Silvia - Folge 2

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Sari: Silvia #2
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Die gute Fee

Silvia begleitete den schüchternen Mann nicht hinaus, er würde den Weg zurück ins Foyer schon finden. Als er gegangen war, streifte sie das Hemdchen über, schlich in den Korridor und von dort in die Garderobe, nahm eine Dusche und putzte die Zähne. – Und nun, wohin, nach oben in ihr Zimmer zum Entspannen? Aber nein, sie konnte die anderen Mädchen, ihre Kolleginnen, doch nicht im Stich lassen, da sie heute Verstärkung dringend benötigten. Auch wenn das Hemd rein und unbefleckt geblieben war, ganz im Gegensatz zu ihr, durfte sie es doch kein zweites Mal anziehen. Sie warf es zu den anderen Sachen in die Wäsche, würde es schon wiederfinden irgendwann, und wenn nicht, war es eigentlich auch egal.

Es gab kleine Sachen genug zum Anziehen. Geordnet nach Größe hingen sie an den Garderobenstangen. Sie entschied sich für ein weißes Negligé und verblieb noch einen Moment in der Stille des Raumes, umgeben von den Schminkutensilien und dem Duft nach Parfüm. Dann wagte sie sich wieder hinein ins Foyer.

Ihr Glas stand noch auf dem Tresen, sie nahm es zur Hand, trank ein Schlückchen, fühlte blumiges Feuer in die Kehle rinnen und warme Glut entfachen. Der Schüchterne war gegangen, ein großer dicker Mann kam zur Tür herein, wenn es hier etwas nicht gab, dann Beständigkeit. Forschend ruhte Immanuels Blick auf ihr. „Alles in Ordnung?“

Sie erwiderte sein besorgtes Lächeln. „Alles in Ordnung.“

Christine gesellte sich an die Bar, begleitet von gleich zwei Männern, die ihr die Vorzüge eines „flotten Dreiers“ schilderten. Sie war nicht abgeneigt, allerdings … „Sie müssen beide den vollen Preis bezahlen.“ Ein unschuldiges Lächeln begleitete ihre Worte.

Der Jüngere der beiden hob entgeistert den Blick zur Decke. „Aber dann kostest du ja plötzlich das Doppelte!“

„Ich werde ja auch doppelt beansprucht. Und außerdem … wäre es nicht so, kämen bald ganze Busladungen von Schnäppchenjägern hier an, um sich eine von uns zu teilen.“

Kopfschüttelnd schob der Ältere zwei Fünfhunderteuroscheine über den Tresen. Immanuel hielt sie beide gegen das kleine helle Licht bei seiner Kasse, begutachtete sie gewissenhaft von beiden Seiten, nickte und legte sie in die Kassette, wies Christine Zimmer acht zu und machte eine Notiz in seine Liste. Umrahmt von den beiden Männern, ging Christine zur Tür, wirkte klein und zerbrechlich zwischen ihnen wie ein Juwel in der Zwinge. Doch würde sie die Kraft zu brechen wissen mit ihren sanften weiblichen Mitteln, sie absorbieren und zur Ruhe bringen, man musste sich um sie nicht sorgen.

Neben einem jüngeren Mann mit pickliger Haut saß auf einem Sofa die Mulattin. Sie trug nun ein langes weißes Gewand, das sich wie ein grobmaschiges Netz um ihren Körper schmiegte, hochgeschlossen bis zum Hals, wo es Halt fand an einem silbernen Reif. Die Achseln und die Arme blieben unbedeckt, die Spitzen der vollen Brüste lugten durch rot umsäumte Aussparungen hervor, sie hatte es hochgerafft wie die Sklavinnen drüben, die geöffneten Knie boten Blick auf den dunklen Pelz ihres Schoßes. Der Mann neben ihr flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie nickte und winkte mit zwei ausgestreckten Fingern zu Immanuel herüber.

Er verstand ihr Zeichen, holte ein großformatiges ledergebundenes Buch unter dem Tresen hervor, das aussah wie das „Buch der Regeln“, nur dicker, und reichte es Iris. „Bringst du die Karte bitte Danielle?“

So hatte denn auch die Mulattin einen Namen bekommen. Er schaute nach oben zu den Flaschen, die über dem Tresen auf einem Regal standen, mit ausgestrecktem Arm gerade noch zu erreichen. Halb waren sie von Silvias Platz aus noch sichtbar, ihre obere Hälfte aber wurde verdeckt von einer Blende, die bis hoch zur Decke reichte. „Dann kannst du Laura aus dem Raum Justine abholen, sie wartet auf dich“, fügte er hinzu, als habe ihm der Blick nach oben eine Eingebung beschert.

