Wie Kinder sprechen lernen

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Einstimmung, Übereinstimmung und Wechselseitigkeit

Dies ist der Trieb zum Mitgefühl und zur Nachahmung. O eine treffliche Einrichtung unserer geistigen Natur, die das erste Erziehungsgeschäft für wirklich gute Eltern so leicht, so simpel macht!

(Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich 1785)

Das Verständniß war da vor der Mittheilung.

(Hermann Steinthal 1881)

Menschliches Leben, auch schon tierisches, ist ausdrucksvoll: Es teilt sich mit. Der Urgrund allen Verstehens ist genetisch vorgegeben. Es sind Gefühle wie Freude, Wut und Ärger, Ekel und Abscheu, Traurigkeit, Angst, Überraschung und die damit verbundenen Ausdrucksbewegungen wie Lächeln oder Weinen. Wir haben sie mit allen Menschen gemeinsam, so auch die Mutter mit ihrem Kind: den Ausdruck der Augen, die Mimik der Brauen, der Lider, der Nase, des Mundes. Am Ausgangspunkt herrscht eine Art »prästabilierter Harmonie«. Bestimmte Sprechmelodien wie ein tröstender, beruhigender Ton sind für den Säugling keine Geräusche unter vielen anderen, sondern werden von Anfang an gefühlsmäßig richtig verstanden, brauchen also nicht erst erlernt werden.1 Ursprüngliches Sprechen heißt Übereinstimmen, nicht: Sich-Auseinandersetzen. Noch vor dem Verständnis der Laute und Worte versteht das Baby unmittelbar den emotionalen Grundton, vernimmt die liebevolle Zuwendung der Mutter im Zugesprochenen. Es ist die emotionale Aufladung der Wörter, die das Kind zuerst vernimmt und aufhorchen lässt.

So erlernen wir das Sprechen unter starker Beteiligung der Affekte. Die Mutter versucht nämlich, die »Seelensituationseelisches Einssein« (wie es MauthnerMauthner, Fritz so eindrucksvoll formulierte) für sich und ihr Kind gemeinschaftlich zu machen. Das Baby erfährt den liebevollen Zuspruch von jemandem, der zurück geliebt werden will. Die gemeinsame »Seelensituation« im BlickkontaktBlickkontakt, dreieiniger (referentieller) ist das erste Moment; gemeinsame Aufmerksamkeit das zweite. Der Mutter gelingt es, den flüchtigen Blick des Säuglings zu halten. Bei den RoutinenRoutinen des Wickelns, Waschens und Anziehens usw. merkt sie, wie sehr das Kind bei der Sache ist, und versucht, es bei der Stange zu halten, seinen Blick zu führen und Szenen der gemeinsamen Aufmerksamkeit zu gestalten. Wo schaut es hin? Ah, der Vorhang bauscht sich im Sommerwind. Es schaut nach oben: Na klar, die Sonne malt Muster vom bewegten Wasser der Badewanne an die Decke. Die Mutter spricht dabei und bereitet eine wesentliche Funktion des Sprechens vor: die Kunst der wechselseitigen Bewußtseinssteuerung, die Herstellung von Intersubjektivität. Lateinisch communicatio ist wörtlich das Gemeinsam-Machen des Neuen.

Alledem liegt die große NachahmungskunstNachahmung des Menschen zugrunde, die sich schon bei wenige Tage alten Babys zeigt. Sie können offenbar mimische Gesten wie einen O-Mund, einen E-Mund, A-Mund, Zunge-Herausstrecken, Augenblinzeln, Kopfbewegungen, Stirnrunzeln, Fingerbewegungen imitieren. Sie können also visuelle Muster in motorische überführen.2

Was kann sich daraus entwickeln? Beispiel: Die Mutter streckt dem Baby die Zunge heraus und wird nachgemacht. Daraus kann ein Spiel der Wechselseitigkeit entstehen. Unterbricht die Mutter das Spiel, kann das Kind die Initiative übernehmen. Es dirigiert auf diese Weise seine Mutter und freut sich über den Erfolg. Wenn also Eltern auf bestimmte kindliche Signale regelmäßig eine bestimmte Antwort geben, hat es das Kind in der Hand, diese Antwort auszulösen, indem es sein Signal gibt oder nicht: Es erfährt, wie man durch eigenes Handeln sein Gegenüber beeinflussen kann.

