Wie Kinder sprechen lernen

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Der Vorsprung des Hörens

Sprechen ist auf das Hören angewiesen. Wenn jemand völlig ertaubt, muß er ständig Spezialübungen absolvieren, um seine Artikulation so zu erhalten, daß man ihn gut versteht. Obwohl er jahrelang gesprochen und damit seine Sprechorgane bestens eingestellt hat, braucht er die Rückmeldung der Ohren. Für Taubgeborene ohne Hörreste ist die Anbildung einer Lautsprache eine Plackerei, und ihre Artikulationen bleiben den meisten unverständlich. Das Wunder des Sprechenlernens beginnt mit dem Hören, denn die Ohren sind der Reglerknopf, mit dem wir unsere Sprechorgane einstellen.1

Beim normalsinnigen Kind geht das Hören dem Sprechen immer voraus. Der Ausdruck folgt dem Eindruck, die Sprachproduktion der Sprachaufnahme oder -rezeption. Es kann sein, dass Kinder, die knapp 20 Wörter sprechen, schon an die 200 Wörter verstehen.2

Der Vorsprung des Hörens wirkt sich auf zweierlei Art aus.

1. Kinder können schon Laute hörend unterscheiden, bevor sie diese Laute selbst gezielt hervorbringen können. Ihr Hörverstehen differenziert feiner als ihr Sprechen. Dazu drei Beispiele:

Die zweijährige Jenny ist gerade von einem Nachmittagsschläfchen aufgewacht. Als der Onkel hereinkommt, deutet sie in Richtung Fenster.

Jenny: Ho ah ho!

Onkel: Ho – ah – ho? Das versteh ich aber nicht.

(Jenny verdeckt die Augen mit ihrem Stofftier, als ob sie sich schämt)

Onkel (zur Tante, die hereinkommt): Ho – ah – ho, was ist das?

Jenny (deutet wieder in Richtung Fenster und wiederholt): Ho – ah – ho!

Tante: Rolladen hoch, heißt das doch. Was ist der Wolfgang auch dumm. (Die Rolladen sind hochgezogen, Jenny weist also auf etwas hin, fordert nicht auf)

Jenny: Ja!

Onkel: Ho – ah – ho!

Jenny: Nein, ho u ah – ho (sie artikuliert also etwas anders als vorher)

Onkel: Rolladen hoch.

Jenny: Ja.

Die Tatsache, daß Jenny die eigene unvollkommene Lautung von anderen nicht akzeptiert, beweist eindeutig, daß sie über ein korrekteres Hörbild verfügt, als ihre Lautproduktion vermuten läßt. Nur so kann sie der Illusion erliegen, sie habe richtig artikuliert. Man kann solche Zwischenfälle bewußt provozieren:

Jenny (weist auf ein Regal mit einem Spielkasten): Das ist mein Piel!

Onkel (obwohl er verstanden hat): Ja, dein Piel.

Jenny: Nein, Piel!

Onkel: Natürlich, dein Piel.

Jenny (ärgerlich): Nein, Piel.

Das Kind merkt, daß es hier auf den Arm genommen wird. Ob es sich aber klar darüber ist, daß es noch nicht sprechen kann, wie es hört? Es hört ja durchaus richtig und akzeptiert das falsche Klangbild von anderen nicht. Sein Artikulationsvermögen reicht jedoch nicht aus, um nun selbst die korrekte Lautung (»Spiel«) zu produzieren. Ebenso Olivia, die nach ihrem »Flack« verlangt. Als die Mutter sie nicht versteht und »Flack?« sagt, wird sie ungeduldig, gar zornig. Sie will »Schlafsack« hören und meint wohl, genau dies sage sie ja. Lustig auch, wie ein Zwilling (Anwar) den andern (Nanu) korrigieren will, obwohl sie beide noch nicht »schön« sagen können:

Nanu: Ssön.

Anwar: Nanu, nis ssön, ssön!

Nanu (wiederholt brav): Ssön.

Diese Beispiele belegen eindeutig das Gefälle zwischen Hör- und Sprechvermögen.