Iris tat, wie ihr geheißen, überreichte die Karte Danielles Begleiter, der sie interessiert aufschlug, und verließ den Raum. An der Tür begegnete sie einem kleinen Herrn im grauen Flanell, der geflissentlich an ihr vorbeischaute. In seinem faltigen Gesicht spross ein feines Oberlippenbärtchen, die Mundwinkel waren missmutig herabgezogen, unter dem linken Arm klemmte eine Aktentasche, er schaute nicht nach links und rechts, eilte blicklos zum Ausgang hin, als sei er auf der Flucht. Der Raum Justine, was hatte das zu bedeuten? Weshalb musste Laura abgeholt werden und woher wusste Immanuel, dass sie auf Iris wartete? Fragen ohne Antworten, es gab noch einige Rätsel zu lösen.

Ein neuer Gast betrat das Foyer, ein schlanker Mann um die vierzig, kurzes dunkles Haar, energisch hervorstechende Nase, schmale Lippen, kleine Augen, die ganze Gestalt strahlte Entschlusskraft aus. Sonderlich sympathisch fand Silvia ihn nicht, doch war sie momentan das einzige freie Mädchen. Außer ihr befanden sich nur noch Danielle und Annemarie im Raum, beide in Begleitung. Er kam schnurstracks zu ihr her, fragte, ob sie neu hier sei.

Sie nickte.

„Und wie heißt du?“

„Silvia.“

„Gut.“ Er reichte Immanuel das Geld und ging mit ihr zur Tür. „Mein Name ist Wolfgang.“

Auch das noch!

Zimmer vier hatte Immanuel ihr zugewiesen. Es war ähnlich eingerichtet wie Zimmer zwei, nur in dunklem Blau gehalten. Der bewegte Nachthimmel des Gemäldes erinnerte an van Gogh, der Rest weniger. Auf einer weißen Parkbank, die aussah wie die Bänke draußen (vermutlich war es im Park des Schlosses gemalt), saß eine brünette Frau in der Haltung der Sklavin, das weiße Kleid war gelüpft, die Schenkel geöffnet, ihr enthaarter Schoß zu sehen. Sie hatte den Kopf zur Seite gewandt, in ihrem Mund steckte der Penis eines Mannes, der im dunklen Anzug neben ihr stand und ihre entblößten Brüste streichelte. Ihre Arme wurden auf der Rückenlehne festgehalten von einer üppigen Blondine, die im schwarzen durchsichtigen Gewand hinter ihr stand und zu ihr herablächelte.

Der Mann ließ sich Stück für Stück seiner Kleidung von ihr abnehmen und legte sich rücklings aufs Bett, verschränkte die Hände unter dem Hinterkopf, schaute sie erwartungsvoll an. Sie kniete neben ihn, beugte sich zu ihm hinab, küsste den aufgerichteten Penis rundum. Seine Hand schob ihr Negligé hoch und er entdeckte die Striemen auf ihrer Haut, war ganz hingerissen, fand es faszinierend, von einer kürzlich gepeitschten Frau verwöhnt zu werden. Er selbst brächte das ja nicht übers Herz, übers viel zu gutmütige, aber zugeschaut hätte er gerne, berichtete er. Die Bilder seiner Fantasie erregten ihn so sehr, dass er sich in sie ergoss, kaum dass sie die Lippen um das Glied geschlossen hatte.

Entspannt lag er danach neben ihr und forderte sie auf, ihm die Auspeitschung zu schildern. Natürlich ging ihn das wahre Geschehen nichts an, aber irgendeine Geschichte musste sie ihm wohl erzählen für all das viele Geld, das er für sie bezahlte. Die Gattin eines Kunden habe sie in dessen Beisein gepeitscht, erzählte sie. Dass es eine Frau gewesen war, imponierte ihm sehr und er wollte Einzelheiten wissen. Sie sei nackt an einen Deckenhaken gefesselt gewesen und die Frau habe einen Freudenslip getragen. – Was das sei? Sie erklärte es dem staunenden Mann. – Lange habe die sadistische Tortur gedauert und die Frau sei dabei zum Orgasmus gekommen.

Während ihrer Erzählung richtete sich der Penis langsam wieder auf in ihrer streichelnden Hand. Der Mann, der falsche Wolfgang, lächelte angeregt. „Selbst wenn du die Geschichte nur erfunden hast, ist sie ihr Geld wert.“ Er wälzte sie auf den Bauch und seine Hand drängte ihren Hintern hoch, sie winkelte die Knie an und sein Penis kam in ihren Schoß, dick und voller Verlangen.