Nachahmen ist also ein Stück Kommunikation. Wir signalisieren:

 Ich bin aufmerksam.

 Ich achte auf das, was du tust.

 Ich zeige dir, wie ich dich verstanden habe.

Verstandenwerden ist gleich Angenommenwerden. Die Mutter spricht das Kind an. Das Kind brabbelt los. Die Mutter wertet dies als gültige Antwort. Somit reagiert das Baby »kontingent« – situations- und partnerbezogen, aber doch prinzipiell offen, so oder auch anders. Es plappert nicht mehr einfach drauflos, sondern lernt, auf das Gegenüber zu achten, und »spricht« sozusagen in die Pausen hinein. Zugleich meldet die Mutter dem Baby zurück, wie sie seinen Beitrag verstanden hat, etwa als lustig oder eher ungnädig. Es entsteht eine Wechselseitigkeit, ein Tausch der Gefühle, der signalisiert: Du bist wie ich, ich bin wie du. Das Kind lächelt und erwartet, daß du zurücklächelst. Es streckt die Zunge heraus und wartet darauf, daß du es ihm gleich tust. Du rollst ihm den Ball zu, den rollt es zurück. Später wird es sprechen und dir deine Wörter zurückrollen.

Babys lernen sprechen, indem sie bedingungslos vertrauen. Am Anfang unseres Lebens ist »liebende Kommunikation« (JaspersJaspers, Karl).

Ein Startvorteil mit Babyzeichensprache?

»Soll ich ei machen?« Das Kind wird gestreichelt. Dann soll es selber streicheln: »Mach mal ›ei, Mama‹!« Laut und Geste werden konstant miteinander verbunden, Sprache und Aktion aufeinander abgestimmt. Babys achten auf unsere Mundbilder und versuchen, die wahrgenommenen Lippenbewegungen mit dem Gehörten abzugleichen. Damit schärfen sie das Hören und zugleich ihre eigene Artikulationen. Also machen wir weiter: »Hoppe, hoppe Reiter … Dann macht der Reiter plumps.« Auf »plumps« wird das auf den Knien der Eltern reitende Kindchen regelmäßig ein Stück fallengelassen. Es zieht sich bald in Erwartung des »plumps« schon selbst nach unten.

Das sind anfangs reine Dressurakte:

ei, ei

bitte, bitte / patsche, patsche

winke winke machen

pssst!

gib Händchen

Das Kind befolgt die Aufforderungen ebenso willig, wie es auf Fragen gestisch reagiert: Wie groß bist du? Wo ist die Nase? Wo ist der Mund? Hier eine Tagebuchnotiz der ScupinsScupin, Ernst und Gertrud:

Dem Kind wurde das bitte, bitte beigebracht; anfangs geschah diese Geste gänzlich bedeutungslos und war lediglich Nachahmung des vorgemachten Händeklatschens. Doch bald erlangte die Bewegung die Bedeutung von bitte, als nämlich jedesmal prompt die Belohnung in Form einer wohlschmeckenden Näscherei erfolgte. Jetzt ist das Kind schon so dressiert, dass es jedes Mal die Hände zusammenschlägt, wenn sich jemand nur dem Büfett nähert, aber es bittet auch, wenn es getragen sein will. Fünf Monate später – Bubi ist inzwischen eineinhalb – sagt er auch bitte.1

Zwei kalifornische Psychologinnen meinen, es lohne sich, gezielt über ausgeklügelte Gesten die Kommunikation mit den Kindern zu fördern. Die beiden entwickelten ein Repertoire von ca. 50 Zeichen, die sie mit Kindern ab 11 Monaten ausprobierten. Die »Zeichen-Kinder« lernten schneller sprechen und hatten einen größeren Wortschatz als eine Vergleichsgruppe, die nicht so betont und ausgiebig mit Gesten und Zeichen spielte. Noch als Achtjährige sollten die mit extra Gesten aufgewachsenen Kinder bei Intelligenztests besser abschneiden!2

Aber sind es wirklich spezielle Handzeichen, die den Spracherwerb angeblich vorantreiben, oder ist es nur das Mehr an Aufmerksamkeit der nach Anleitung gestikulierenden Mütter, worauf es hier ankommt? Die bisherigen Studien halten die Effekte nicht auseinander, und Skepsis ist angebracht bei dem Versuch, in extra eingerichteten Trainingsprogrammen zum BabysigningBabysigning sein Kind fit zu machen und auf die intellektuelle Überholspur zu stellen. Die tollen Befunde der Kalifornierinnen konnten nicht bestätigt werden.3

