuerst eine Erlaubnis einholten, bevor sie im Dienst ausländische Sender zu Informationszwecken abhörten.235

Die Verlockung, verbotenerweise Nachrichten ausländischer Medien zu konsumieren, war für sogenannte „Rundfunkverbrecher“ trotz der im Gesetz verankerten Sanktionen groß. Der britische Sender BBC war ganz besonders bemüht, sein deutsches Publikum zu fesseln. Nicht nur, weil er auf Deutsch sendete, sondern auch wichtige Informationen von der Front übermittelte, unter anderem die Namen deutscher Soldaten und Seeleute, die in Gefangenschaft geraten waren.236 Ein Tagebucheintrag des amerikanischen Zeitungs- und Rundfunkkorrespondenten in Berlin William L. Shirer237 veranschaulicht die dadurch entstandene Atmosphäre des Argwohns und der Verzweiflung. Er hielt am 4. Februar 1940 folgenden Fall fest:

Auf das Abhören ausländischer Sender stehen in Deutschland schwere Strafen. Kürzlich erhielt die Mutter eines deutschen Fliegers von der Luftwaffe die Nachricht, daß ihr Sohn vermißt sei und sie mit seinem Tod rechnen müsse. Einige Tage danach meldete die BBC, die wöchentlich die Namensliste der gefangengenommenen Deutschen verliest, seinen Namen unter den Gefangenen. Am folgenden Tag erhielt die Frau acht Briefe von Freunden und Bekannten, die ihr sämtlich mitteilten, sie hätten am Radio gehört, daß der Sohn am Leben und als Gefangener in England sicher sei. Dann nahm die Geschichte eine abscheuliche Wendung. Die Mutter denunzierte alle acht bei der Polizei wegen Abhörens englischer Sender, und sie wurden verhaftet. (Als ich die Story in meiner Sendung berichten wollte, strich der Nazizensor den Text mit der Begründung, amerikanische Hörer könnten den Heroismus dieser Frau, die acht ihrer Freunde als Volksfeinde entlarvt habe, nicht nachvollziehen!)238

Warum die Frau ihre acht Freunde denunziert hat, ist schwer nachvollziehbar − es sei denn, sie wäre eine fast krankhaft fanatische Nationalsozialistin gewesen, die sich zu diesem Verhalten schlichtweg verpflichtet gefühlt hätte. Andernfalls kann man lediglich vermuten, dass sie damals mit der Angst zu kämpfen hatte, dass sie, wenn sie über das von ihren Freunden auf BBC Gehörte schweigen würde, womöglich von den Nazis der Mitwisserschaft bezichtigt werden könnte, falls der Vorfall je herauskäme.

Abb. 11: Beamte der Schutzpolizei und Gestapo-Angehörige hetzen eine Treppe hinauf.