Schon lange hatte sie hier keinen Mann mehr empfangen dürfen und entsprechend freudig erwiderte sie seine tiefen Stöße. Ob es wohl erlaubt war, vielleicht sogar üblich, dass es einem Mädchen wie ihr in einem der Liebeszimmer kam? Oder hatte man sich zurückzuhalten, da es ja schließlich um Arbeit ging und nicht ums eigene Vergnügen? Sie wusste es nicht, wusste ebenso wenig, wie sie eine solch übermenschliche Selbstdisziplin hätte aufbringen sollen, dann wollte sie nichts mehr wissen, denn unaufhaltsam brachen die Gefühle über sie herein wie Wasser aus einem geborstenen Damm … Der Mann war zufrieden mit ihr, sie mit ihm auch, doch ging es darum nicht. Sie erhielt ein Lob für ihr Temperament, seine Finger strichen über ihre Striemen, dann zog er sich an und verabschiedete sich mit den Worten, dass er sie seinen Freunden empfehlen werde.

Das befleckte Negligé landete in der Wäsche und sie streifte nach dem Bidet und der Dusche ein weißes langes hauchdünnes Gewand über, das ihren Körper wie ein Schleier umhüllte, ohne ihn zu verbergen.

Auch Laura hatte sich umgezogen, sie trug jetzt Rot, ein eng geschnürtes busenfreies Korselett mit gerüschten Strapsen, dazu rote Strümpfe – und blassrote Streifen, die ihren nackten Po zwar schwach, doch unübersehbar zeichneten, offenbar Spuren einer zaghaft geschwungenen Peitsche. Stammten sie von dem kleinen Mann, der so verdruckst aus dem Haus geflüchtet war, und hatte sie auf Iris warten müssen, um von Ketten befreit zu werden? Die arme Laura. Sehr leidend sah sie allerdings nicht aus, sie scherzte schon wieder mit einem der Gäste, fuhr sich mit der Hand durchs goldene Haar, folgte ihm zur Bar, wo er sie bezahlte, und ging mit ihm zu einem der Zimmer.

Auch für Silvia gab es bald einen neuen Interessenten, einen grauhaarigen, würdevollen Herrn, der höflich, aber bestimmt auftrat, perfekt artikulierte, präzise dachte und sprach, preußische Korrektheit ausstrahlte und sie mit einem Handkuss begrüßte. Im Zimmer angekommen, legte er mit der Kleidung auch die Höflichkeit ab: „Ich will dich in den Arsch ficken!“

Oh! Schrecken oder Empörung löste dieses Ansinnen nicht in ihr aus. Wieso auch? Es war ja nichts Neues.

 

Alles, was man so brauche, finde man in der Kommode, hatte Laura ihr vorhin gesagt. Vorsichtig öffnete Silvia die obere Schublade. Ui. Dildos lagen darin, Plugs, andere Dinge, die sie jetzt nicht näher in Augenschein nehmen konnte, und Gleitcreme. Mit dieser bereitete sie sich vor, interessiert von ihrem Gast beäugt. Er hatte in einem Sessel Platz genommen und sie musste sich auf seinen Schoß setzen, den Rücken ihm zugewandt. Mühelos durchstieß er die Rosette, glitt geschmeidig tiefer, ließ sie aufstöhnen, hielt ihre Brüste mit beiden Händen umfasst.

Sein heiseres Geflüster schlich in ihr Ohr. „Du bist sehr schön zugänglich dort hinten. Hat man dich präpariert?“

„Ja, das hat man“, keuchte sie.

„Und wie?“

„Mit einem Plug, den ich täglich eine Stunde lang in mir trug.“ Dass sie es auf Befehl ihres Gatten getan hatte, behielt sie für sich, brachte Wolfgang nicht mit in dieses Haus (nur in ihren Gedanken), hatte das Gefühl, dass die sklavische Unterwerfung unter den eigenen Mann beschämender sei als die Hingabe an einen Fremden, der durch Bezahlung das Recht auf sie erwarb.

„Man sollte das von jedem Weib verlangen.“ Zwei Finger drangen in ihren Schoß und noch tiefer bohrte sich der Pfahl, ergoss sich in sie. Reglos verblieb er in ihr und schweigend legte der Mann das Gesicht in ihren Nacken, blieb einige Minuten lang wortlos so sitzen, als schenke ihm ihre Nähe Frieden.