Brauchen denn hörende Kinder normierte Gebärden? Es tun auch die natürliche Gestik und die sich aus den jeweiligen Interaktionen familienintern entwickelnden Zeichen ihren Dienst. Treiben wir also mit den Kleinkindern allerhand gestischen Schabernack und lassen wir uns etwas mehr einfallen als üblich. Es macht doch Spaß, unser kommunikativ-spielerisches Repertoire ein wenig zu erweitern, z.B. bei »heiß« regelmäßig einen Pustemund zu machen, »nein, nein, nein« mit wedelndem Zeigefinger zu unterstützen, oder bei »psst« den Zeigefinger auf die Lippen zu legen.

Vergessen wir auch nicht die eigenen Traditionen aus der Kinderstube, die Sing- Tanz- und Fingerspiele unserer Großmütter:

Zehn kleine Zappelmänner….

Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen…

Insofern jedes einzelne Kind in seinem eigenen Lernduktus geachtet wird, mag die in extra Kursen mit anderen geteilte Situation und die Sonderportion an Aufmerksamkeit eine positive Erfahrung bleiben, doch Entwicklungsvorsprünge sind auf solche Art nicht zu erzwingen.


Olivia macht ihr Zeichen für bisou / Küsschen, das sie auf die Backe bekommt.

Als wär’s ein Stück von mir: Zielbezogene NachahmungskunstNachahmung

Die Hirnforschung scheint das Geheimnis gelüftet zu haben, das schon Neugeborene zu solch großen Nachahmungskünstlern macht. Sie kann heute Hirnaktivitäten punktgenau, bis hin zur Tätigkeit nur einer einzelnen Zelle sichtbar machen. Dies führte 1996 zur Entdeckung spezieller Zellen, der Spiegelneuronen. Diese werden nicht nur aktiv, wenn wir tatsächlich etwas tun, sondern auch schon, wenn wir bloß beobachten. Es zuckt in unserem Fuß, wenn der Spieler zum Elfmeter antritt oder der Seiltänzer zu einem gewagten Hüpfer ansetzt. Oder: man kann vom intensiven Zuhören etwas heiser werden, weil unsere Artikulationsorgane ansatzweise mitsprechen. Das Hirn projiziert das bloß Gesehene oder Gehörte in das für das eigene Tun zuständige Areal. Dort spiegeln die Zellen die wahrgenommenen Bewegungen, so als ob wir sie schon selbst ausführen würden. Schon beim Kleinkind feuern sie beim bloßen Anblick von Gesten, auch wenn sie diese selbst noch gar nicht beherrschen.

 

Die Nachahmerzellen sitzen auch in dem für Sprechbewegungen zuständigen Gebiet, dem Broca-Zentrum, und in Hirnregionen, die Gefühle verarbeiten. Bei Gruselfilmen bekommen wir eine Gänsehaut. Beim Sehen und Hören von Schmerz lösen sie eine innere Nachahmung aus, d.h. wir leiden mit. Der Unterschied zwischen echtem und nur mitempfundenem Schmerz ist eine Sache des Grades. Schließlich sitzen die imitationsfreudigen Zellen in derselben Region, mit der wir echten Schmerz empfinden. Spiegelzellen wären in der Lage, die ganze Palette menschlicher Gefühle zu imitieren. Sie verschafften uns einen Zutritt zur Innenwelt unseres Gegenübers, wären sozusagen Mitfühlzellen. Die Situation des anderen erscheint wie eine eigene.

Mit dieser mentalen Simulation können wir die Zielbezogenheit von Handlungen erkennen, d.h. Handlungen eigentlich erst begreifen, eine Idee von ihnen bekommen. Spiegelneuronen feuern nicht bei offensichtlich ziellosem Tun, z.B. wenn dem Gegenüber was aus der Hand rutscht, sondern nur beim Beobachten zielgerichteter, sinnvoller Bewegungen, und das gilt auch schon für Affen. Wird eine Orange vor den Augen des Affen mit einem Vorhang verborgen und greift dann der Versuchsleiter nach ihr, feuern die SpiegelneuronenSpiegelneuronen, führt er aber die gleiche Armbewegung ohne Orange, wie zufällig, aus, bleibt es still im Affenhirn.

