Wie Kinder sprechen lernen

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Die ersten Bedeutungen

Einige Wörter stehen als Globalwörter für eine ganze Situation:


aua: kann alles bedeuten, was mit Schmerz zu tun hat, was weh tut oder womit man sich weh tun kann, wie Nadel oder Schere.
lecker/mhm: ist lecker, schmeckt gut, hab Hunger, hab Durst; mein Essen.

Kinder verfallen auf wirkungsvolle Kürzel:


mit: ich will mitgehen, mitspielen, mitfahren …
mal: ich will das noch mal, noch etwas essen, noch mal streicheln …

Viele Kinder drücken diesen Wunsch statt mit mal mit mehr aus; Gisa verfiel auf das Wörtchen ein, das sie wohl aus Äußerungen wie »Noch ein Löffelchen, ein Löffelchen für Papa, ein Löffelchen für Mama« ableitete. Der Zufall spielt mit!

Andere Wörter orientieren sich in ihrer weiträumigen Bedeutung an einem bestimmten Merkmal, etwa wenn Ball alles einschließt, was rund ist. Für die zweisprachige Olivia sind alle Männer papá, alle Kinder, auch Achtjährige, bébé. So werden anfangs etwa ein Viertel der Wörter in einem größeren Bedeutungsumfang gebraucht, als ihnen zukommt. Auto kann z.B. auch für Motorrad, Fahrrad, Laster, Flugzeug und Hubschrauber gebraucht werden. Merkmale, nach denen die Kinder die Bedeutung gruppieren, sind vor allem die Form, wie bei Ball, aber auch die Größe, der Schall, die Bewegungsart wie beim Wort Auto, der Geschmack, die Textur. »Mit machen kann?« war eine Zeitlang eine Standardfrage von Gisa. Wichtig ist also noch ein anderes Merkmal, der funktionale Aspekt eines neuen Gegenstands, nicht nur, was das Ding tut (wauwau, muh), sondern was man selbst damit tun kann: etwas zum Rollen, zum Beißen, zum Streicheln usw. Georg hieß der Bauer gegenüber, der meist auf dem Traktor saß, und bald hieß jeder Traktor, Bagger und Erdschieber »Georg«: auch solche Verschiebungen wie hier vom Menschen auf die Maschine oder auch vom Teil aufs Ganze und umgekehrt kommen vor. Elemente, die in Raum und Zeit zusammen vorkommen und eine Erlebniseinheit gebildet haben, können füreinander eintreten. So beginnt der sprachliche Erkennungs- und OrdnungsdienstSprachesprachlicher Ordnungsdienst.1

Einige Beispiele von verschiedenen Kindern:


ohm (oben): nach oben, aber auch nach unten; Treppe rauf oder runter
piepiep: beim Anblick von Vögeln; dann auch Insekten
baba: wenn Bubi aufs Töpfchen geht, schmutzig, unsauber; dann auch unordentlich und unartig
huh, huch: zuerst Schaudern bei Kälte; dann auch heiß; endlich alles Unheimliche, z.B. das dunkle Zimmer; ähnlich bedeutet heiß alles, was von der normalen Temperatur abweicht, also heiß sowie kalt
hoot:
abpellen: für Kartoffeln wie für Obst, wird aber auch zum Knacken von Nüssen gesagt
merci: Olivia sagt merci, wenn sie etwas bekommt, aber auch, wenn sie selbst etwas überreicht