Auch dieser Mann verließ sie zufrieden und gelöst. Silvia glich einer guten Fee, die den Männern die Last des Begehrens nahm, die Dämme brechen ließ und angestaute Energie mitsamt ihrer Kälte, Härte und Wut empfing, die läuterte, milder stimmte, eine entspannte Erschöpfung hinterließ. Lange aber würde ihr Zauber nicht anhalten, bald würden die Triebe wieder erwachen, neue Wunden geschlagen werden und frischer Ärger sich sammeln, der Kreislauf nahm kein Ende, begleitete einen jeden Menschen von der Geburt bis zum Tod, vor ihm retteten auch nicht die raffiniertesten Genüsse.

Zweimal noch in dieser Nacht wurden ihre Heilkünste in Anspruch genommen von zwei harmlosen Gästen, die nichts Besonderes von ihr verlangten, einige obszöne Worte, heiser in ihr Ohr geflüstert, aufdringliche Hände an ihrem Körper, die Eroberung ihres Mundes und ihres Schoßes … Sie gab sich geduldig hin, ohne ein zweites Mal zum Höhepunkt zu gelangen, tat aber so, als würde es geschehen, schmeichelte der männlichen Ehre, wie es üblich war und notwendig, wollte man sich den Kunden erhalten, so hatte sie von den anderen Mädchen erfahren.

Als der letzte Freier das Haus verließ und die Pforte geschlossen wurde, war es vier Uhr in der Frühe. Nach und nach versammelten sich die Mädchen zu einem letzten Schluck an der Bar. Danielle, die noch nach Hause fahren wollte, hatte eine Hose und einen dicken Pullover angezogen und den Pelzmantel über ein Sofa gelegt, während die Mädchen, die hier wohnten, flauschige Hausmäntel oder hochgeschlossene Umhänge trugen, ebenso Annemarie, die ausnahmsweise bleiben wollte. Sie habe ein bisschen zu viel getrunken, um sich noch hinters Steuer zu setzen, sagte sie, und außerdem sei sie zum Fahren viel zu erschlagen nach dieser Nacht mit all der vielen Arbeit.

Ein dankbares Lächeln huschte zu Silvia herüber. „Schön, dass du uns so tatkräftig unterstützt hast.“

Silvia als selbstlose Samariterin? So ganz kam es wohl nicht hin. Wie es aussah, hatte sie die gesuchte Anstellung jetzt also gefunden, einfacher, als für möglich gehalten, ganz ohne Bewerbungsstress und ohne dass es jemanden gab, der sie ihr verbieten konnte. Erfüllend war die Arbeit auch, im wahrsten Sinn des Wortes. Nun wurde sie also bezahlt für das, was sich Wolfgang immer wie selbstverständlich genommen hatte. Und die Entlohnung war fürstlich. Fünf Kunden, das waren zweitausendfünfhundert Euro, die Hälfte ging ans Haus, blieben für sie noch eintausendzweihundertfünfzig. – Eintausendzweihundertfünfzig Euro in einer Nacht. Wenn das Wolfgang wüsste. Rechnete sie auf einen Monat hoch, kam sie auf ein Einkommen, von dem selbst er nur träumen konnte, obwohl er doch eigentlich sehr gut verdiente. Er könnte stolz auf sie sein, wäre vermutlich aber nur eifersüchtig, oder nein, sicherlich würde er nichts als Worte der Verachtung finden. Seine Meinung aber zählte nicht mehr. Sie nippte an ihrem Glas und heiß rann der Whiskey in ihre Kehle, brannte die Erinnerung an die Männer nicht weg, tat aber gut.

Ob sie das Geld jetzt gleich in bar haben möchte oder am Monatsende auf ein Konto überwiesen, fragte Immanuel. Sie machte es wie die anderen Mädchen, ließ es sich lieber überweisen, denn was sollte sie mit so viel Bargeld auf ihrem Zimmer? – Aber sie hatte ja gar kein Konto, musste sich erst eines einrichten. Morgen würde sie das tun, nein, heute noch, später, denn der neue Tag hatte ja schon längst angefangen. Eine Liste mit den eingenommenen Beträgen unter dem gestrigen Datum war bereits angelegt, sie musste nur noch ihren Namen dahintersetzen, die Sünde wurde ordentlich verwaltet, jeder Buchhalter wäre zufrieden gewesen. Auch die anderen Mädchen quittierten die Einnahmen durch ihre Unterschrift, wünschten Danielle eine gute Heimfahrt und gingen gemeinsam nach oben, erschöpft wie Soldatinnen nach überstandener Schlacht. Annemarie fand Zuflucht in einem der stets bereiten Gästezimmer und auch die anderen zogen sich zurück, tauschten zum Abschied matte Lächeln aus, und sachte wurden die Türen ins Schloss gezogen.