Ein abschreckendes Beispiel von protestantischer Gehorsamserziehung aus dem vergangenen Jahrhundert gibt Samuel ButlerButler, Samuel in seinem Roman Der Weg allen Fleisches aus dem Jahre 1903. Ein Besucher schildert, wie der Pastor Theobald seinen Sohn erzieht:

Er war jedoch in der Aussprache des K noch sehr weit zurück, und anstatt komm sagte er tomm, tomm, tomm. Ernest, sagte Theobald aus seinem Lehnstuhl vor dem Kamin, wo er mit gefalteten Händen saß, meinst du nicht, es wäre sehr schön, wenn du komm sagen würdest wie die anderen Leute, statt tomm? Ich sage ja tomm, erwiderte Ernest und glaubte, komm gesagt zu haben. (…) Theobald bemerkte sofort, daß Ernest ihm widersprochen hatte. Er stand aus seinem Lehnstuhl auf und ging zum Klavier. Nein, Ernest, das tust du nicht, sagte er, du sagst es ganz falsch, du sagst tomm, nicht komm. Sprich mir jetzt nach komm, genau wie ich. Tomm, sagte Ernest sofort, ist das jetzt besser? Zweifellos glaubte er, es sei besser, aber das war nicht der Fall. Nun, Ernest, du gibst dir keine Mühe (…) Laß dir Zeit, überlege gut und sprich mir nach: komm. Der Junge blieb einige Sekunden stumm und sagte dann wieder tomm. Ich mußte lachen, aber Theobald drehte sich ungeduldig nach mir um und sagte: Lach bitte nicht, Overton. Der Junge denkt sonst, es käme nicht darauf an, aber es kommt sehr darauf an. Dann wandte er sich Ernest zu und sagte: Ernest, noch einmal darfst du es versuchen, und wenn du wieder nicht komm sagst, dann weiß ich, daß du eigensinnig und unartig bist. Er blickte sehr böse, und ein Schatten flog über Ernests Gesicht, ganz wie bei einem jungen Hund, der gescholten wird, ohne zu wissen, warum. Der Junge wußte genau, was nun kommen würde, wurde ängstlich und sagte natürlich wieder tomm. Also gut, Ernest, sagte sein Vater und packte ihn ärgerlich an der Schulter. Ich habe mein Bestes getan, um es dir zu ersparen, aber wenn du es so haben willst, sollst du es haben, und er zerrte den armen kleinen Kerl, der schon im voraus weinte, aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später hörten wir lautes Schreien aus dem Speisezimmer über der Diele, die zwischen Wohnzimmer und Speisezimmer lag, bis zu uns herüberdringen und wußten, daß der arme Ernest Prügel erhielt.3

2. Der Vorsprung des Hörens betrifft auch Wortschatz und Grammatik. Kinder können nicht nur besser hören, als sie sprechen, sie verstehen auch weit mehr, als sie ausdrücken können. Sie können bestimmte Frage-, Relativ- oder Passivsätze, die ihre Eltern verwenden, genau verstehen, bevor diese Konstruktionen in ihren eigenen Äußerungen auftauchen. Hans z.B. reagiert sinngemäß auf und, lange bevor dieses Bindewort in seinem aktiven Sprachschatz auftaucht:


Mutter: Wen hast du lieb?
Hans (1;11): Mama.
Mutter: Und?
Hans:

So richten sich Eltern in ihrer Sprechweise primär nicht nach den artikulatorischen und auch nicht unbedingt nach den lexikalischen und grammatischen Fähigkeiten der Kleinen. Ihr ganzes Bestreben ist vielmehr, sich dem Kind verständlich zu machen. Alles andere ist diesem Ziel untergeordnet. Nach Sprechbeginn – etwa um den 12. Lebensmonat herum – gehen sie dem Kind in Grammatik und Wortschatz immer einige Schritte voraus – solange sie dabei verstanden werden. Wie könnte es sonst dazulernen? Clara und William SternStern, Clara und William, die die Sprachentwicklung ihrer drei Kinder genau beobachteten, nennen dies das Prinzip der MehrdarbietungMehrdarbietung.5 So wäre es auch grundfalsch, wenn Eltern sich ihrerseits ihren Kindern anpaßten und dut oder tommen statt gut oder kommen sagten. Statt ihnen entgegenzukommen, würde man sie nur verwirren: Sie hören ja schon weitaus genauer, als sie sprechen. Gegen den Gebrauch von Babywörtern wie Wauwau, Ticktack oder Puff-Puff ist allerdings nichts einzuwenden. Ja, es wäre töricht, auf solche anregenden lautmalenden Wörter zu verzichten, die in ähnlicher Form in den verschiedensten Sprachen wiederkehren.

Das Gefälle vom Verstehen zum Sprechen bleibt zeit unseres Lebens bestehen. Der zeitliche Vorsprung des hörenden Verstehens wandelt sich in einen quantitativ-qualitativen. Jeder von uns gewöhnt sich einen eigenen, individuellen Sprechstil an. Aber wir sind in der Lage, viele unterschiedliche Sprechstile und dialektale Färbungen zu verstehen. Ein ähnliches Gefälle besteht zwischen dem Lesen und Schreiben. Wir können noch die Luther-Bibel ebenso wie die langen Satzperioden in den Novellen von Heinrich von KleistKleist, Heinrich von verstehen, aber schreiben könnten wir so nicht. Mario WandruszkaWandruszka, Mario spricht von dem riesigen Umkreis des Verstehens rund um das eigene Verwenden.6

Frühe ZweisprachigkeitZweitsprache, Zweisprachigkeit: Phase des Zuhörens

Kinder, die plötzlich in eine rein fremdsprachige Umwelt versetzt werden, bleiben erst einmal stumm, so z.B. englischsprachige Kinder im Alter zwischen vier und neun Jahren, deren Familien es ins französischsprachige Genf verschlagen hatte. Einige sagten monatelang nichts. Andere fingen sechs bis acht Wochen nach Aufnahme in der Schule zu sprechen an. Ihre ersten Äußerungen waren Grußformeln wie au revoir, salut, bonjour, Madame. Dazu kamen Zurufe, Floskeln wie regarde, tiens, allez-y (= schau her; halt mal; macht schon) und der Selbstbehauptung dienende Verlautbarungen wie moi bébé (= ich bin das Baby, ich spiele das Baby).1

J. M. Coetzee, der Nobelpreisträger, der in Südafrika englischsprachig aufwächst, verbringt die langen Sommerferien auf der Farm seiner zweisprachigen Verwandten. Da ist er glücklich. Er ist vier oder fünf und spielt dort den ganzen Tag mit den Kindern der Schwarzen, die nur Afrikaans sprechen. Es gibt keine anderen Spielkameraden. Er mimt und gestikuliert und möchte manchmal herausplatzen mit all den Dingen, die er sagen will und nicht sagen kann. Langsam aber stauen sich die fremden Worte in ihm auf, bis sie plötzlich aus ihm heraus brechen. Er erinnert sich, wie er zu seiner Mutter stürzt und ruft: »Listen! I can speak Afrikaans!«2

 

Aufschlußreich ist das Beispiel der sechzehnjährigen Susanne, die aufgrund der Versetzung des Vaters nach Brüssel in eine Schule mit Französisch als Verkehrssprache eintritt. Aber mit Verständigung und Freundschaften war es lange Zeit nichts, erinnert sie sich. »Ich saß ein ganzes Jahr da, stumm wie ein Fisch und verstand weder Lehrer noch Mitschüler. Ich hatte solches Heimweh nach Deutschland, daß ich am liebsten weggelaufen wäre.« Nach einem Jahr riet die Schulleitung, das Mädchen von der Schule zu nehmen, da sich ihre Sprachkenntnisse nicht gebessert hätten. Das war vor den Sommerferien. »Aber nach den Sommerferien machte ich endlich meinen Mund auf und sprach französisch. Ich mußte das ganze vergangene Schuljahr hindurch Französisch geradezu aufgesogen und gespeichert haben.«3 Dieses extrem lange Eintauchen in die Fremdsprache – Immersion genannt – ist zunächst einmal eine Phase des Nichtverstehens bzw. des Verstehenlernens. Vielleicht gesellte sich bei Susanne auch eine Art Kulturschock dazu. Bis der – emotionale und kognitive – Knoten schließlich platzte und sie bereit war zu sprechen.