Allerdings konnte man nachweisen, daß Kinder beispielsweise Auto oder das lautmalerischeLautmalerei brrm zwar auch im Sinne von Kinderwagen, Flugzeug oder Motorrad verwendeten, zugleich aber bei Sortieraufgaben sehr wohl schon zwischen Auto, Motorrad, Fahrrad usw. unterschieden. Es wäre auch verwunderlich, wenn die Kinder, die etwa rot für alle Farben, Bonbon für alle Süßigkeiten oder Milch als Sammelbezeichnung für Getränke gebrauchen, den Unterschied nicht sehen bzw. schmecken würden. Die Beschränkung liegt zumeist in ihrem sprachlichen Vermögen, nicht in der Auffassung von Welt. Möglicherweise machen sich’s die Kinder beim Sprechen einfach, entweder weil sie die korrekte Bezeichnung noch nicht kennen bzw. sich nicht an sie erinnern oder weil ihnen die richtige Lautgestalt noch zu schwierig ist. Allmählich werden die korrekten Bezeichnungen erworben, manchmal über Zwischenstationen wie Himmel-Auto oder Piepiep-Auto für Flugzeug.

Leichte Wörter sind immer solche, die durch Anschauung gestützt werden, wie wauwau und piepiep. Wauwau wird meist für alle Vierbeiner gebraucht; später eingeschränkt auf Hunde, wird dann aufgegeben zugunsten von Hund. Übergangsformen wie »Wauwau-Hund« oder »Piepvogel« zeigen sehr schön, wie die anschauliche, lautmalende Kinderbezeichnung die Brücke zur unanschaulichen konventionellen Bezeichnung bildet. Wauwau bleibt aber noch der Name für den Stoffhund, der mit ins Bett kommt.

Kinder wuchern einfach mit den wenigen Pfunden, die sie haben. Sie weichen auf ein nahe liegendes anderes Wort aus oder erfinden »Passe-partout-Wörter«, ähnlich wie wir uns mit Dingsbums aushelfen, wenn uns gerade das Wort nicht einfällt. So nennt der 17 Monate alte Bubi viele Dinge, die er nicht kennt, einfach mam, wie weiße Steine, Seife, Wachs, Siegellack und Kork.3

Gewöhnlich geht also der Weg von einer überdehnten, umfassenden Bedeutung zur eingeschränkten, passenden Bedeutung. Das Kind greift zu weit aus, als ob es mit wenigen Wörtern die ganze Welt vereinnahmen möchte. So muß Bubi noch den beschränkten Anwendungsradius von blond lernen. Als Dreijähriger nannte er seine Hafersuppe und einen Goldring blond. Aber es gibt auch den umgekehrten Fall der Bedeutungs-Schrumpfung, d.h. einer zu engen statt zu weiten Bedeutung, etwa wenn Dorothee das Wort nackt bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres nur im Sinne von nackte Füße, barfuß verwendet und dann erst diese Beschränkung aufhebt.4 Solche Unterdehnungen fallen gewöhnlich nicht weiter auf, da das Wort ja, wenn angewendet, immer richtig angewendet wird.

Einwortsätze

Die ersten Wörter des Kindes sind jeweils Einwortäußerungen, die man in Kenntnis der Situation in vollständige Sätze verwandeln kann. Je nach Situation und Betonungskontur ist Ba ein Wunschsatz: »Ich möchte meinen Ball haben«, und ein anderes Mal eine zufriedene Feststellung: »Jetzt hab ich meinen Ball« oder auch eine Frage.


Papa? (Draußen hält ein Wagen, Türen klappern)
Papa! (Papa ist da und wird herbeizitiert)
Papa! (streckt ihm die Arme entgegen: Heb mich vom Schaukelpferd!)
Papa!

Das letzte Beispiel zeigt, wie sehr die Gefühlswelt schon entwickelt ist und man sich trotz minimaler Sprache verständigen kann. Wenn Mutter böse ist, bleibt mir nur die Flucht zum Vater, der mich trösten kann. Sollte das überinterpretiert sein? Wir übernehmen die Deutung der Mutter, wie wir auch Clara SternsStern, Clara und William Deutung im folgenden Beispiel übernehmen. Es zeigt, wieviel Einwortsätze leisten können:

Auf dem Spielplatz wollte sie eben nach der Schaufel eines anderen Kindes greifen; plötzlich besann sie sich, als ob ihr hier die EigentumsfrageEigentum aufginge; sie ließ die Schaufel liegen, sah die Mutter verständnisvoll an und sagte: »Kind«? = Die Schaufel gehört dem Kind, nicht wahr?2

Naturgemäß dominieren leicht verständliche Aufforderungen an den Partner wie:


änte (Hände) = Nimm mich auf den Arm
ssoss = Nimm mich auf den Schoß
nasse

Oft sind es auch von Emotionen bestimmte Hinweise: dida = Da ist die Tick-Tack! Wauwau = Da, sieh doch, mein Wauwau! Überraschung, freudige Bewunderung, Entzücken mischen sich hinein, die Gefühle dominieren. Das BenennenNennfunktion, Benennen kommt erst dann rein zur Geltung, wenn das Kind anfängt, nach den Namen zu fragen, etwa mit der Formel: Isn das?

 

Von Interesse mag noch sein, dass Hauptwörter als häufigste Wortklasse vorkommen. Einige Kinder verhalten sich aber auch ganz anders. Sie gebrauchen nämlich überwiegend FunktionswörterFunktionswörter wie da, das, ab, an und soziale Routinen wie ja, hallo, danke. Das Normkind ist eine Kunstfigur.4

Helen KellerKeller, Helens Gedankenblitz: das Erlebnis des Bedeutens


Fräulein SullivanSullivan, Anne liest Helen KellerKeller, Helen vor, indem sie die Wortzeichen mit ihrer rechten Hand auf die Innenfläche von Helens rechter Hand tastet.

Die Erkenntnis, daß die Dinge ihren Namen haben, wächst wohl allmählich. Alles Sprechen ist ja von Anfang an in Situationen eingebettet, in denen viele Faktoren zugleich ein Verstehen bewirken. Es läßt sich normalerweise kein Moment festhalten, in dem einem Kind der ZeichencharakterZeichen, anders gesagt: die Darstellungs- oder Nennfunktion von Sprache, offenbar wird.

Wir haben jedoch einen Fall von »wahrhaft gewaltigem Erkenntniswert«, bei dem diese Grunderfahrung des Nennens zu einem einmaligen Aha-Erlebnis zusammengezogen wurde.1 Helen KellerKeller, Helen erblindete und ertaubte mit 19 Monaten. Als sie fast sieben Jahre alt war, kam sie in die Obhut von Anne SullivanSullivan, Anne, einer begabten, gerade 19 Jahre jungen Frau, die selbst leicht sehbehindert war. Den Tag, an dem Anne Sullivan als Hauslehrerin bei den Kellers einzog, bezeichnete Helen später als den wichtigsten Tag in ihrem Leben. Anne Sullivan, ihre geistige Mutter, blieb zeit ihres Lebens Pflegerin, Dolmetscherin und Gesellschafterin von Helen, die sich später als Sozialistin und Pazifistin einen Namen machte und im Dienste von Blindenorganisationen um die Welt reiste. Helen Kellers Die Geschichte meines Lebens ist eigentlich eine Gemeinschaftsproduktion der beiden. (Den Erlös aus der deutschen Übersetzung hat sie den deutschen Kriegsblinden aus dem Ersten Weltkrieg gestiftet. Die Nazis haben ihre Bücher verbrannt – der Dank des Vaterlandes …)

Der Unterricht beginnt, indem ihr Anne eine Puppe schenkt, sie eine Weile damit spielen läßt und ihr dann das Wort Puppe in die Hand buchstabiert. Dabei benutzte sie die Rochester-Methode, bei der das traditionelle Fingeralphabet auf eine Hand konzentriert wird und mit der Taubblindetaubblind auch untereinander kommunizieren können.Lorm, Hieronymus2