Obwohl das Abhören von verbotenen Radiosendungen sowie die Verbreitung dieser Nachrichten oder die „Heimtückenrede“ mit dem Tode bestraft werden konnten239, schreckten viele Denunzianten nicht davor zurück, ihre diesbezüglichen Informationen dennoch an die Gestapo weiterzuleiten. Infolgedessen wurde beispielsweise der damals berühmte deutsche Pianist Karlrobert Kreiten am 3. September 1943 wegen „Feindbegünstigung“ und „Wehrkraftzersetzung“ vom Volksgerichtshof Berlin zum Tode verurteilt und nur vier Tage später in der Hinrichtungsstätte Berlin Plötzensee im Alter von 27 Jahren erhängt. Die Nazis nutzen seine breite Bekanntheit, um für die Bevölkerung ein Exempel zu statuieren, und ließen in der Presse und an Litfaßsäulen verkünden: „Kreiten hat durch übelste Hetzereien, Verleumdungen und Übertreibungen eine Volksgenossin in ihrer treuen und zuversichtlichen Haltung zu beeinflussen gesucht und dabei eine Gesinnung an den Tag gelegt, die ihn aus der deutschen Volksgemeinschaft ausschließt.“240 Jene Volksgenossin namens Ellen, die Kreiten bei der Gestapo angezeigt hatte, war eine Schulfreundin seiner Mutter, die ihm ein Musikzimmer zum Proben in ihrem Haus zur Verfügung gestellt hatte. In den Übungspausen unterhielten sich die beiden unter anderem auch über die aktuelle Kriegslage. Allerdings war dem jungen Musiker, der Zeit seines Lebens auf wohlwollende Menschen getroffen war, nicht bewusst, dass Ellen eine überzeugte Nationalsozialistin und damit eine „gefährliche“ Gesprächspartnerin für ihn war. Ellens Angaben nach soll Kreiten unter anderem Folgendes zu ihr gesagt haben: Hitler sei krank, und einem solchen Wahnsinnigen sei nun das deutsche Volk ausgeliefert. Der Krieg sei praktisch verloren und in zwei bis drei Monaten werde es eine Revolution geben; dann würden Hitler, Göring, Goebbels und Frick einen Kopf kürzer gemacht werden. Daraufhin erstattete die entsetzte parteifanatische Freundin der Familie im März 1943, eine Woche vor Kreitens nächstem Konzertauftritt, bei der Reichsmusikkammer Anzeige gegen den „Volksverräter“. Weil diese Organisation allerdings die Denunziation unter den Tisch kehrte, erstattete die Frau eine weitere Anzeige beim Propagandaministerium, welches den Fall an die Gestapo weiterleitete. Der ahnungslose Pianist wurde von der Gestapo verhaftet, seiner Verräterin gegenübergestellt und schließlich zum Tode verurteilt.241

Die Bereitschaft zur Denunziation zwischen Eheleuten war ab Kriegsbeginn ganz besonders groß. Viele sahen nun die Chance gekommen, ihrer zerrütteten Ehe mithilfe schwerer Anschuldigungen endlich ein Ende zu bereiten.242

Auch wenn sich viele Anschuldigungen als haltlos erwiesen, die Quellen zweifelhaft und die Motive unterschiedlich waren oder der Denunziant gar unter Alkoholeinfluss stand, so ging die Gestapo dennoch vehement jeder Spur nach, auch anonymen Denunziationen.243 Handelte es sich indes um einen politisch nicht vorbelasteten Deutschen, so wurde sogar die Hälfte der erfassten Fälle mit einer bloßen Verwarnung geahndet – manchmal noch nicht einmal das − und die Person wieder freigelassen. Besonders gründlich und beharrlich ging die Gestapo hingegen bei ihren „Gegnern“ vor.244

Denunziationen machten manchmal auch einen Umweg über die Massenmedien. Hunderte von Leserbriefen, die über nonkonformes Verhalten zwischen Juden und Nichtjuden berichteten, gingen täglich der antisemitischen Wochenzeitschrift Der Stürmer zu. Im Frühjahr 1935 rief das Blatt offen zur Denunziation auf:

Haltet die Augen offen! In Sommergärten, in Ausflugsorten, in Bädern, auf Landstraßen und Feldwegen! Schaut Euch die Autos an, die auf offener Straße stehen! Noch schärfer aber schaut in die Gesichter ihrer Insassen. Wo immer ihr einen Juden zusammen mit einem deutschen Mädel antrefft, versucht deren Namen festzustellen. Und meldet Eure Beobachtung dem „Stürmer“. Teilt dem „Stürmer“ die Anschrift jener Gaststätten, Pensionen und Hotels mit, die an jüdische Rassenschänder Zimmer vergeben.245

Abb. 12: Juden-Denunziation im NS-Blatt „Der Stürmer“, Ausgabe 03/1935.

Das Ausmaß an Denunziationsschreiben, das dieser Aufruf hervorrief, und wie viele davon dann tatsächlich an NS-Instanzen weitergeleitet wurden, ist nicht bekannt.246 Der kanadische Forscher Robert Gellately stellte bei der Durchsicht der Würzburger Gestapo-Akten allerdings fest, dass sich der Herrschaftsapparat beim Thema Rassenschande durchaus auf die Mitarbeit der Bevölkerung verlassen konnte: „Von den 175 Fällen, welche die Trennung von Juden und Nichtjuden auf dem Gebiet sexueller und gesellschaftlicher Beziehungen betreffen, begannen 57 Prozent mit einer Denunziation aus der Bevölkerung.“247 Nur ein Prozent solcher Fälle seien auf eigene Beobachtungen der Gestapo zurückzuführen gewesen.

