Anschwellendes Geschwätz

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Kraus und Kant

Daß er hundertdreißig Jahre alt wird, das hätte sich Karl Kraus, der heute vor hundertdreißig Jahren geboren wurde, ernsthaft erhofft. Den Einzeltod hielt er zuweilen für eine ähnliche Pest und Zumutung wie die Welt in ihrer niederträchtigen Beschaffenheit, die Welt, die, so ein fast geflügeltes Wort des großen Wieners, nach der Presse erschaffen wurde und seither versinkt im Ozean der »Welthirnjauche«; und die, die Welt, noch jenseits aller Pressefrechheiten und publizistischen Infamien vor allem in Agonie und Raserei liegt, weil die Menschen nicht zur Besinnung gelangen und ihren Planeten unvermindert in einen die Apokalypse hier und heute vor Augen führenden Friedhof verwandeln, auf dem sich die Würdelosigkeit der Gattung nackt und kahl und fürchterlich in stetig wachsenden Leichenbergen zu erkennen gibt.

Daß ihm irgendein dahergelaufener Quackel in irgendeinem nutzlosen Feuilleton einen Geburtstagsgruß darbringt, hätte sich Kraus schneidend verbeten. Seine Verachtung der bürgerlichen Usancen und der bürgerlichen Gesellschaft, die vernebelnd so heißt, damit man über den Kapitalismus und den Krieg nicht reden muß und in der Nabelschau das Bewußtsein verlogen befriedet, war – entgegen aller Häme, die ihm von den Feiglingen entgegengebracht wurde – Ausdruck eines Mutes, der Zeitungsschreibern so fern ist wie der Mars der Erde, und einer Liebe zu den Menschen, die deshalb wahrhaftig war, weil sie auf jede sentimentale, scheinheilig empathische Äußerung verzichtete.

Nur im Haß vermag Humanität noch zu überdauern angesichts einer Welt, die in Gewalt, Leid und Barbarei zugrunde geht – das war wohl ein Credo des Karl Kraus, obschon er eingewendet hätte, daß, wer ein Credo hat, keinen Gedanken hat. Sein Haß galt den Schmöcken, und er galt dem Militär und allen, für die es kein Skandal ist, daß Menschen hingemetzelt werden.

In der Fackel Nr. 474-483, im Mai 1918, stellte er der Rede eines deutschen Mörders, der 1917 dem »Herrn der Heerscharen« gedankt hatte für den »völligen Sieg im Osten« und »die Heldentaten unserer Truppen« »wurzeln« sah »in den sittlichen Kräften, im kategorischen Imperativ« des »großen Weisen von Königsberg«, eine kurze Kant-Passage gegenüber, in der der philosophische Jubilar des Jahres die »Hymnen, die dem Herrn der Heerscharen gesungen werden«, als furchtbares Symptom der Gleichgültigkeit bezeichnet, weil sie »noch eine Freude hineinbringen, recht viel Menschen oder ihr Glück zernichtet zu haben«.

Kraus ließ diese deutsche Soldatenperversion, wie nicht selten, unkommentiert. Wenige Seiten später widmete der Hasser dem ostpreußischen Milden das sechzehnstrophige Gedicht »Zum ewigen Frieden«, seine Verehrung auch dadurch bezeugend, daß er Kants Vermächtnis als Motto vorausschickte: »Bei dem traurigen Anblick [...] der Übel, [...] welche sich die Menschen untereinander anthun, erheitert sich doch das Gemüth durch die Aussicht, es könnte künftig besser werden; und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein und die Früchte, die wir zum Teil gesät haben, nicht einernten werden.«