Somit ergibt auch ein kurzes Wort wie Puppe (doll) ein kompliziertes Muster. Was macht Helen damit? Sie versucht, das Muster nachzumachen, und freut sich, wenn es ihr gelingt. So lernt sie über mehrere Wochen noch viele »Wörter«: Es sind im Grunde nur verschiedene taktile Reizfolgen ohne Bedeutung. Allmählich stellt sich aber eine Gedankenverbindung her, denn ihre Lehrerin buchstabiert ihr das Muster immer nur dann, wenn sie unmittelbar zuvor die Sache selbst berührt hat. Oder: Helen hält den Gegenstand in der einen Hand, und die Zeichen dafür werden ihr in die andere geschrieben. Helen »fragt« sogar schon nach »Wörtern«: wenn sie auf etwas zeigt, dann die Hand ihrer Lehrerin tätschelt, erwartet sie von ihr ein bestimmtes Reizmuster zum Nachmachen. Das in die Hand getippte und gestreichelte Muster gehört irgendwie zum betasteten und erfühlten Gegenstand dazu. Aber sie ist noch nicht zur vollen Klarheit gelangt. Das Reizmuster ist mehr ein Anhängsel als ein Stellvertreter der Sache, noch kein Zeichen für etwas. Manchmal gibt es Ärger. Helen will nicht akzeptieren, daß Anne ihr das gleiche Muster für zwei ganz verschiedene Puppen in die Hand tippt, und wirft die Puppe wütend auf den Boden, wo sie zerschellt.

Schwierigkeiten gibt es auch beim Auseinanderhalten von Becher (mug), Milch und Trinken. Für Helen fällt das eher in ein Ereignis zusammen. Die Dinge und die damit regelmäßig verbundenen Tätigkeiten sind ungeschieden, sind »AktionsdingeAktionsding«: zum Ball gehört der Kick, zur Puppe das Spielen, zum Kuchen das Aufessen, zur Milch das Trinken. Anfänglich bezeichnen viele Kinderwörter ein solches Erlebnisganzes: quak-quak ist zugleich Ente, Wasser, Teich.

Über das entscheidende Erlebnis berichtet die Lehrerin:

Als ich sie heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. Wenn sie die Bezeichnung für etwas zu wissen wünscht, so deutet sie darauf und streichelt mir die Hand. Ich buchstabierte ihr w-a-t-e-r in die Hand und dachte bis nach Beendigung des Frühstücks nicht mehr daran. Dann fiel es mir ein, daß ich ihr vielleicht mit Hilfe des neuen Wortes den Unterschied zwischen mug und milk ein- für allemal klarmachen könnte. Wir gingen zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Öffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da… Sie buchstabierte das Wort water zu verschiedenen Malen. Dann kauerte sie nieder, berührte die Erde und fragte nach deren Namen, ebenso deutete sie auf die Pumpe und auf das Gitter. Dann wandte sie sich plötzlich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte ihr teacher in die Hand.3

Helen selbst schreibt dazu:

Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhaft verschwommene Erinnerung an etwas Vergessenes, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens, und einigermaßen offen lag das Geheimnis der Sprache vor mir. Ich wußte jetzt, daß w a t e r jenes wundervolle kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand hinströmte.4

Wasser war das ZeichenZeichen, das den Weg zu allen weiteren Wörtern wies. Helen erlebt es wie einen Gedankenblitz. Dennoch kein Blitz aus heiterem Himmel, sondern einer, der sich angekündigt hatte. Es war ein Kulminationspunkt, in dem das, was in wenigen Wochen angebahnt wurde, zusammenkam.

Ich verließ den Brunnen voller Lernbegier. Jedes Ding hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken. Als wir in das Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand, den ich berührte, vor verhaltenem Leben zu zittern.5

Normalsinnige Kinder gleiten unmerklich in die Erkenntnis hinein, daß Dinge, Eigenschaften, Tätigkeiten und Vorgänge Namen haben können und daß umgekehrt die Geräusche, die wir mit unserem Mund erzeugen, etwas »bedeuten«. Wenn Kindern dieser natürliche Weg zunächst verwehrt wird, kann dieses Erkennen bewußt erlebt werden. Blitzartig leuchtet die Erkenntnis auf, wird ein Zusammenhang klar. Dieses Erlebnis ist von freudiger Erregung begleitet.