Kinder, die einfach ins kalte Wasser geworfen werden, tauchen zunächst einmal unter. Sie tauchen auch wieder auf, brauchen aber Zeit zum Einhören und Verstehen. Vor einigen Jahren wurden im Elsaß von einer Elterninitiative zweisprachige Kindergärten organisiert. Die Kinder wurden die halbe Woche von einer deutschen und die andere halbe von einer französischen Erzieherin betreut, die beide nur ihre Muttersprache benutzten. Die meist französischsprachigen Kinder machten mit, hörten zu, antworteten aber fast nur französisch. So ging das monatelang, so daß einige Erzieherinnen schon an dem Sinn des Experiments zweifeln wollten. Aber nach einem Jahr fingen sie an zu sprechen. Das von dem Linguisten Jean PetitPetit, Jean wissenschaftlich begleitete Experiment war erfolgreich, weil die Kinder die fremde Sprache nicht als Lehrstoff, sondern als gelebte Wirklichkeit entdecken konnten und sich Zeit für sie nehmen durften.4

Ich habe viele dieser Kindergärten besucht, und immer normale, fröhliche Kinder erlebt, und keinen Druck, der von einer fremden Sprache ausging. Da wir heute alle Englisch als Welt- und Wissenschaftssprache brauchen, könnten wir uns diese Erfahrungen zunutze machen und damit beginnen, Englisch im Kindergarten zu leben – dort, wo die personellen Voraussetzungen stimmen.

Wenn uns erst im Grundschulalter fremde Sprachen begegnen, dann ist die Muttersprache der Ton, auf den unser Sprachinstrument gestimmt ist.

Was Hänschen nicht lernt…?

… lernt Hans nur zur Hälfte? Die Tatsache, daß sich Babys schon früh auf die Muttersprache einstimmen, indem sie etwas verlernen, sowie Meldungen der Hirnforscher über absterbende, weil nicht genutzte Hirnzellen haben eine regelrechte Frühförderungswelle angestoßen. Kommerzielle Anbieter schüren die Ängste der Eltern, sie könnten Chancen auslassen, sei es bei der Musik, der Mathematik oder den Sprachen, und suggerieren, man könne seinem Vorschulkind den entscheidenden Vorsprung fürs Leben verschaffen, indem man mit ihm auf allen Hochzeiten tanzt. Überall sollen »neuronale Netze« geknüpft und »Synapsen« gepflegt werden: pädagogische Allmachtsträume.

Early English für Vorschulkinder zweimal oder dreimal die Woche wird nahezu wirkungslos verpuffen. Das gleiche gilt nun aber auch für die zwei Wochenstunden in der Grundschule, für die sich viele Bundesländer entschieden haben. Da werden Saatkörner ausgestreut, aber sie können nicht keimen, weil die Keimlinge von der Muttersprache überwuchert und erstickt werden. Es ist keineswegs erwiesen, daß Grundschulkinder die besseren Sprachlerner seien. Für jeden Einstieg in eine Fremdsprache gilt: Wenn schon, denn schon; also nicht kleckern, sondern klotzen und kumulieren, so dass jeder Lernfortschritt den nächsten unterstützen kann.

Wenn man Jugendliche mit Grundschulkindern vergleicht, wird auch die Gegenthese »Je älter, desto besser« durch einige Studien gestützt. Sekundarschüler haben mehr Verstand und können bewusster lernen.