Die Verse, die Kraus, der finstere Aufklärer, darunter schrieb, sind nichts anderes als zart, warm, hell und wahr. »Nie las ein Blick, von Thränen übermannt, / ein Wort wie dieses von Immanuel Kant. // Bei Gott, kein Trost des Himmels übertrifft / die heilige Hoffnung dieser Grabesschrift«, beginnt die Hymne, und sie endet, das Ende aller Zeiten abwehrend: »Sein Wort gebietet über Schwert und Macht / und seine Bürgschaft löst aus Schuld und Nacht. // Und seines Herzens heiliger Morgenröte / Blutschande weicht: daß Mensch den Menschen töte. // Im Weltbrand bleibt das Wort ihr eingebrannt: / Zum ewigen Frieden von Immanuel Kant!«

Der Sportloser des Jahres 2002

»Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« bezeugte am 11. Dezember 2002 ihre unverbrüchliche Dankbarkeit gegenüber dem von der Bild-Zeitung nach wie vor als »Tennisheld« gehandelten Leimener Windei die ehemalige Lebensaufschlagsgefährtin des Wimbledon-Berserkers und heutige sog. TV-Moderatorin Patrice Farameh und lieferte uns damit das alles entscheidende Big-Point-Stichwort zur finalen Begutachtung des Sportjahres 2002. Denn ohne Boris Becker wäre das ganze Sportjahr 2002 praktisch ein einziges Null-und-Nichts gewesen, nicht der kürzesten Rede wert wäre es gewesen, ohne Becker, Boris, den ewig jungen Haudrauf und Hauweg.

»Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« – ein Satz gleich einem Menetekel, gleich einer monumentalen Mahnung daran, daß wir, die Menschen, die sich nähren von der Presse Arbeit, ohne ihn, den just mit eigener Buchbiographie versehenen Steuerschluri, ziemlich alt aussähen. Ja, ohne Boris wäre nicht nur das Sportjahr 2002 ein endlos fader Brei aus Nebenereignissen und unterklassigen Wettbewerben gewesen, ohne Boris wüßten auch wir, die Kommentatoren und Kritikaster, wenig, wenn nicht nichts zu sagen.

»Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« Ach, was ein atemberaubendes Axiom des modernen Lebens! Nicht auszudenken, gäbe es ihn, den Boris, nicht. Nichts wäre los. Nichts wäre zu erzählen. Über nichts wäre zu berichten. Wir alle wären geworfen ins nihilistische Nano-Nichts der neusten Neuzeit, orientierungslos umherirrend im leeren Raum der Zeit.

»Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« Welch Leit-, welch Stichwortsatz, welch mentale Stütze in Zeiten des Umbruchs und der allseitigen Ungewißheiten. Descartes ex negativo auf den Begriff gebracht: Boris ergo sum.

Nicht dumm, zog sich Ende November auch der gescheiterte Ex-Davis-Cup-Teamchef Michael Stich am Stichwort- und Leitsatz des Jahres aus dem Existenzsumpf der Belanglosigkeit und zurück ins Licht der Öffentlichkeit. Er und Boris seien jetzt, nach Jahren der erbittertsten Kämpfe um gelbe Bälle und die Aufmerksamkeit der Yellow Press, dioskurische »Kumpels«, hauchte Stich anläßlich einer Showpartie der Tennis-Seniorentour in der Frankfurter Ballsporthalle. Da sei, man halte den Odem an, plötzlich »beinahe Zuneigung« zwischen ihnen, und sie, die beiden weißen Barone, hätten nun, da sie Freunde seien, auch »Lust auf mehr«. Aber bloß Lust auf mehr Tennis.

»Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« Ein Spruchband, das einige der wenigen Frankfurter Zuschauer, Mitglieder des Luckenwalder Tennisclubs, an der Tribüne aufgehängt hatten, drehte diesen Wahnsinnssatz ins noch ein bißchen Würdelosere und brachte nolens volens die irrsinnige Irrelevanz des ganzen Sporttreibens auf den dialektischen Begriff der Sinnleere unserer Tage: »Becker & Stich – Ohne euch wären wir heute ›Synchronschwimmer‹!« stand da. Synchronschwimmer in Anführungszeichen gesetzt und mit Ausrufezeichen versehen, wohlgemerkt. Der Ironie wegen. Oh, welch abgründig witzloses Dasein, diese Welt des Tennis und des Boris Becker!