Es gibt mittlerweile weitere Berichte über Gehörlose, in denen dieser dramatische Moment geschildert wird. So schreibt die Gebärdendolmetscherin Susan SchallerSchaller, Susan über den Unterricht, den sie einem siebenundzwanzigjährigen Taubgeborenen erteilt. Als sie ihm die GebärdeGebärdensprache für Dein Name? vormachte, imitierte er diese einfach wie Helen, ohne sie als Zeichen für eine Frage zu verstehen. Der Durchbruch kam nach tagelangen Versuchen, in denen er zigmal Gebärdenwörter wiederholt hatte, besonders das Zeichen für Katze, ohne eigentliches Verständnis. Doch plötzlich war es keine Geste mehr, mit der man nichts weiter anfangen konnte, als sie nachzumachen, weil es offenbar so erwartet wurde. Es wurde etwas ganz anderes, und seine Lehrerin jubelt:

Er hatte es geschafft! Er hatte verstanden, hatte denselben Strom durchquert wie Helen KellerKeller, Helen, als sie am Pumpbrunnen plötzlich den Zusammenhang zwischen dem Wasser, das über ihre Hände floß, und dem Wort water herstellte. Ja, W A T E R und C A T bedeuteten etwas! Und die Bedeutung von Katze in der Vorstellung des einen Menschen konnte die Bedeutung von Katze in der Vorstellung eines anderen wachrufen, wenn man ein Symbol – ein Wort oder eine Gebärde für Katze benutzte.6

Auch bei doppelt behinderten, taubblinden Kindern haben wir mittlerweile weitere Zeugnisse über ein solches Aha-Erlebnis. Ein Film zeigt, wie ein taubblindes Kind unterrichtet wird, indem man ihm z.B. einen Apfel in die Hand gibt oder einen Ball und ihm dann das Wort in die Hand buchstabiert.

Man sieht, wie das Kind aufmerksam mit der Hand lauscht, und als es endlich den Bedeutungszusammenhang zwischen Zeichen und Objekt erfaßt hat, hüpft es vor Freude in die Höhe. Ist dieser Durchbruch einmal geschafft, lernen die Kinder mit großem Eifer und überraschend schnell.7

Das Tor zur Bezeichnung der Welt ist aufgestoßen.

Das Wort: ZeichenZeichen statt Zugabe

Bedeuten und Benennen stellen eine besondere Form der Gedankenverbindung dar. Ein Name ist mehr als eine lose Assoziation. Helen hatte schon eine Zeitlang die Dinge mit den dazugehörigen taktilen Reizmustern verknüpft, bevor sie die besondere Art symbolischer Verknüpfung begriff.

An Kindern, die – aufgrund eines genetischen Defekts – nur sehr langsam Sprache erwerben, kann man mitunter deutlich beobachten, wie sie über längere Zeit hinweg Wörter äußern, ohne zu ihrem eigentlichen Sinn vorzudringen. Die Wörter werden aus Gewohnheit mit Sachen und Situationen verknüpft, aber ohne symbolisches Verständnis. Da die Wörter im Grunde funktionslos bleiben, werden sie auch schnell wieder vergessen.