Der Mensch versteht, indem er nachahmt und ein Stück sein Gegenüber spiegelt. Spiegelneuronen sind die stoffliche Basis dafür, daß ich fühlen kann, was du fühlst, und spüre, was du willst. Echte Empathie, die die Situation des anderen erfasst, sich seine Perspektive erarbeitet und erforscht, was denn nun sinnvoll und dem anderen förderlich sein könnte, setzt zusätzliche kognitive Mühe voraus.

Die deutsche Sprache hält – etwa im Gegensatz zur englischen – die schöne Möglichkeit der »Mit«-WörterWortMit-Wörter bereit: mitempfinden, miterleben, mitleiden, sich mitfreuen, mitjubeln, mittrauern, und schließlich die für die Sprache zentralen Wörter mitsprechen, mitplanen, mitdenken und mitteilen.

Kinder können sich in ihre Partner hineinversetzen, spüren, daß der andere auf etwas hinaus will, und dieses Einfühlungsvermögen läßt sie absichtsvolles Handeln erkennen und von unbeabsichtigten Handlungen unterscheiden. Sie können z.B. schon im Alter von knapp einem Jahr unterscheiden, ob jemand ihnen ein Spielzeug mit Absicht vorenthält oder nicht geben kann, weil es ihm immer wieder aus der Hand rutscht. Aber auch Schimpansen können verstehen, ob ihr Pfleger ihnen ihr Futter aus Vorsatz vorenthält oder einfach ungeschickt ist. Es bleibt die im Vergleich zu Primaten ungleich höhere soziale Intelligenz und Nachahmungslust des Kindes. Dem Kind kann schon die bloße Freude am Austausch genügen, um sein Können vorzuführen. Das Tier braucht für vergleichbare Kunststückchen meist Belohnungen, die nicht in der Sache selbst liegen.

Ein Wermutstropfen: EmpathieEinfühlungsvermögen (Empathie) ist nicht nur Sympathie. Unsere Fähigkeit zum Mit- und Nachempfinden ermöglicht letztlich auch Neidgefühle, Schadenfreude und Sadimus…1

Dennoch: Wir haben das Wort »Menschlichkeit« und hoffen so, dass unsere eigentliche Bestimmung Anteilnahme, Freundlichkeit und Fürsorge ist.

SprachhandelnSprachhandeln: Ich will etwas von dir!

Mit diesen nicht nur Gefühle, sondern auch Absichten und Gedanken lesenden Zellen ausgestattet, begreift das Kleinkind seine Partner als Wesen, die auf etwas hinaus wollen, und wird seiner selbst als ein wollendes Wesen gewahr, das etwas bewirken will und kann. Sprechen ist Vorbereitung, Begleitung und Fortsetzung absichtsvollen Handelns mit lautlichen Mitteln. Im zweiten Halbjahr können Kinder melodische Grundmuster einsetzen, um die Eltern zu dirigieren, so als ob sie eine Frage oder eine Forderung stellten oder etwas zurückweisen wollten. Die Eltern hatten ihnen ja in ihren Spielchen solche AbsichtenAbsicht, Redeabsicht, Sprechintention schon suggeriert und ihnen Sprache nicht nur zugeredet, sondern geradezu aufgeredet.

Stellen wir uns also das kleine Kind im Laufställchen vor, das Spieltier ist nach draußen gefallen, unerreichbar. Das Kind streckt die Hand durchs Gitter in Richtung auf das Spieltier und wimmert. Der Erwachsene, der durch das Wimmern veranlaßt seine Aufmerksamkeit der Szene zuwendet, versteht, was das Kind meint: ich möchte mein Spieltier wiederhaben. Er versteht, weil er die Intentionsstruktur der Situation durchschaut. Das Kind tut selbst noch sehr wenig zur aktiven Ausbildung dieser Intentionsstruktur, es steckt lediglich die Hand durchs Gitter zum Tier hin und wimmert dabei. Das Wimmern gibt der Handbewegung eine bestimmte, für den Erwachsenen erkennbare Intention.1

Jenny ist etwas über ein Jahr alt und nennt ihre Tante Inka »ängä«. Die faßt sie an beiden Händen, dreht sich mit ihr im Kreis und singt dabei:

Es war einmal ein kleiner Mann (geht dabei in die Knie)

Hei, jupp hei di,

Der nahm sich eine große Frau (Hände hoch)

Hm-ha-hm

Am nächsten Morgen zieht Jenny ihre Tante am Arm und sagt sehr intensiv: hm, hm. Inka versteht nicht. Jenny wiederholt und dreht sich dabei im Kreis. Jetzt erst hat die Tante verstanden und wiederholt das Tanzliedchen mit ihr.