Gellately kommt in seiner Studie aus dem Jahr 1993 zu dem Schluss, dass die Gestapo ohne ein beträchtliches Maß an Kollaborationswilligkeit seitens der Bevölkerung große Schwierigkeiten gehabt hätte, effektiv zu arbeiten, und dass sie somit dem normalen Bürger viel mehr zu verdanken gehabt habe als dem Parteigenossen.248 Diese Annahme erhärtete sich 2004 in einer weiteren Untersuchung Gellatelys von Gestapo-Akten: Von den insgesamt 226 analysierten Anzeigen wegen Abhörens verbotener Rundfunksender waren 164 (73 Prozent) auf Hinweise aus der Bevölkerung zurückzuführen. Die restlichen Informationen kamen von der NSDAP, NS-Organisationen, der Gestapo selber und ihren V-Leuten sowie von anderen NS-Kontroll- und Sicherheitsorganen.249

2.2 Organisierte Spionage von Partei und Staat

Ein Spitzel verhält sich zum Verräter wie ein Mörder zum Totschläger. Wie der Mörder handelt der Spitzel mit Vorsatz.250

Vor der Machtergreifung der NSDAP gab es nur eine Organisation, die für Spionageaktivitäten innerhalb und außerhalb Deutschlands zuständig war, und zwar die vom späteren Admiral Conrad Patzig251 geleitete Abwehr-Abteilung, die allerdings ab 1933 jede Menge Konkurrenz bekam. Als innenpolitische Rivalen galten der Sicherheitsdienst (SD)252 der nationalsozialistischen Partei sowie das „Forschungsamt“ der Luftwaffe.253 Außenpolitisch stritten sich Abwehr-Abteilung, Auswärtiges Amt, Außenpolitisches Amt der NSDAP, Volksdeutscher Rat, Verein für das Deutschtum im Ausland sowie die Auslandsorganisation der NSDAP um Kompetenzen.254 Patzigs Bemühungen, aus all diesen Organisationen einen einheitlichen Nachrichtendienst zu formen, scheiterten. Gegenwehr kam hier vor allem vom Auswärtigen Amt, das seinen Militärattachés die Zusammenarbeit mit Abwehr-Agenten verboten hatte, sowie vom SD, der das Monopol auf die Ausforschung der Sicherheitslage und der Stimmung in der Bevölkerung für sich beanspruchte. Für die Abwehr-Abteilung verblieben also die Aufgabenbereiche der Auslandsspionage sowie der Spionageschutz der Reichswehr und der Rüstungsindustrie. Die anhaltenden Spannungen zwischen SD und Abwehr-Abteilung führten schließlich zu Patzigs Ablösung; an seiner Stelle wurde Admiral Wilhelm Canaris255 mit der Leitung der Abwehr-Abteilung betraut.256 An seinem letzten Tag im Amt, am 31. Dezember 1934, kritisierte Patzig das brutale Gesicht der neuen Organisation, das für ihn zu dieser Zeit bereits deutlich sichtbar war: „Ich kann auf Grund meiner eigenen Erfahrungen nur erklären, dass die SS ein Sammelbecken entwurzelter Existenzen und Verbrecher ist, die vor nichts, auch nicht vor Mord zurückschreckt.“257

 