So besteht eine sprachliche Besonderheit autistischerAutismus Kinder darin, daß sie irgendwann ein Stück Sprache aufschnappen, um es dann stereotyp bei – aus ihrer Sicht – passenden Gelegenheiten zu verwenden (vgl. S. 222f.). Typisch für dieses Verhalten ist folgende Episode:

Vor einiger Zeit habe ich Frank erklärt, daß er nicht mehr so viel Papier bekommen kann, weil dann immer gleich »der Mülleimer voll ist.« Wann immer jetzt von Papier die Rede ist, sagt er »Mülleimer voll«! Natürlich freuen wir uns, daß er überhaupt Zweiwortsätze spricht.1

Ein anderes Kind verwendete das Satzfragment »partly heard song« im Sinne von »I don’t know« – als ob eine Assoziation plötzlich einrastet und man von ihr nicht mehr loskommt.2 Wer nicht bei der Ausgangssituation dabei war, kann sich keinen Reim darauf machen. So dauerte es jahrelang, bis die Eltern der autistischen Elly dahinterkamen, warum sie im Alter von vier Jahren das französische Kinderlied »Alouette« sang, wenn ihr nach dem Waschen die Haare gekämmt wurden. »Alouette« klang wie »all wet«.3 Wörter oder Satzfragmente werden gewissermaßen leitmotivisch verwendet. Sie erinnern an etwas, stellen also eine Verknüpfung her, ohne eigentlich zu verweisen und zu benennen. Erst sehr allmählich wird der Schritt zur symbolischen GleichungSymbolische Gleichung, symb. Verdoppelung getan: Etwas tritt für etwas ein, verweist auf etwas anderes, als es selbst ist, kurz: bedeutet etwas.

Das Als-ob-Spiel

KainzKainz, Friedrich spricht von der Symboltüchtigkeit des Menschen, seinem Symbolbewußtsein, seiner »entscheidenden Wendung zum Symbol«.1 Griechisch »symbolon« ist das, was »zusammengefügt« ein Ganzes ergibt. So gilt die Taube als Symbol des Friedens: Das wahrnehmbare Tier und die nichtwahrnehmbare Idee werden zusammengefügt. Oder die Lautung »Apfel« wird mit einer Baumfrucht verknüpft und kann daher stellvertretend auf sie verweisen.

Mit der sprachlichen SymbolfunktionSymbolfunktion hängt nach PiagetPiaget, Jean auch das symbolische Spiel oder Als-ob-SpielAls-ob-Spiel zusammen (das wir im zweiten Kapitel schon Deutungs-, Fiktions-, Illusions- oder Phantasiespiel genannt haben, engl. pretend play). Es tritt im Alter von zwölf oder dreizehn Monaten ziemlich plötzlich und zeitgleich mit den ersten Wörtern auf. Bei verzögerter Sprachentwicklung verspätet sich auch das Symbolspiel.2


Entwicklung der symbolischen Spiele Bubi Scupins: Charlotte BühlerBühler, Charlotte (1967, 134) hat Bubi Scupins Spiele in Funktions-, Fiktions-, Rezeptions- und Konstruktionsspiele aufgeteilt. Die Kurve zeigt den prozentualen Anteil der Fiktionsspiele (= symbolischen Spiele) vom Hundert aller Spiele.

 

Plötzlich können nun Kinder so tun, als ob: als ob sie schliefen, sich wüschen, sich kämmten. Und danach können sie auch so tun, als ob ein Klötzchen ein Auto wäre. Sie kündigen an, was sie bauen wollen und was ihre Bauklötzchen darstellen. Gisa will z.B. einen Hühnerhof bauen und legt einen Kreis von dicken Klötzchen. Die kleinen Klötzchen in der Mitte sind dann die Hühner usw. »Hildes Spiel lässt sie aus allem alles machen. Eben z.B. hat sie ein viereckiges flaches Stückchen Holz in der Hand, mit dem sie spielt wie mit einem Ball. Plötzlich legt sie sich’s auf den Kopf und zeigt sich mir: ›schönen Hut‹; dann nach einer Weile wiederum: ›is Thaler‹«, notiert Clara SternStern, Clara und William über ihre Zweieinhalbjährige. An Einfällen sind die Kinder nicht verlegen, sie fließen ihnen nur so zu. Wer da mitmacht, dem teilt sich nicht nur die kindliche Daseins- und Betätigungsfreude mit, er bereichert auch das kindliche Sprach- und Alltagswissen.