Ebenso muß sich der einjährige Bubi handelnd und sprachhandelnd zugleich bemühen:

Die Mutter gab dem Kinde Zucker; als er zerbissen und heruntergeschluckt war, sperrte Bubi weit das Mäulchen auf und sah die Mutter erwartungsvoll an. Sie tat aber, als verstände sie ihn nicht; da riß er ungeduldig an ihrem Arm, ergriff einen ihrer Finger und führte ihn gegen das Büfett; als auch das noch keinen Erfolg hatte, wies er selbst mit dem Finger auf den Zucker und rief schon ganz gereizt: »da, da!«2

Was die Kinder in diesen drei Szenen tun, kann auch mein Hund. Wenn Bilbo raus will, rennt er zur Tür, springt dagegen, kratzt vernehmlich an ihr und gibt auch Laut, wenn’s sein muß. Das genügt, es muß ihm genügen. Denn kein Hund kommt über das, was wir analogeAnalog vs. digital Kommunikation nennen, hinaus. Analog heißt: Es gibt eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem, was man tut, und dem, was man mitteilen will. Bilbo führt wie Jenny und Bubi einfach eine Teilhandlung aus, nimmt also ein Stückchen dessen, was er will, vorweg. So sind manche tierische Drohstellungen als abgebremste Anspringbewegungen zu deuten. Die Tierpsychologie spricht von Intentionsbewegungen. Olivia bringt erwartungsvoll ihr Lätzchen an oder schiebt ihr Stühlchen an den Tisch. Das versteht jeder, der das Ganze kennt. Und es ist ja auch ohnehin Essenszeit.

Wie gelangen Jenny, Bubi und Olivia über dieses Stadium hinaus? Indem sie merken, daß sie mit einem lautlichen Akt allein genauso viel und später noch viel mehr erreichen können. Wer spricht, handelt mit Worten.

Eine Entwicklungslinie von der analog-konkreten zur abstrakt-digitalendigital Welt liefern die ZahlwörterZahlwörter, die zunächst durcheinander geworfen werden ohne rechten Begriff von Reihenfolge oder Menge. Dann zählt das Kind die eigenen Finger. Danach lernt es, Dinge zu zählen, benutzt aber die Finger noch mit. Wenn es die sinnliche Stütze des eigenen Körpers aufgibt, ist es noch ein Stück weitergekommen. Erst dem Schulkind gelingen Rechenoperationen im vorgestellten Zahlenraum, in denen die Zahlwörter sich von den Dingen gelöst haben und ganz für sich stehen. Man vergleiche, wie manche Naturvölker beim Zählen auch die eigenen Körperglieder benutzen, die ja immer nur eine begrenzte Anzahl liefern, aber auch schon Stöcke mit Kerben, Knoten in einem Seil oder Muscheln an einer Schnur gebrauchen, dabei aber stehen bleiben.

Du, ich und die Dinge: vom ZeigenZeigen, Zeigfeld zum ZeichenZeichen

Wenn der Finger zum Himmel zeigt, schaut nur der Dummkopf den Finger an.

(Die fabelhafte Welt der Amelie)

Etwa im Alter von 5 Monaten, wenn das SilbenplappernSilbenplappern auftritt, verändern die Bezugspersonen ihr Verhalten dem Baby gegenüber. Konzentrierten sie sich zuvor auf den wechselseitigen Blickkontakt und die Gestimmtheit des Kindes, versuchen sie nun, den Blick des Säuglings auf Dinge und Ereignisse um sie herum zu lenken und das ObjektspielObjektspiel zu initiieren. Zur gleichen Zeit reift auch die Entwicklung zum gezielten Greifen beim Kind.

Ein drei Monate altes Baby lächelt uns an; ein sechs Monate altes greift nach einem Spielzeug. Etwa mit 7 Monaten gelingt es dem Baby, beide Reaktionen miteinander zu koordinieren. Zwei sind einverstanden im Hinblick auf ein Drittes. Das ist der trianguläre BlickkontaktBlickkontakt, dreieiniger (referentieller) (auch: referentieller Blickkontakt), von einem zum anderen, den Gegenstand einbeziehend. Plötzlich sind nicht nur »Du« und »Ich« im Spiel – etwa wenn das Baby die Ärmchen hebt, um aufgenommen zu werden –, sondern auch ein Drittes, auf das gemeinsam Bezug genommen wird.