Silvia trank noch einen letzten Schluck Wein. Die Bilder des Abends liefen vor ihren Augen Revue, ob sie wollte oder nicht, und begleiteten sie ins Bett, seltsam aufwühlende, intensive, erregende Bilder, die sie trotz ihrer Müdigkeit nicht einschlafen ließen und ihre Hand zwischen die Schenkel lockten, hin zur kribbelnden Scham, die so tat, als hätte sie schon seit ewigen Zeiten keinen Mann mehr gehabt. Zärtliche Finger gaben ihr das Gewünschte …

Silvia schlief gut in dieser Nacht, tief und unbeschwert, ohne Sorgen.

Begegnung im Städtchen

Sie erwachte in der Mitte eines eisig klaren Tages. Blassgelb, klein und kraftlos stand die Sonne am makellos blauen Himmel, silbern glitzerte der Park, gepudert vom Reif, der nicht taute. Frühstück gab es keines mehr, stellte sie fest beim Blick auf die Uhr, fast schon war es Zeit fürs Mittagessen. Doch hatte sie keinen Appetit. Mehr als essen reizte sie ein kleiner Ausflug in die Stadt, einkaufen, das Konto einrichten, sich umschauen, vielleicht irgendwo einen Kaffee trinken. Sie machte sich frisch und zog sich an. Die zarten Strümpfe, die es im Schrank nur gab, wärmten kaum und mussten von Strapsen gehalten werden, waren aber besser als nichts, das Gleiche galt für das dünne schwarze Negligé, das sie überzog. Für drüber wählte sie ein schwarzes langes Kleid, das einzige hochgeschlossene im Sortiment, damit war sie für die Stadt gerüstet wie eine Touristin in Sommerkleidung für die eisigen Gipfel eines Gebirges.

Im Speicher des Telefons fand sie das Stichwort „Taxi“, stellte die Verbindung her und hörte das Freizeichen. Ebenso einfach, wie sie eine Verbindung nach draußen schaffen konnte, war sie per Telefon auch zu erreichen: die Nummer des Hauses und die Vierzehn dazu, dann war man mit ihr verbunden. Allerdings gab es niemanden, der die Nummer kannte, niemanden, der sie anrufen würde, sie war unerreichbar geworden für alle ihre Bekannte, verschollen, spurlos aus ihrer Welt verschwunden, es störte sie nicht, es gab kein Bedauern, obgleich … Mit Claudia hätte sie gerne mal wieder geredet, was aber ihr sagen? Sie würde nur auf Unverständnis stoßen, müsste sich Vorhaltungen, Mahnungen, Belehrungen anhören, niemals würde Claudia sie begreifen.

Das Taxi komme in zehn Minuten, wurde ihr von einer weiblichen Stimme mitgeteilt, der Fahrer werde vor dem Tor warten wie üblich. – Wie üblich? Es fuhr also öfter ein Taxi für eines der Mädchen vor, eine beruhigende Auskunft, gab das doch Hoffnung, nicht wie ein exotisches Wesen begafft zu werden, denn dass jeder in der kleinen Stadt über das Geschehen hinter den Mauern von Schloss Sinnenhof Bescheid wusste, musste sie doch annehmen. Sie schaute in den weißen Umschlag von Corinna und fand darin tausend Euro, eine Menge Geld und doch auch nicht, wenn sie daran dachte, dass sie in einer einzigen Nacht mehr eingenommen hatte. Die Männer waren verrückt, keine Frage.

Sie steckte die Hälfte des Geldes in ihr Portemonnaie, zog den warmen Mantel an und ging schon mal hinunter. Der Flur im Erdgeschoss führte am Foyer vorbei zum Personaleingang und sie gelangte auf den Parkplatz hinter dem Haus, auf dem die Mädchen und die Bediensteten ihre Autos abstellten. Das schmiedeeiserne Tor schwang lautlos vor ihr auf, wie von Geisterhand bewegt, und sie kam in den gepflasterten Hof, in dem kein einziges Auto stand. Das ganze Schloss wirkte wie ausgestorben und die Kälte sprang sie an wie ein wildes Tier. Sie schlug den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen.

Auf irgendwelche mysteriöse Weise gesteuert, öffnete sich vor ihr auch die kleine Pforte neben dem geschlossenen großen Haupttor, das ab vierzehn Uhr permanent offen stehen würde. Bibbernd lief sie in der Einfahrtsbucht hin und her, nahm sich vor, unbedingt auch warme Socken zu kaufen, und hoffte, dass das Taxi noch auftauchen würde, bevor sie erfroren war. – Da kam es endlich und hielt direkt vor ihr an. Rasch sank sie auf den Beifahrersitz, froh um die mächtig blasende Heizung.