Wäre aber, vorsichtig nachgefragt, ein Anführung Warmduscher Abführung Ausrufezeichen nicht doch noch einen Topspin ausgefeilter und augenzwinkerischer, um nicht zu sagen: linkischer gewesen? Bzw. ein Anführung Weicheier Abführung Ausrufezeichen – Fragezeichen?

Daß wir ohne Boris nix wär’n und daß Boris lieber nix wär’ als ein warmduschendes Weichei, das hat uns das Sport- bzw. Pressejahr 2002 aus- und nachdrücklich reingedrückt, und zwar über alle verfügbaren Kanäle und Printmedien. Live und in voller Laberlänge übertragen wurden u. a. etwaige heikle und harte Handlings mit einem »gierigen Russen-Model« (Bild) und um eine mallorquinische Frickelfinca, parallel angebahnte und wie immer zu bewertende Hautkontakte mit Claudia Schiffer und der USA-Emigrantin Babs Becker sowie der dann heftig aufrückenden »US-Perserin« (Bild) P. Farameh, Boris’ geheime Neigung zu blonden Frauen und die simultane blond strahlende neue Internetkampagne des Unwiderstehlichen; sowie die weiter zunehmenden Glücksminuten des Boris mit seiner Patrice und der Babs mit ihrem Fitneßtrainer als auch deren, Babsens, plötzliche Rückkehr nach Europa; nicht zu vergessen die originären Erkenntnisse des Vaters Becker, man könne sich nicht scheiden lassen und mit Patrice aber auch leider keine Kinder machen, weil das eben nicht gehe, wo doch die Neue Post eine »Tragödie um seinen kleinen Sohn Elias« ertrüffelte und die Münchner Richterin Knöringer so sehr des Beckers Kohle begehre und ihn, den Boris, so der Spiegel, zum »letzten Tie-Break« antreten lasse, der allerdings ohne Knast oder Erschießen endete, weshalb die großartige Gala vermeldete, Boris, das »Mode-As« (BUNTE), sei der von uns allen so heiß ersehnte »Vorreiter der Ich-AG«, sozusagen in Fortsetzung des gnadenlosen Spiegel-Titels aus 2001, auf dem der Unsrige prangte, keusch begleitet nur von einem einzigen, dem ersten Menschen- und dem Gotteswort der Hybris: »Ich«. Weshalb endlich, endlich Boris’ Partner in Pressecrime, Franz Beckenbauer, nicht mehr an sich halten konnte und in die Zeitschrift BUNTE hineinkumpelte: »Boris hat mit seinen 34 Jahren mehr erlebt als alle anderen in seinem Alter. Er befindet sich in einer permanenten Lernphase, aus der er wohl als Sieger herauskommen wird.«

»Ich weiß, daß ich büßen muß«, sprach Boris Becker nach seinem Steuertribunal und fischte erst mal frischfrei die Schauspielerin Mariella Ahrens, die der BamS unterbreitete, er könne »so gut zuhören«. Währenddessen zahlte Tommy Haas per Gerichtsbeschluß Sponsorengelder in Höhe von 516.794 Euro plus Zinsen an die Mäzengemeinschaft TOSA Tennistalentförderung GmbH zurück, und die Slowakei gewann den Fed Cup. Den Fed Cup? Was’n das? Etwa Tennis?

Doch, der Fed Cup hat stattgefunden im Sportjahr 2002. Aber ohne Boris Becker war das einfach nichts. Sagen Sie, mal unter uns: Ist da nicht der Sport, das Tennis, der eigentliche Loser des Jahres? Ich zumindest stecke mir eine Träne ins Knopfloch und breite das weiße Taschentuch des Vergessens über all das, all das beckerhaft Ekelhafte und Tennisalptraumartige.