Ein markanter Wechsel: Im Vorsilbenalter konzentrieren sich die Mütter auf wechselseitigen Blickkontakt und die Gestimmtheit des Kindes. Wenn mit 5 Monaten das Silbenplappern einsetzt, versuchen sie, den Blick des Säuglings auf Dinge und Ereignisse um sie herum zu lenken. Das Objektspiel beginnt. (Nach M. PapousekPapousek, Mechthild und Hanus, 1994)


Anpassung der Mütter an die Fortschritte ihrer Kinder: 18 Mutter-Kind-Paare wurden zwischen dem 2. und 15. Lebensmonat der Kinder jeweils 14mal beobachtet. Als die Kinder anfingen, in regulären Silben zu plappern, änderten auch die Mütter ihr Verhalten: Sie griffen die Silben auf und spielten sie den Kindern als Wortmodelle zurück. (Nach M. PapousekPapousek, Mechthild und Hanus, 1994)

Gleichzeitig passiert noch ein zweites: Die nun als sprachliche Silben verstehbaren Lautäußerungen des Kindes werden von der Mutter aufgegriffen und den Kindern als Wortmodelle zurückgespiegelt.

Der von der Tante mitgebrachte Teddy wird dramatisch in Szene gesetzt und präsentiert. Mehr oder weniger zufällig äußert das Baby etwas, das nach Mengmeng klingt. Schon hat der Teddy seinen Namen weg. Immer wieder wird er als »Mengmeng« benannt und so das Lautbild assoziativ mit dem Teddy verknüpft. So entstehen erste ProtowörterWortProtowörter, Vorläufer von echten Wörtern, orientiert am lautlichen Vermögen der Kinder.

Die schon lang geübten und erprobten Techniken der Mutter, ihr Kind »bei der Stange zu halten«, Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit herzustellen und zu erhalten, erreichen mit 9 Monaten einen neuen Höhepunkt: Das Kind versteht die Zeigegeste. Gemeinsam wird auf einen im Blickfeld liegenden Gegenstand Bezug genommen (joint attention). Aber der sechs Monate alte Säugling blickt nur auf den zeigenden Finger. Mit neun Monaten beginnt er, mit den Blicken der imaginären Linie zu folgen, die vom Finger zum Gegenstand führt.

Der Gegenstand als neuer Einigungspunkt wird Träger einer gemeinsamen Bezeichnung. Wörter als Zeichen für etwas entwickeln sich an dieser Stelle aus dem Zeigen, dem gestischen BenennenNennfunktion, Benennen. Das ist nichts Selbstverständliches, denn die Zeigegeste findet sich nur beim Menschen, vielleicht mit Ausnahme des Haushundes.1 So ist wohl auch die Wurzel von lateinisch dicere, »sagen«, das Zeigen, woran noch indicare, »anzeigen«, index »Anzeiger, Zeigefinger« und indicium »Anzeichen, Indiz« erinnernMensch-Tier-Vergleich.

TomaselloTomasello, Michael spricht von der 9-Monatsrevolution, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Sie dokumentiert, dass Kinder sich nun als wollende Wesen darstellen können und nun auch die anderen in dem verstehen wollen, was sie intendieren und beabsichtigen.

Schauen wir uns einen Dialog an, zu dem das Baby gegen Ende seines ersten Lebensjahres fähig ist. Noch ohne ein Wort beizusteuern, bittet Marta um Hilfe:

Marta schafft es nicht, ein Portemonnaie zu öffnen. Sie schiebt es ihrem Vater vor die Hände. Der unternimmt nichts. Da legt sie es ihm in die Hand, schaut ihn an und gibt ein paar Tönchen von sich. Der unternimmt immer noch nichts. Marta insistiert, zeigt auf das Portemonnaie und jammert. Vater: »Ja was soll ich denn tun?« Marta zeigt noch mal auf die Börse, blickt ihren Vater dabei an und äußert wieder ein paar Tönchen. Jetzt endlich berührt der Vater den Verschluß und fragt: »Soll ich es aufmachen?« Marta nickt kräftig.2

 

Marta hat ihren Vater verstanden, allerdings noch nicht die einzelnen Wörter, die er verwendet. Es wird ihr immer klarer, daß man allein mit den Tönen, die man hervorbringt, beim anderen etwas ausrichten kann.