Wenn sie gehofft hatte, dass die Mädchen des Hauses keine besondere Aufmerksamkeit erfahren mussten, sah sie sich getäuscht. Der Fahrer, ein junger Bursche mit langem Haar, starrte sie an, als erwarte er auf der Stelle ein Wunder von ihr. Er war wohl neu im Geschäft (wie sie ja auch) und hatte sich noch nicht so ganz unter Kontrolle (wie sie ja auch nicht, wenn sie an ihr gestriges Erlebnis mit dem Gast namens Wolfgang dachte).

Zur Fußgängerzone, sagte sie, als er sie ausgezogen hatte mit seinem aufdringlichen Blick, irgendwohin, wo man einkaufen könne. Er wendete den Wagen und preschte los, wobei er jetzt wenigstens den Blick von ihr losriss, um nach vorne zu schauen, womit es also Chancen gab, die Fahrt heil zu überstehen. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie einen roten Kleinwagen aus einem Waldweg auf die nur wenig befahrene Bundesstraße einbiegen.

Das Städtchen erwies sich als größer denn gedacht, es wurde umgürtet von hässlichen Industriegebieten, die sich weit in die Ebene erstreckten, und in seinem Kern, der sich zwischen sanfte Hügel schmiegte, wechselten sich funktionale Glas- und Betonbauten mit schmucken Fachwerkhäusern ab. Bei einer frühmittelalterlichen großen Kirche, die von einem neu gebauten Kaufhaus erdrückt wurde, begann die Fußgängerzone und ihr gegenüber kam das Taxi zum Stehen.

„Ganz in der Nähe befindet sich der Bahnhof“, sagte der Fahrer und wies in eine abzweigende Straße. „Dort finden Sie zur Rückfahrt mich oder einen Kollegen.“ Er bedankte sich für das Trinkgeld, und gebadet in seinen zudringlichen Blick, gesellte sie sich zu den wenigen Fußgängern, die vor der roten Ampel warteten. Hinter ihr hupte aufgebracht ein Bus, sie schaute sich um und sah, wie der Fahrer wild gestikulierend einen roten Kleinwagen vertrieb, der die Haltestelle blockierte. Sie befand sich wieder in der „richtigen“ Welt, die so gar nichts gemein hatte mit der Abgeschiedenheit „ihres“ Schlosses, erlebte verwundert den alltäglichen Kampf in der Arena der Normalität, er kam ihr vor wie ein absurdes Theaterstück. Aber nur keine Anmaßung, auch sie spielte darin eine Rolle, ob sie wollte oder nicht, wenn augenblicklich auch nur die einer Statistin, die frierend durch die Straßen lief.

Die Fußgängerzone glich denen anderer Städte, Betonpflaster mit „Natursteincharakter“ beschwor Nostalgie, im Kontrast dazu standen Filialen von Hamburgerketten, überregionalen Optikern und eines Fischvermarkters für die moderne Zeit. In den Kinos liefen die bekannten aktuellen Filme, viel Interessantes gab es also nicht zu sehen. Auch die Kaufhäuser mit ihren glatten Fassaden waren denen anderer Städte zum Verwechseln ähnlich, Klone, wohin man auch schaute, die sogenannte „Philosophie“ (wie achtlos doch mit den Worten umgegangen wurde) des Wiedererkennungseffektes erstickte jede Originalität.

Immerhin fand sie in einem der glitzernden Einkaufstempel schon bald das Gesuchte: baumwollene Slips, dichte Strumpfhosen, warme Unterhemden und wollene Socken. Sie ging nach dem Bezahlen noch einmal in eine Umkleidekabine und zog sich um, packte die Strümpfe, den Strapsgürtel und das Negligé in die Tasche, sie erfüllten im Foyer ihren Zweck, nicht in der Kälte des Tages.

 

Wie lange sie schon nicht mehr „richtig angezogen“ gewesen war, sie fühlte sich verpackt wie eine Mumie, gewärmt, geschützt, geradezu anständig, ganz ungewohnt, einer jeder biederen Hausfrau ebenbürtig, sich selbst entfremdet? Aber woher denn, es war praktisch so und angenehm, die Kälte verlor an Biss beim Rückweg durch die fremde Stadt, die eintönig und abweisend unter dem fahlblauen Himmel lag. Ganz in der Nähe der Kirche gab es eine Bankfiliale in einem protzigen neuen Gebäude, sie betrat es wenig erfreut, füllte die Formulare für die Kontoeröffnung aus und wurde von dem jungen Angestellten scheel beäugt, als er auf ihrem Ausweis die weit entfernte Adresse las. Noch skeptischer, aber auch interessiert wurde sein Blick, als sie ihm sagte, dass eventuell anfallende Post an Schloss Sinnenhof geschickt werden solle. Damit wusste also auch er Bescheid. Er überreichte ihr die Unterlagen mit einem schüchternen Lächeln und aufatmend verließ sie die Bank, froh, diese lästige Pflicht hinter sich zu haben.