Zwar wird das Symbolspiel auch von Erwachsenen oder älteren Geschwistern eingeführt, aber es überrascht doch, wie leicht es Kindern fällt, gegen den Augenschein zu handeln und dabei Legosteine als Geldscheine anzusehen oder einen Schemel zum Bus umzufunktionieren. Ist das nicht eigenartig, daß Kinder dazu bereit sind, obwohl sie doch gerade erst lernen, was ein wirklicher Geldschein ist! Müßten nicht sogleich pädagogische Bedenkenträger auftreten, die davor warnen, das Kind zu verwirren, wenn wir nicht täglich vor Augen hätten, wie problemlos das SymbolspielSymbolspiel verläuft? Probleme gibt’s also umgekehrt, wenn das Kind keine Anstalten macht, beim Symbolspiel mitzutun.

Auch in Bubis Augen kann sich bei diesem Spiel praktisch alles in alles verwandeln, und er nimmt sein Spiel sehr ernst: Als er 32 Monate alt ist, zerstören seine Eltern – ausnahmsweise, aus Forscherneugier – Bubis Deutung:

Beim Spiel kommt es immer häufiger vor, daß das Kind etwas zu sehen vorgibt, was nicht da ist, und wünscht, daß wir auf seine Phantasien eingehen. Z.B. tut Bubi so, als lege er uns etwas in den Schoß und sagt: »Ich bin ein Briefträger und hab’ dir viele Karten gebringt, hier!« oder er preßt die Fingerspitzen fest zusammen und bohrt sie in unsere Hand: »So, hier ist viel Gelten!« (Geld). Geben wir uns nun den Anschein, als sähen wir tatsächlich das Geld, und danken ihm dafür, so ist der kleine Kerl glücklich, als wir aber einmal versuchsweise das Spiel durch die Frage störten: »Wo ist Geld? Ich sehe keins!« stritt er weinerlich: »Hier is aber Geld!« und die ganze frohe Spiellaune war ihm verdorben.3

Natürlich weiß das Kind zwischen Illusion und Wirklichkeit zu scheiden: Die Banane, die zeitweilig zum Telefon umfunktioniert wird, wird am Ende aufgegessen. Aber es war doch abgemacht und damit real, könnte Bubi protestieren (wenn auch von ihm ausgehend und bloß vorübergehend), so wie ja alle Wörter zwischen den Menschen abgesprochen sind. Es kann nicht genug erstaunen, daß ein Kind die Dinge in der Vorstellung schon manipulieren kann, die es eben erst ordnend zu benennen beginnt. Bereits im Symbolspiel zeigt das Menschenkind, dass es auf FreiheitDenkenFreiheit des Denkens (durch Sprache) angelegt ist. Was kümmert’s mich, wie die Dinge sind? Ich kann ja so tun, als ob, und die andern müssen nur mitmachen. Und darin steckt viel mehr als ein Kinderspiel. Denn nicht nur das kindliche Legogeld, auch unser »richtiges« Geld ist ein Als-ob-Spiel. Papiergeld, das keinen eigenen Sachwert mehr hat, funktioniert nur, solange wir alle daran glauben und die Fiktion aufrecht erhalten. Fiktionen, unsere Fantasieprodukte, sind nur durch Sprache möglich, »mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben können, die es in der physischen Realität gar nicht gibt.« Ich kann von Dingen reden, als ob es sie gäbe. Eine ungeheuer folgenreiche Möglichkeit. Nur die Menschen erzählen sich Geschichten, erfinden Mythen und Legenden, und das fängt mit Als-ob-Spielen an. Schon hier zeigt sich die der Sprache innewohnende beispiellose Dynamik.4