 

Sprachskitch

Die Sprache ist etwas Wunderbares. Täglich stehen wir, sofern wir eine gewisse Aufmerksamkeit entwickeln und das »Gerede des Man« (Heidegger), das anschwellende und abflauende Geschwätz und das flachgestochene Spezialgelaber der politischen, ökonomischen und bürokratischen Pressure-groups und Szenen aus der Distanz betrachten, vor dem »Wunder der Sprache« (Walter Porzig), das die Sprache, die »erste Tat der theoretischen Intelligenz« (Hegel), stets aufs neue und auf wunderbare Weise wie von allein zu vollbringen scheint.

Freilich sind solche terminologischen und phraseologischen Kreationen und Emanationen wie »Komplexitätserziehung«, »knusperknackig«, »schokoschmackig«, »Emo-Schiene«, »verschlanken«, »Meat Shop«, »Verwöhnaroma« oder »Maßnahmenkatalog« (allesamt verewigt in Eckhard Henscheids Wörterbuch Dummdeutsch) nicht von der unsichtbaren Hand der Sprache, sondern von Sprachdesignern und Sprachingenieuren im Dienste der Manipulation des Bürgers oder des Marktsubjekts geschaffen worden. Die als keusch und rein vorgestellte, gleichwohl nie homogen gewesene Gemeinsprache ist heute stärker denn je durchdrungen von Soziolekten und Slangs, von fachsprachlichen Wendungen und expertokratischen Wortbildungen, und das hat der Sprache auch gutgetan, zumindest i. S. einer begrüßenswerten Verwilderung, ja Chaotisierung des Universums der Rede.

Wenn man nun aber nach den Werbeklassikern »Arm-Chair-Shopping« oder »Essential Facial Cleaner« und zumal angesichts der Frankfurter Snack-In-Stand-By-Street-Coffee-Bar namens Energy Eatery in einer Anzeige für ein neues Skateboard-Computer-Game lesen muß: »Skitchen Sie an Auto-Stoßstangen, skaten Sie auf beweglichen Objekten und machen Sie Transfers über Spins« – dann befremdet nicht nur die veraltete Höflichkeitsform der Anrede; es enttäuscht der insgesamt leider fehlende Speechschmiß, das mangelnde Sprachskitching, der schwache Bedeutungstransfer. Selbst weitere Hinweise auf irgendwelche »Online-Modi, inklusive Punkte-Challenge und Capture the Flag« retten da nichts mehr.

Unser Verbesserungsvorschlag wäre daher: »Zieh dir das volle Skitchfeeling rein! Browse über die geilsten Schlitten, surfe auf deinem touchy scharfen Moveboard und whirle in Powerspins und Comearounds über die irrsten Spines, Spoons und Spoilerspans!« Oder vielleicht doch eher: »Cool! Kraß! Kaufen!«


Supismus Co-Autor: Michael Tetzlaff

In Wörterbüchern sind u. a. folgende Zustandsbezeichnungen, d. h. Dach- und Bündelungsbegriffe für komplexe Sachverhalte verzeichnet: Sozialismus, Kommunismus, Leninismus, Marxismus, Maoismus und Maoam.

Seit Sonntag, dem 27. April 2003, ist ein – noch nicht lexikalisierter – Neuzugang zu vermelden. Heribert Prantl, einer der letzten denkenden Journalisten hierzulande, mahnte im ARD-Presseclub angesichts des weitverbreiteten Alarmismus seiner Kollegen: »Wir Journalisten neigen ja sehr zum Sofortismus ...«

Soso, Sofortismus. Das war im Grunde ordentlich gesagt, doch was meinte Prantl da im näheren? Die Schnellschußmentalität der Presse? Also deren Schnellismus mit einem guten Schuß Voreiligkeitsmentalismus, der oft nach hinten losgeht?