Ganz in der Nähe aber gab es etwas Erfreuliches zu sehen: ein kleines Bistro, das mit Spaghetti Alfredo und Kaffee lockte. Sie nahm Platz an einem der runden Tische, verstaute die Plastiktüte mit den Einkäufen auf dem zierlichen Stuhl gegenüber und gab bei der wenig beschäftigten jungen Bedienung die Bestellung auf. Frisch wirkte das Mädchen mit dem kurzen blonden Haar, dem jugendlich rosigen Gesicht, dem knabenhaften Körper, den sie unter einer weiten Jeans und einem weißen T-Shirt verbarg, die reine Unschuld, die noch einen weiten Weg vor sich hatte bis zur frustrierten Ehefrau eines missmutigen Gatten und entnervten Mutter quengelnder Kinder. Sie stakste zur Theke mit hölzernem Schritt und Silvia wandte den Blick zur Tür, da ein neuer Gast das Bistro betrat – kannte sie den nicht, war er das wirklich?

Er war groß, von fast hünenhafter Statur, sein Gesicht wurde von einem dunklen Schatten überzogen, voll waren die Lippen, grünlich grau die Augen. – Ja, das war er, „ihr“ Aufseher vom vergangenen Sommer, ganz eindeutig. Er trug einen langen dicken Lodenmantel, hatte den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Taschen vergraben. Ein dicker Schal, zweimal um den Hals gewickelt, drohte ihn zu ersticken, seine hohen Schuhe, mit langhaarigem Pelz besetzt, schienen direkt von einem Eskimo zu stammen, eine Fellmütze bedeckte den Kopf, aus dickem Fell auch bestanden die halbrunden Schoner über den Ohren. Offenbar war er fürs Überwintern am Nordpol ausgerüstet.

Mit einem erfreuten Lächeln stapfte er zu ihr her und leise, fast schüchtern erklang seine rostige Stimme: „Hallo, Silvia, schön, dich zu sehen. Darf ich mich setzen?“

Er durfte, ja, auch sie freute sich, ein bisschen jedenfalls. „Das ist aber ein Zufall, dass wir uns hier begegnen.“ Sie nahm die Tüte vom Stuhl, stellte sie auf den Boden, um Platz für ihn zu schaffen.

„Ja, kaum zu glauben“, murmelte er. „Wie geht’s dir denn?“ Sonderlich überrascht schien er nicht zu sein, sie hier in dieser Stadt anzutreffen, in der er sie doch eigentlich nicht vermuten konnte. Er fragte nicht, was sie hier tue, ob sie vielleicht nach hierher umgezogen sei oder sich zu einem Kurzurlaub hier befände, nahm ihre Anwesenheit einfach wie selbstverständlich hin.

„Danke, ganz gut.“ Warum sie es plötzlich peinlich fand, ihm von ihrer Rückkehr nach Schloss Sinnenhof zu erzählen, war ihr ein Rätsel, da sie vor diesem Mann doch wirklich keinen guten Ruf zu verlieren hatte. Ihre Stimme aber erstarb.

Er bestellte bei der Bedienung einen Kaffee. Wenn diese wüsste, wen sie da vor sich hatte, wäre ihr Lächeln vielleicht ein bisschen weniger freundlich ausgefallen, vielleicht aber auch nicht. Silvia überlegte derweil, wie sie ihn ansprechen solle. Ihr Behüter war er nicht mehr, das unterwürfige Ihr stand also nicht zur Debatte. Sie vielleicht? Aber hatte er sie nicht geduzt und konnte sie sich nicht Gleiches erlauben? Es fiel ihr nicht leicht, sie musste sich überwinden, doch sprach sie das Du dann aus, das sie sich ihm gegenüber niemals hätte erlauben dürfen im vergangenen Sommer: „Bist du noch auf dem Schloss?“

„Ja“, antwortete er atemberaubend lakonisch.