Wir müssen eben streng scheiden zwischen Unterricht mit den üblichen Wochenstunden – ob in der Schule oder in Privatkursen – und einem Eintauchen in fremdsprachliche Lebensmilieus. Das kann man auch in Kindergärten und Schulen schaffen, aber nur, wenn man mindestens die Hälfte der Zeit an die Fremdsprache gibt, wie im Elsaß. Es gibt keine Schnellstraßen zu fremden Sprachen – es sei denn, man lebt sie. Stets brauchen Sprachen viel Lebenszeit, d.h. immer wieder reichlich Hör- und Sprechgelegenheiten – wie bei der Muttersprache. Es ist unseriös, damit zu werben, früher Spracherwerb sei »kinderleicht«, und dabei den Faktor Zeit zu unterschlagen. Der Zeit kann man bekanntlich kein Schnippchen schlagen. So sind reiche New Yorker auf die alte Idee verfallen, die wirklich Erfolg verspricht: Sie engagieren ein chinesisches Kindermädchen (gut für die Karriere, weil China als eine kommende Führungsmacht gilt), wie weiland die europäische Oberschicht französische Gouvernanten beschäftigt hat, die die Kinder über Jahre begleiteten. Ein Au-pair-Mädchen für ein Jahr genügt auch nicht, die Sprache muß kontinuierlich weiterverwendet werden. Da ist es schon naiv, wenn man glaubt, man könne etwas erreichen, wenn man die Kleinen einmal in der Woche zum fremdsprachlichen Samstagsunterricht zusammenbringt.

Was ist nun mit dem Argument der frühkindlichen Sensibilität für Lautkontraste? Verluste zeigen sich ja schon im ersten Lebensjahr, und so wären ja auch schon Grundschüler fürs authentische, akzentfreie Sprechen reichlich spät dran. Aber wie wir alle wissen, können auch Sekundarschüler noch eine sehr gute Aussprache erwerben. Unsere Ohren werden nicht ein für alle mal taub für Lautkontraste, die unsere Muttersprache nicht kennt. Ein günstiger Lernzeitraum für die Aussprache ist gewiß vor der Pubertät. Das Paradebeispiel ist Henry Kissinger. Seine Familie wanderte aus Fürth in die USA ein, als er 15 war, und er behielt zeit seines Lebens einen deutlichen deutschen Akzent, nicht aber sein jüngerer Bruder. Dennoch gibt es wohl keinen Zweifel daran, wer von beiden der größere Meister des Worts geworden ist. Eine quasi muttersprachliche Aussprache ist für Spione, nicht aber für Außenminister notwendig.

Und noch etwas ist zu beachten: Kleinkinder kann man nicht gut zu vorher festgesetzten Zeiten unterrichten. Man muss abpassen, wann sie entspannt sind, aufmerksam und aufnahmefähig für Neues. Wenn sie Unlust zeigen und sich abwenden, darf man nicht einfach weitermachen, weil Englisch auf dem elterlichen Lehrplan steht. Im Vorschulalter gilt: Die Kinder geben den Schritt vor. Sie bestimmen die Lernzeiten. Erst mit der Schulreife ist der Gleichschritt des Lernens und der Stundentakt der Fächer möglich.

Verzögerte Sprachentwicklung durch versteckte Hörprobleme

Das Hören ist unser erstes Einlasstor zur Welt da draussen, denn wir beginnen ja schon im Mutterleib auf Stimmen zu lauschen. Es steht wohl auch am längsten offen, denn selbst im Koma kann man zuweilen noch hören. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die auditive Reifung der zentralen Hörbahn erst im dritten Lebensjahr abgeschlossen ist und eine verzögerte Sprachentwicklung ihren Grund in Reifungsstörungen der Hörbahn haben kann. Letztere kann nur dann ungestört ausreifen, wenn sie durch ein gutes Sprachangebot stetig in Anspruch genommen wird, das eben auch zu ihr gelangt und von ihr weitergeleitet werden kann. Das ist bei Schwerhörigen nicht der Fall.1