Ganz zu klären ist es letztlich nicht, aber Prantls »Vorstoß« (Augstein) eröffnet ein weites Feld für dringend gebotene Zustandsbezeichnungsneologismen, die komplizierte Zusammenhänge griffig auf den Punkt bringen. Wir schlagen deshalb – berufsgruppen- und anderweitig differenzierend – vor: Fortismus für Werber, die sagen: »Ich muß los!« und gehen – und zwei Minuten später setzt sich das kroatische Frauenmirakel Miranda F. an den Nebentisch; Veritatismus für Politiker, die dafür sorgen, daß sich Journalisten immer häufiger zu sofortistischen Handlungen hingerissen fühlen; Vollkornismus für Bäcker, die voreilig, d. h. samstags vor halb zehn bereits sämtliche Vollkornbrötchen verkauft haben; Falsismus für Künstler, die so täuschend echt malen, daß niemand mehr ein noch aus weiß; Ausweisismus für Schiedsrichter, die ehrliche Kräfte wie Mario Basler u. a. vom Platz stellen, obwohl sie einen gültigen Spielerpaß besitzen; Satanismus für Rockgitarristen, die immer wie »Carlos« Sa(n)tana klingen; Rockismus für Popmusiker und Frauen; Emotionalismus für Katzen, Hunde und höheres Getier; Taktilismus für flinke Männer(hände); Spagatismus für die, die auf »allen« Hochzeiten tanzen; Aufzugismus für Aufmaschler; Mauschelismus für Maulhelden; und Hinhaltismus für alle. Wär’ supi, odrrrr?

Transzendentale Reform

Gerade hatte die FC Bayern AG mal wieder einen Titel heimgebracht, den des Deutschen Fußballmeisters 2005, da hauchte ihr Vorsitzender Karl-Heinz Rummenigge einem Reporter der Süddeutschen Zeitung voller Zartgespür für die neben dem Fußball wichtigste Nebensache der Welt, das Leben in dieser Gesellschaft nämlich, ins Mikrophon: »Der Fußball gehört reformiert, wie unsere gesamte Gesellschaft reformiert gehört. Wir sind hier ein Land der Gleichmacherei geworden. Das muß aufhören. Der Fußball muß da möglicherweise auch gesellschaftspolitisch eine Vorreiterrolle spielen.«

Mögen uns die höheren Mächte davor bewahren, künftig womöglich von Karl-Heinz Rummenigge und Franz Beckenbauer regiert zu werden, in Anbetracht der demnächst reformierten Berliner Regierung, mithin der gründlich neuformierten Bundeskanzlerinnenreformmannschaft oder aber auch einer großen, gewaltigen Koalition aller Reformkräfte dieses Landes, hat Kalle, der Katechet des knallharten Kapitalismus, doch den Nagel auf den Kopf getroffen.

Denn nie war mehr Reform, nie mehr »Reformbedarf« als heute. Obwohl im Zeitraum des letzten Jahres in einer diffusen Meinungsgemengelage mitunter schon wieder darüber geklagt wurde, das »strapazierte Wort ›Reform‹« (Börsenblatt des deutschen Buchhandels) sei, wie der Politologe Frank Decker eruierte, »bei den Wählern nicht mehr unbedingt positiv besetzt«, und obschon Michael Rutschky einen »Reformstreß« und der Kölner Expreß einen »Reformstau« ausgemacht hatte, feuerten die Medien angesichts der anstehenden resp. bereits eingeleiteten Gesundheits-, Gebiets-, Rechtschreib-, Steuer-, Hochschul-, Arbeitsmarkt- und Sozialreformen unvermindert aus allen Rohren – und verlangten auf Grund der sich angeblich einschleichenden Reformhalbherzigkeit der Schröder-SPD einen schmissigeren »Reformschwung« (stern) für den »Reformkurs« (ebd.) sowie stärkere »Reformmotoren« wegen eines zu erhöhenden »Reformtempos«, was aber wohl ausnahmsweise kaum was mit den allseits beliebten »revolutionären Reformen im Reglement der Formel 1« (ARD-Text) am Hut hatte.