Zeigen Sie Ihrem Einjährigen ein Spielzeug und lassen es dann wie im Scherz verschwinden, wenn er danach greift. Normalerweise schaut er Sie dann fragend an, um herauszufinden, warum Sie das tun. Viele autistische Kinder reagieren nicht so.

Fast alle Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten zeigen auch im Alter von zwei, drei und vier Jahren diesen triangulären BlickkontaktBlickkontakt, dreieiniger (referentieller) nur sehr selten. Beschäftigen sie sich mit einem Gegenstand, sind sie entweder ganz davon eingenommen oder aber sie manipulieren ihn ohne echte Freude und Interesse – in beiden Situationen gibt es keinen Anlass, ein Erlebnis zu teilen. Steht das Kind in direktem Kontakt mit einer anderen Person, ist es so damit beschäftigt, mit ihm über den direkten Blick, Gesten oder Laute zu kommunizieren, daß es einen Gegenstand in diese Interaktion nicht einbeziehen kann; dies habe ich beispielsweise sehr oft bei Kindern mit Down-Syndrom beobachtet.

Mit etwa eineinhalb Jahren können viele der entwicklungsauffälligen Kinder einen Gegenstand geben, doch auch hier fehlt der erwartungsvolle Blick, d.h. sie bringen das Ding, legen es dem Erwachsenen auf den Schoss und gehen gleich wieder weg, um etwas neues zu holen. Wenn sie dem Anderen eine Absicht mitteilen wollen, zeigen und vokalisieren sie oder ziehen ihn am Arm, doch auch in dieser Situation schauen sie nicht vom gewünschten Gegenstand zum Erwachsenen, um zu sehen, wohin er seinen Blick richtet.3

Allerdings gibt es beim Zeigen noch einen kleinen, aber höchst bedeutsamen Unterschied. Auf einen Gegenstand deuten, den man haben will, ist erst eine Vorstufe zum »deklarativen«, rein informativen Zeigen. Das ist der Fall, wenn ein Kind bloß auf etwas hinweist, das es interessant findet, und dieses Erlebnis mit seinem Partner teilen will. Schon das bloße Zeigen und die Anteilnahme des Partners befriedigt. Das ist das gestische BenennenNennfunktion, Benennen in Reinform. Das Baby fordert nicht auf: »gib mir«, »tu was«; sondern macht gewissermaßen eine sachliche Aussage, stellt fest: »das da« (Zur »SachlichkeitSachlichkeit«, die nur dem Menschen möglich ist, vgl. S. 183ff.). Das Kind verknüpft den Partner und den Gegenstand in einem kommunikativen Akt und kann jetzt lernen, daß die Dinge ihre Namen haben.

Die Leistungen, die hier zusammenkommen, lassen sich wie folgt aufschlüsseln:


Alter: 9–12 Monate Alter: 11–14 Monate Alter: 13–15 Monate
Den Blick des Partners suchen Ist die Sache hier okay? Erfassen, worauf der Partner sein Augenmerk gerichtet hat, und es ihm nachtun

Das sachliche Zeigen und Benennen ist wegen der eindeutigen Zuordnung von Wort und Ding wichtig. Aber dabei werden fast ausschließlich Hauptwörter gelernt. »Schau mal her, das nennt man Kriechen, und das nennt man Gehen«: So belehrt wohl keine Mutter ihr Kind. Oder noch verrückter: »Hör mal zu, das nennt man ›alt‹; so gebraucht man ›auf‹«. Die meisten an das Kind gerichteten Äußerungen sind somit keine einfachen Benennungen. Das Kind muss also schon einiges leisten, um zu verstehen und dabei im Redestrom einzelne Wörter wiederzuerkennen und sich dann umgekehrt mit diesen Wörtern verständlich zu machen. In mehreren Studien wurde ermittelt, (1) wie viel Zeit Mütter in Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit mit ihren Kindern zubrachten und (2) wie ausgeprägt dabei ihre Tendenz war, dem Aufmerksamkeitsfokus des Kindes sprachlich zu folgen. Im Alter zwischen zwölf und fünfzehn Monaten erklären diese beiden Faktoren über 50 % der Varianz sowohl des Sprachverstehens als auch der Sprachproduktion! Nicht wer sein Kind zutextet, sondern wer sensibel bei seinem Kind ist und sprachlich das begleitet, was es gerade im Auge und im Sinn hat, der fördert enorm seine sprachliche Entwicklung. Also nicht einfach drauflosreden, sondern auch die kindliche Reaktion abwarten und merken, ob man gemeinsam bei derselben Sache ist.5