Auch Canaris konnte den brutalen Methoden der immer maßloser werdenden NS-Führer nicht viel abgewinnen. Verschärfte Verhöre, Nötigung und Erpressung waren für ihn und seine Mitarbeiter tabu.258 Denn die Abwehr-Abteilung achtete bei der Führung ihrer Offiziere auf menschliche Qualitäten, ein gewisses geistiges Niveau und die Einhaltung von Werten.259 Im Gegensatz dazu waren beim SD zumeist junge Draufgänger ohne viel Lebenserfahrung am Werk. Um alle geheime Macht auf sich zu konzentrieren, verfolgte SD-Chef Reinhard Heydrich vehement das Ziel, die militärische Abwehr entweder gänzlich zu zerschlagen oder sie dem SD einzugliedern. Abwehrchef Canaris wiederum setzte alles daran, dass dies eben nicht passierte. Wenn es nach Canaris gegangen wäre, so hätte auch er – wie bereits sein Vorgänger Patzig – eine einheitliche Leitung des gesamten Nachrichtendienstes angestrebt. Doch an eine solche Lösung des Problems war im NS-Staat mit seinen zahlreichen Institutionen, geführt von rivalisierenden Parteispitzen, nicht zu denken. So galt es, die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Abwehr und SD, so gut es ging, auszubalancieren.260 An eine gute Abstimmung zur erfolgreichen Zusammenführung der wechselseitigen Informationen zwischen den beiden Dienststellen war allerdings nicht zu denken. Ganz im Gegenteil: Beide Organisationen buhlten um die Gunst Hitlers, und so geschah es, dass etwa bei der SD anfallende Nachrichten über militärische Beobachtungen in den Feindländern vor der Abwehr geheim gehalten und stattdessen unmittelbar an Hitler weitergleitet wurden, um dem „Führer“ zu beweisen, um wie viel besser doch die Leistungen des SD im Vergleich mit jenen der Abwehr seien. Auch Heydrich versuchte bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit, die militärische Abwehr und ihren Leiter in ein schlechtes Licht zu rücken. Dazu ließ er sogar Abwehroffiziere aushorchen und belieferte die Prominenz in Wehrmachtskreisen mit abfälligen Bemerkungen über Canaris.261 Zu seinem Ärger gelang es Heydrich allerdings nicht, Abwehroffiziere als Spitzel für den SD zu gewinnen262 und seinen unliebsamen Erzkonkurrenten Canaris auszuschalten.263

Auch wenn die Abwehr viele ihrer ursprünglichen Kompetenzen an die SD oder die Gestapo abtreten musste, so erhöhte sich doch die Anzahl der Abwehr-Mitarbeiter mit der Wiederaufrüstung Deutschlands erheblich. Mit der Wehrpflicht und dem Ausbau der Wehrmacht wurden zahlreiche Abwehrstellen, Abwehrneben- und -außenstellen in den besetzten Ländern sowie Kriegsorganisationen in den verbündeten Ländern errichtet. Zählte die Abwehr im Jahr 1933 nur knapp 150 Mitarbeiter, so erhöhte sich die Zahl bis Mitte 1937 auf 1.000. Bis 1939 verdoppelte sich die Zahl dann sogar auf 2.000 Mitarbeiter. Das neue „Amt Ausland/Abwehr“ hatte nun folgende Aufgaben: Gegenspionage, Auswertung der ausländischen Presse, Rundfunk und Literatur, Aufbau und Kontrolle eines Agentennetzes, Informationsbeschaffung über das Militär und die Rüstungsindustrie aller potenziellen Gegner sowie Vorbereitung von Kommandounternehmen.264

Abb. 13: Abwehrchef Admiral Wilhelm Canaris.

Nicht nur die Abgrenzung der beiden Nachrichtendienste und ihrer jeweiligen Kompetenzen war ein Problem, sondern auch die Unterscheidung der unzähligen Informantinnen und Informanten, die ihnen tagtäglich zuarbeiteten: Neben Denunzianten aus dem Volk gab es ausgebildete Spione, Vertrauenspersonen (V-Leute), Agenten, Kuriere, Zubringer, Spitzel und Beobachter, die im Auftrag der Geheimdienste politisch wertvolle Informationen sammelten.265 Dass es im Dritten Reich keine klar umgrenzten Aufgabenprofile zu diesen Bezeichnungen gab und besonders die Praktiker die Begrifflichkeiten V-Mann und Agent synonym verwendeten, kritisierte SS-Brigadeführer Franz Six266 bereits im September 1938, als er in seiner Funktion als Leiter der Inlands-Hauptabteilung seine Referenten mit folgenden Worten ermahnte:

Nachdem mehrfach festgestellt werden musste, dass die Wesensmerkmale der im Nachrichtendienst eingesetzten Zubringer, Agenten, Vertrauenspersonen und Beobachter nicht bekannt sind und diese Unkenntnis in einem Fall sogar dazu geführt hat, dass ein Agent als offizieller Beauftragter Verwendung fand, werden nachfolgend die Wesensmerkmale der vier hauptsächlichen im Nachrichtendienst Verwendung findenden Nachrichtenträger festgelegt und ersucht, sie zum Gegenstand eingehender Belehrung der Abteilung zu machen.267

Six erstellte daraufhin im Auftrag Heydrichs, der mithilfe der Informantinnen und Informanten ein „Beobachtungsnetz“ über das ganze Reich spannen wollte, einen neuen Grundlagenbefehl mit dem Titel „Unterscheidung zwischen Zuträgern, Agenten, Vertrauenspersonen und Beobachtern“. Demzufolge waren Zubringer – teils auch als Zuträger, Gewährsleute oder Melder bezeichnet – all jene Personen, „(…) welche im Einzelfall Nachrichten beibringen. Sie bringen diese an Vertrauenspersonen oder an Beobachter. Sie werden weder auf Treue noch Verschwiegenheit verpflichtet, noch werden sie betreut.“268 Im Gegensatz zum V-Mann arbeitete der Zubringer unregelmäßig, wurde nicht vom SD verpflichtet und erhielt auch keine Entlohnung. Der Zubringer war quasi die Stimme des Volkes, der Stimmungsbilder, kursierende Gerüchte und verhöhnende Witze an den V-Mann weiterreichte. Während der „eingewiesene Zubringer“ wusste, dass seine Informationen beim SD landeten, blieb der „nicht eingewiesene Zubringer“ hinsichtlich der Identität seines Auftraggebers ahnungslos. Erwies sich ein Zubringer als loyal und zuverlässig, so wurde die Person in weiterer Folge als V-Mann eingesetzt. Besonders skeptisch war man allerdings bei Zubringern, die von sich aus an den SD herantraten.269 Als sogenannte V-Leute wurden jene Personen bezeichnet,

(…) zu denen ein dauerhaftes Vertrauensverhältnis besteht, ohne dass diese Vertrauenspersonen jedoch dem SD angehören. Vertrauenspersonen werden zur Verschwiegenheit schriftlich verpflichtet. Ihre Mitarbeit erfolgt ohne Gegenleistung. Während sie SS-mäßig nicht geeignet zu sein brauchen, müssen sie charakterlich sauber und nationalsozialistisch einwandfrei sein. Vertrauenspersonen werden durch die Dienststelle, an welche sie unmittelbar angehängt sind, betreut.270

Die V-Personen waren die schlagkräftigste Waffe des Sicherheitsdienstes und bildeten zahlenmäßig die stärkste Informantengruppe. Allein der Gau Sachsen zählte bei einer Zahl von fünf Millionen Einwohnern 465 SD-Mitarbeiter, die dort wiederum 2.281 V-Leute führten. Auch wenn man somit nicht von einer flächendeckenden Überwachung sprechen kann, so bildeten die V-Leute, die bis hinauf in die obersten Schichten der Gesellschaft operierten, eine sinnvolle Ergänzung zu den spontanen Denunzianten und den Gestapo-Agenten. Gemäß Otto Ohlendorfs271 Aussage im Nürnberger Prozess, verfügte er als Leiter des Amtes III, SD-Inland, des RSHA im ganzen Reich über insgesamt 3.000 SD-Mitarbeiter und 30.000 V-Leute.272