Wenn Vierjährige immer noch hot statt rot oder Tuchen statt Kuchen sagen, so sind dies Schwierigkeiten, mit denen eine Zeitlang jedes Kind zu ringen hat. Laute werden falsch gebildet, durch andere ersetzt oder einfach ausgelassen. Vielen fällt das r schwer (sog. Rhotazismus), den meisten die Zischlaute s, sch, x, z (sog. Sigmatismus). Nur: mit dem vierten bis fünften Lebensjahr sollte das Kind darüber hinweg sein. Wo das nicht der Fall ist, werden Kinder über kurz oder lang von anderen nachgeahmt, verspottet und eingeschüchtert – was es ihnen nur noch schwerer machen wird, ihre Artikulationen zu verbessern. Schlimmer noch: Die eine Schwierigkeit zieht die andere nach sich. Lese- und Schreibschwächen (LegasthenieLegasthenie) sind vorprogrammiert, so daß schließlich fast alle Schulfächer, nicht nur der Deutschunterricht, in Mitleidenschaft gezogen werden.

Darum sollte man, wenn sich das Kind hier nicht altersgemäß entwickelt, auf jeden Fall die Fachfrau aufsuchen: Sprachheilpädagogen, Logopäden, vor allem aber Ohrenkliniken. Denn ein unauffälliger Audiogrammbefund, mit dem lediglich getestet wird, ob die Reize im Ohr richtig ankommen, genügt nicht, weil damit noch nicht die nachgeschaltete Verarbeitung im Gehirn geprüft ist.

Viele Kinder, die verwaschen artikulieren, später nur stockend lesen und katastrophale Diktate schreiben, haben unter versteckten zentralen Hörstörungen zu leiden. Die Kinder sind normal intelligent, ihre Ohren sind intakt. Die Ursache des Übels sind Schwächen bei der Verarbeitung akustischer Signale im Gehirn, die mit üblichen Hörtests nicht erfaßt werden. Es geht um das anfangs erwähnte zeitliche Auflösungsvermögen des Gehörs. Die obigen Zeitangaben weisen auf die Gleichzeitigkeits-Spanne oder FusionsschwelleFusionsschwelle hin, d.h. die Versuchspersonen können angeben, daß sie zwei aufeinander folgende unterschiedliche Reize wahrgenommen haben, nicht aber, welcher Reiz der erste und welcher der zweite war. Dieses Können wird mit einem weiteren Wert erfaßt, der OrdnungsschwelleOrdnungsschwelle heißt. Sie liegt für das Sehen, Hören und Tasten bei jeweils dreißig bis vierzig Millisekunden (während die Gleichzeitigkeitsspanne, wie schon gesagt, für die drei Sinne unterschiedlich lang ist). Das heißt, erst wenn die beiden Reize mindestens dreißig Millisekunden auseinander liegen, können wir auch ihre Reihenfolge angeben.

Nun muß man wissen, daß bestimmte Konsonanten wie p, t, k in vierzig Millisekunden oder weniger vorbeirauschen, während Kurzvokale schon etwas länger und Langvokale gleich doppelt so lang oder länger tönen. War das nun pamm, tamm oder kamm? Kinder mit einer zu hohen Ordnungsschwelle können diese schnellen Laute nicht hörend unterscheiden. Sie hören einen Lautbrei und können dann auch nicht richtig artikulieren. Eine lange Kette späterer Sprachschwierigkeiten kann hier ihren Anfang haben, wenn unsere Ordnungsschwelle nicht im geforderten Zeitmaß taktet. Amerikanische Forscher haben nicht nur Messungen zur Ordnungsschwelle des Gehörs bei normalen und sprachauffälligen Kindern vorgenommen, sondern auch eine Therapie entwickelt. In einem Computerspiel zerdehnt ein Clown auf dem Bildschirm diese kurzen Laute, um sie dann nach und nach wieder der normalen Sprechgeschwindigkeit anzupassen – so wie auch im FremdsprachenunterrichtFremdsprachen, F.-Unterricht gelegentlich schwierige Laute vom Lehrer künstlich gedehnt und überdeutlich vorgesprochen werden. Auch Eltern tun das oft ganz unbewußt. Diese Dehnung gelingt aber nur bei Vokalen, die schon von sich aus länger tönen.