Wie lautet, so gesehen, das Gesetz der Stunde, der Woche, der nächsten Monate und ja Jahre? Reform ist, wenn Reform ist und irgendwie wiederum auch nicht ist. So lautet es. Reform ist, wenn die Reform, die ist, keine Reform ist, die den Namen Reform verdient. Deshalb ist Reform angesagt, die Reform der Reform. Und deshalb hat unser führender Reformquer- und Reformleistungs- und Reformturbotalkshowdenker, der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, via Fernsehen, das sich übrigens auch bald mal warm an- und einer Vollpowerprogrammreform unterziehen sollte, bereits weg- und richtungsweisend »die Reform der Reformfähigkeit« eingefordert. Ja, genau: die Reform der – Reformfähigkeit. Das Vermögen, zu reformieren, umzugestalten, selbst umzugestalten, das ist die Devise unserer gesegneten Reformzeit, warum und wozu auch immer, Hauptsache, es wird in einem wahrlich kantianischtranszendentalen Doppelreflexionssalto die Reform selber reformiert, bis der Reformator nicht mehr weiß, was er da eigentlich permanent reformatorisch zusammenquakt, endlich niedergestreckt von seiner Wortallzweckwaffe, diesem zähsten aller akuten Kleister- und Nebelwörter, und siech, aber beseelt weiter vor sich hin quasselt, und zwar so: »Was wir brauchen, ist die reformatorisch fundierte Reform des Reformgedankens, damit die notwendigen Reformen im Reformfundus der Gesamtreform des gesamten Gemeinwesens ihre reformierende Kraft als wirkliche Reformen der Reformen entfalten können.«

Nein, es ist im Zuge der unterm Banner der Reform, die im ursprünglichen Sinne eine rationale, planvolle Veränderung oder Besserung der sozialen und anderweitigen Verhältnisse zum Ziel sich setzt, vorangetriebenen Deformation und Demontage des Sozialstaates immer weniger Menschen zum Albern zumute. Die »Agenda 2010« mit ihren brutalen Einschnitten bei der Arbeitslosenhilfe, beim Kündigungsschutz, im Gesundheits- und Rentenwesen ist seit dem 1. Januar 2004 in Kraft und das bis dato umfänglichste Dokument einer götzengleichen Verehrung des Irrationalismus des Marktes. Trotz aller Reformen, die nicht erst seit Schröders Regierungsantritt 1998 wüten, ist nicht ein einziger Arbeitsplatz entstanden, im Gegenteil. Dafür fahren die Konzerne Gewinne ein, daß sich die Geldspeicher biegen. »Wachstum bedeutet nicht weniger Arbeitslose, sondern mehr«, merkt Hermann L. Gremliza zu Recht an, das darf in China genauso wie in den USA oder in Deutschland beobachtet werden, nur daß Verelendung hier »Hartz IV« heißt.

Eine »irrationale Panik vor den Folgen der Globalisierung«, meldete sich DGB-Chef Michael Sommer vor einem Jahr zu Wort, habe »zu der Übereinkunft bei Parteien und Medien geführt, daß alles schlechter werden muß – nur nicht für diejenigen, die schon genug haben«. Daß die Gewerkschaften, die Guido Westerwelle bekanntlich als »Landplage« belobigt hat, den Bann des »Reform-Mantras« (taz) durchbrechen könnten, ist illusorisch. Deshalb meldete Spiegel Online jetzt auch im höheren Sinne des Hans-Olaf Henkel: »Union will Hartz-Reform reformieren«, und die vorgeblich überparteiliche Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, an der sich u. a. Friedrich Merz und Florian Gerster beteiligen, gab die Losungen aus: »Wir wollen, daß die Reformbereitschaft trotz Wahlkampf steigt. Soziale Übertreibungen müssen ein Stück weit zurückgenommen werden. Wir können uns keine Reformferien leisten.«

So bleibt der güldene Satz des FC-Bayern-Managers Uli Hoeneß eisern gültig: »Bei der Reform darf nicht gemauert werden.« Es muß geschossen werden. Wer immer dabei auf der Strecke bleibt. Ganz am Ende vielleicht ja sogar das gnadenlose Fetischwort: Reform.