Während der Denunziant überwiegend aus persönlichen Motiven handelte, operierte der V-Mann vielmehr aus politischem Interesse mit dem Ziel, möglicherweise beim SD Karriere zu machen. Beide agierten ohne Zwang und ehrenamtlich.273 Gezielt rekrutiert wurden vom SD vor allem V-Männer, welche Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik ausüben konnten, wie etwa Journalisten, Richter, Bürgermeister oder Großunternehmer, aber auch Handwerker und Kaufleute wurden angeworben.274 War der Kontakt zu einem potenziellen V-Mann geknüpft, folgte zunächst ein persönliches Gespräch mit dem Außenstellenleiter, der an die nationalsozialistische Bürgerpflicht appellierte und sich die Verschwiegenheit seiner Verbindungsperson per Handschlag zusichern ließ. Entschied sich ein Kandidat bzw. eine etwaige Kandidatin275 gegen eine Zusammenarbeit mit dem SD, so gab es für ihn bzw. sie keinerlei Konsequenzen.276 Heydrich wollte einen „sauberen Nachrichtendienst“ schaffen, der „(…) weder behördenmäßig noch als Spitzelapparat, sondern als ein diszipliniertes Korps auf der Grundlage politischen Pflicht- und Ehrgefühls (…)“277 agierte. War der V-Mann zur Kollaboration mit dem SD bereit und nach eingehenden Recherchen zu seiner Person als nationalsozialistisch einwandfrei eingestuft worden, so wurde seine Verpflichtung als Verbindungsperson des SD gemeinschaftlich mit einem Treueschwur feierlich zelebriert.278 Bei einer Schweigepflichtverletzung drohte der SD mit der Einschaltung der Gestapo.279 Nach der ersten Euphorie, einen neuen ehrenamtlichen Mitstreiter gewonnen zu haben, folgte für den Außenstellenleiter wohl die weitaus schwierigere Aufgabe, den V-Mann trotz äußerst geringer Leistungsentschädigungen280 zur regelmäßigen Berichterstattung zu motivieren.

Im Gegensatz zum Denunzianten und zum V-Mann, deren Handlungsinitiativen immer selbstbestimmt waren, operierte der Agent281 auf Befehl – ein Zuwiderhandeln konnte schlimmstenfalls auch seine Internierung in einem KZ nach sich ziehen. Ein Agent wurde direkt gegen den politischen Gegner eingesetzt und kam meist auch aus diesem Milieu. Agenten waren Täter und Opfer gleichermaßen. Ihr Vertrauen und ihre Loyalität konnte sich der Auftraggeber trotz finanzieller Entlohnung282 nicht erkaufen, weshalb Agenten „(…) wegen der mit der gewerbsmäßigen Agententätigkeit verbundenen Gefahr des Arbeitens nach zwei Seiten (…)“283 immer auch mit einer gewissen Skepsis beäugt wurden. Der Agent − oder eben auch der potenzielle Doppelagent − war das in gewissem Sinne „risikobehaftetere“ Gegenstück zum V-Mann, der seine Spitzeltätigkeit als Ehrenpflicht ansah und diese daher wohl sogar mit Freude erfüllte.

Zeithistoriker Wilhelm Ritter von Schramm284, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Rolle der Nachrichtendienste im Zweiten Weltkrieg lag, stellte allerdings klar, dass all die kolportierten abenteuerlichen Geschichten „à la James Bond“ mit der Realität der damaligen Geheimdienste nichts zu tun hatten: Je länger der Krieg dauerte, desto weniger deutsche Spione und Agenten seien im Nachrichtendienst im Einsatz gewesen. Die Informationsausbeute sei im Verhältnis zur Gefahr, dass ein Agent die Seiten wechselte und/oder zum Doppelagenten wurde, zu spärlich gewesen. Denn nach Schramms Schätzungen ist zwischen 1936 und 1945 mindestens jeder zweite Agent gefasst worden oder übergelaufen.285 Eine weitaus zuverlässigere Informationsquelle sei hingegen die Funkaufklärung gewesen, welche im Land-, See- und Luftkrieg bereits sehr erfolgreich eingesetzt worden war. Dank neuester Technik sei es nicht nur möglich gewesen, geheime Nachrichten schneller und über weite Strecken zu übermitteln, sondern auch mittels Entzifferung feindlicher Funksprüche wichtige strategische Informationen abzufangen. Der Spion alten Stils habe deshalb mehr und mehr an Bedeutung verloren und der Geheimdienst sich allmählich hin zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelt, die sich bei der Beschaffung von Geheiminformationen ganz dem feindlichen Funkverkehr und der eigenen Abschirmung widmete.286

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