Greifen wir zeitlich ein wenig vor und schauen wir uns Kinder zwischen eineinhalb und zwei Jahren an. In verschiedenen, geschickt gestellten Situationen – wiederum in Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit – konnte man zeigen, wie wichtig es für den Spracherwerb ist, daß die Dialogpartner sich wechselseitig als absichtsvoll Handelnde erleben. Hier nur zwei Beispiele TomasellosTomasello, Michael, die den Zusammenhang mit dem Worterwerb belegen.

Ein Erwachsener gibt vor, »das Toma« zu suchen. Er sucht dann in einer Reihe von Eimern, die alle neuartige, vom Kind noch nicht benannte Dinge enthalten. Unpassende Gegenstände schaut er schief an und legt sie wieder zurück, bis er den richtigen Gegenstand gefunden hat, was durch ein Lächeln quittiert wird und die Suche beendet. Egal, ob und wie viele Dinge verworfen wurden, die Kinder lernten das Wort »Toma« richtig zu verwenden.

In einer anderen Situation bedeutete jemand dem Kind, er wolle nun Mickey Maus »daxen«, und tat darauf etwas wie zufällig und etwas anderes absichtlich. Die Kinder ließen sich nicht beirren, sie lernten das Wort »daxen« für die absichtliche, nicht die zufällige Handlung, und zwar unabhängig davon, welche Handlung zuerst vollzogen wurde.

Es ist bei näherer Analyse ziemlich schwierig, neu auftauchende Wörter aus dem Handlungs- und Redefluß herauszuklauben und richtig zuzuordnen. Kinder haben ein detektivisches Gespür dafür, weil sie ein tiefes und flexibles Verständnis anderer als zielbezogen Handelnde entwickelt haben – und zwar in den schon genannten routinemäßigen Situationen, die sie von Anfang bis Ende auch ohne Sprache durchschauen. Sprache braucht diese BodenhaftungSpracheBodenhaftung der Sprache, weil Wörter sehr beweglich sind und sich auf Unterschiedliches beziehen können. Das gilt ja nicht nur für die »Wechselwörter« wie ich, du, er usw. Gisas Foxi ist längst nicht immer »Foxi«, sondern kann auch »dein Plüschtier«, »dein Kuschelhündchen« oder »dein Liebling« sein. Umgekehrt ist sie selbst Mamas »Liebling«. Um hier klarzukommen, bedarf es zunächst externer Stützen sich gleich bleibender Situationen und die richtige Deutung der kommunikativen Absichten der Beteiligten.

Um die Mitte des zweiten Lebensjahres ist das Kind auch in anderer Hinsicht weiter gekommen. Wie wir gesehen haben, ist dies die Zeit, wenn Kinder sich im Spiegel wiedererkennen. Genau um diese Zeit kann man auch die umgekehrte Reihenfolge von Zeigegeste und Blick hin zum Partner beobachten. Der Blick geht zuerst zur Mutter, um so zu erkunden, ob sie überhaupt informiert ist über das Neue und Interessante. Das Kind versucht also seinerseits, ihre Aufmerksamkeit zu lenken, und setzt ihr seelisch-geistiges Einssein, gewissermaßen ihre Allwissenheit nicht mehr voraus. Aus dem »Wir wissen« kann jetzt ein »Ich weiß etwas« und »Du weißt es vielleicht noch nicht« werden. Schaut sie auch tatsächlich hin und sieht, worauf es jetzt schaut oder was es jetzt tut? Jetzt erst wird die Mutter ganz als separates Du wahrgenommen, die ja etwas anderes im Blick und im Sinn haben könnte, und das geschieht etwa gleichzeitig mit dem Wiedererkennen im SpiegelSpiegelbild und den ersten EmpathieregungenEinfühlungsvermögen (Empathie), im Alter von 16–18 Monaten. Dann blicken sie auch hinter sich, um nachzuschauen, ob die Mutter direkt hinter ihnen etwas anschaut. Bischof sieht hier eine präzise zeitliche Koppelung, die aufdämmernde Ahnung, daß es ein Selbst gibt und ein separates Du: die Auflösung der seelischen Mutter-Kind-Symbiose.6