Das Computerspiel war sehr erfolgreich. Die Kinder waren nunmehr in der Lage, die verlangsamten, hervorgehobenen Laute trennscharf wahrzunehmen, und konnten ihre Artikulationsorgane richtig einstellen. Denn das Ohr führt die Stimme. Nach einem ausgeklügelten vierwöchigen Intensivtraining konnten die Kinder ihr akustisches Timing so verbessern, daß sie die schnellen Laute auch bei normaler Sprechgeschwindigkeit auseinanderhalten konnten. Ihr Ordnungsschwellenwert konnte auf das altersgemäße Niveau gesenkt werden.2 Diese Kinder brauchen also keine Hörgeräte, die den Schall verstärken, sondern Trainingsgeräte, die die Konsonanten zeitlich auseinanderziehen, damit sie sich beim Hören nicht mehr überschneiden. Man kann Kindern mit einem »langsamen« Gehör aber auch helfen, indem man Laute und Wörter zunächst vom Schriftbild her erarbeitet und mit dieser Unterstützung die Wörter übertrieben lang ausartikulierend vorspricht. Ein solches Sprachtraining war bei Olaf, der mit achteinhalb Jahren kaum sprechen konnte, erfolgreich. Seine Ordnungsschwelle lag anfangs mit 200 Millisekunden extrem hoch. Anhand des Schriftbilds mit den klar getrennten Druckbuchstaben lernte er Lautfolgen zu unterscheiden, zu artikulieren und schließlich auch fließend zu artikulieren. Nach drei Jahren sank der Ordnungsschwellenwert auf altersgerechte 20 Millisekunden. Schwierigkeiten bei der zeitlichen Verarbeitung von Sprache können aber auch unabhängig von der Ordnungsschwelle die Betonungsmuster von Silbenfolgen und die Satzrhythmik betreffen, so daß vor der Therapie zunächst eine differenzierte Diagnose zu erstellen ist.Kegel, Gerd3

 

Wir können auch den Nuschler verstehen, weil wir das undeutlich Gehörte von uns aus zur guten Gestalt ergänzen. Mit dieser Fähigkeit können wir aber auch eigene Defizite ausgleichen und verdecken. Denn je intelligenter Kinder mit Lese-Rechtschreib-SchwächeLese-Rechtschreib-Schwäche sind, umso länger erhalten sie ihre kompensatorischen Strategien aufrecht. So etwa ein 16-jähriger, der bei einem sehr hohen IQ von 150 extreme Defizite bei den Grundfähigkeiten des sprachlichen Hörens aufwies. Ihm wurde folgender verstümmelte Satz vorgesprochen: »Den ¥eis der ¥annen habe ich im ¥opf.« Dabei steht das ¥ für einen Fantasielaut, der dazu diente, seine mangelnde Lautunterscheidung nachzubilden. Seine daneben stehenden Eltern schauten verständnislos. Er aber entgegnete unverzüglich: »Das kann entweder nur heißen ›Den Preis der Tannen habe ich im Kopf‹ oder ›Den Preis der Kannen habe ich im Kopf‹. Alles andere macht doch keinen Sinn.« Der Schüler konnte seine mangelhafte automatische Lauterkennung jahrelang weitgehend auf der Ebene des Wort- und Satzsinns kompensieren.4

Natürlich können SprachentwicklungsverzögerungenSprachentwicklungsverzögerung auch ganz andere Ursachen haben. Bei Lese- und Schreibschwächen (LegasthenieLegasthenie) könnten versteckte Sehfehler im Spiel sein. Wenn aber Legastheniker nicht so sehr die Buchstaben n und u verwechseln, die sich visuell sehr ähneln, hingegen aber d und t, so müssen Hörschwierigkeiten zugrunde liegen. Es ist immer gut, bei Sprachauffälligkeiten zunächst abzuklären, ob Störungen bei den zugrunde liegenden Wahrnehmungen vorliegen und das Übel, wenn es denn da liegt, bei der Wurzel zu packen, statt gleich Intelligenzmängel zu diagnostizieren.5