Ein beredtes Schweigen umschloss sie beide, ließ sie zu Verbündeten einer gemeinsamen Erinnerung werden, ob sie wollten oder nicht. Bilder tauchten auf. Silvia sah ihn in seiner Aufsehermontur, sah ihn mit dem Buch in der Hand und mit der Peitsche, sah sich im langen Gewand seinen Blicken ausgeliefert, sah sich den Freudenslip anlegen und vor ihm knien, um ihn um Nachsicht zu bitten … Vermutlich ähnelten seine Bilder den ihren.

„Ich habe oft an dich gedacht“, sagte er.

Konzentriert rührte sie in ihrem Kaffee. „Ich kann es mir vorstellen.“

„Nicht so, wie du vielleicht glaubst. Anders. Als ich von der Herrin gestern erfuhr, dass du wiedergekommen bist …“ Er unterbrach sich verlegen und senkte den Blick, wie sie es vor ihm immer getan hatte.

Er wusste also Bescheid, hatte sich deshalb über die Begegnung nicht gewundert. Sein Kaffee kam und ihr Essen auch. Nachdenklich wickelte sie einige Spaghetti um die Gabel. War diese Begegnung hier wirklich ein Zufall? So recht konnte sie daran nicht mehr glauben.

Sie nahm einen Bissen und schaute ihn an. „Ist wirklich komisch, dass wir uns in dieser gar nicht so kleinen Stadt kurz nach meiner Ankunft über den Weg laufen. – Fährst du zufälligerweise einen roten Kleinwagen?“

Er seufzte tief, kratzte sich sinnierend am nicht mehr bedeckten Kopf, trank einen Schluck Kaffee, seufzte ein zweites Mal, nickte ertappt und gestand, dass er im Auto in der Nähe des Schlosses gewartet hatte in der Hoffnung, dass sie vielleicht in die Stadt führe, was ja glücklicherweise auch geschehen war. Er könne es nicht ändern, jedenfalls habe er den innigen Wunsch verspürt, sie wieder einmal zu sehen, wieder einmal ihre Stimme zu hören, ihr nahe zu sein …

Oh. Klang das nicht wie eine schüchtern verbrämte Liebeserklärung? Na ja, ein bisschen war sie geschmeichelt, fand diesen Mann auch sympathisch, hatte ihn damals schon gemocht, vielleicht in manchem Augenblick sogar mehr als das, aber … Zu neu war das neue Leben, zu ungefestigt, zu aufregend, als dass so etwas wie Liebe derzeit darin hätte Platz finden können. (Aber wieso „derzeit“, war dem nicht schon lange so?)

Sie wich aus: „Du hast im Auto gewartet bei dieser Kälte? Du musst ja halb erfroren sein.“ Statt „halb erfroren“ hätte sie auch „verrückt“ sagen können, es meinte das Gleiche.

„Na ja, sehr angenehm war es nicht. Aber es hat sich gelohnt.“

Hatte es das? Was wollte er von ihr, was erwartete er, welchen Fantasien hing er nach? „Ich bin keine Sklavin mehr.“ Den Zusatz „jedenfalls nicht deine“, ersparte sie sich lieber.

„Ich weiß. Ich habe dich auch nie als Sklavin gesehen.“ Er bemerkte die Zweifel in ihrem Blick und korrigierte sich. „Höchstens vielleicht ganz am Anfang.“ Die gespitzten Ohren der Bedienung wiesen darauf hin, dass dieses Bistro nicht der rechte Ort für eine solche Unterhaltung war. Helmut (Silvia hatte seinen Namen nicht vergessen) schaute auf seine Armbanduhr, die er unter diversen Schichten von Pulloverärmeln hervorwühlte. „Ich habe Abendschicht und muss bald gehen. Können wir uns mal treffen, nächste Woche vielleicht? Da habe ich frei.“

Warum nicht? Nächste Woche würde sie ihre Tage haben und für das Foyer nicht zur Verfügung stehen. Bevor sie alleine in ihrem Zimmer saß … Sie sagte, wie sie zu erreichen war, die Nummer des Schlosses gewählt (die er natürlich kannte) und die Vierzehn dazu (das ließ sich einfach merken). So war er denn nun der Erste, dessen Anruf sie erwarten konnte. Er wollte ihre Rechnung bezahlen, doch ließ sie das nicht zu, sicherlich verdiente sie mehr Geld als er, was sie ihm natürlich nicht sagte. Dass sie seinen Kaffee gleich mitbezahlte, schien seine Ehre nicht zu verletzen, anscheinend war er trotz seines anachronistischen Jobs ein halbwegs modern denkender Mann. Beim Gedanken an die aufdringlichen Blicke der Taxifahrer schlug sie vor, dass er sich erkenntlich zeigen und sie zum Schloss mitnehmen könne.