Das perfekte Wirtshaus

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Musik

In der architektonisch, allgemeinmenschlich und infrastrukturell sowie strukturell lückenlos verfehlten und verlorenen Stadt München gibt es nur einen Weg, der sich zu gehen lohnt: zum Hofbräuhaus am Platzl.

Wen es als Kind einmal dorthin verschlug, dem offenbart sich eines Tages die innere Mission, im Alter zunehmender Bewußtheit an den Ort seiner frühesten Erfahrungen mit dem Gaststättenwesen zurückkehren zu müssen.

Nichts anderes tat neulich eine Gruppe äußerst hoffnungsvoller, durch den vormaligen Verzehr einiger, um nicht zu sagen etlicher Einbecker Biere nach den kantischen Prinzipien vernünftig präparierter Lehrlinge denn auch. Den legendären Keller erreichten sie zwar nicht, und auch täglich ab 19 Uhr live in der »Trinkstube« dargebotener »Unterhaltungsmusik« wurden sie weder ansichtig noch anhörig; doch fand man Platz in der ebenerdigen »Schwemme«, in der nebst regulären Frühschoppenkonzerten allerdings bereits Schlag 17.30 Uhr »HB-Blasmusik« zur Aufführung kommt – zum Leben nimmermüd’ erweckt durch die »hauseigene Blaskapelle«, die für original »bayerische Abende« bürgt, »a bisserl zünftig – a bisserl modern«.

Das von Peter Mohyla gelenkte Ensemble aus der mitunter eingeflogenen Jodlerin Tilli, aus Glockenspielern und Schuhplattlern sowie Goaßlschnalzern, Alphornbläsern und Stubimusikanten erzeugt »viel bayerische Atmösphäre«, ganz klar, das fetzt dermaßen, daß der Hund der Katze keinen Faden abbeißt.

Unsere juvenile Reisegruppe ist folglich begeistert. Sie sitzt neben dem Stammtisch und hat wie dieser das mittig gelegene Krawallpodium voll im Blick. Sollte da mal einer der sich durch Abgabe von etwa vierhundert Mark fürs Dirigat eines Songs qualifizierenden Touristen aus Übersee oder der niederrheinischen Kartoffelbörde danebenschlagen und die Combo somit aus dem Takt werfen, schmeißt der Drummer die Brocken respektive seine Knüppel hin, wirft den Gamshut in die jubilierende Trinkergemeinde und haut dem blöden Deppen von einem dahergelaufenen Geldjapaner gezielt und nachdrücklich eine vor die dumme Omme. Jauks!

So tolerant sind die Menschen hierzuland’. Und mit dieser ja gerade heute wieder geradezu wertvollen und wertsatten patriotisch-ethischen Textleitrichtlinie wollen wir diese aufregende Expedition dann auch schon wieder beenden.

Mühle marsch!

Der Kölner Karneval hat einiges zu bieten. Mich rief mal ein Freund, ein Redakteur beim WDR, an und berichtete live von einem Fenster des Funkhauses in der Nähe des Doms: »Und jetzt poppen sie da unten auf der Gasse!« Und nach solch schöner Tat gehen sie in die Kölschkneipe, sofern sie nicht vorher dem Über-Ich-Impuls gehorcht und diversen Schnäpsen in derartigen Mengen die konsumistische Absolution erteilt haben, daß sie mit dem Segen des gnädigen heiligen Spiritus in der Gosse versumpfen oder im Rhein versinken.

Wer es nach dem Koitus noch zum Locus amoenus einer Kölschkneipe schafft, kauft am Eingang eine klopapierrollendicke Getränkemarkenreserve und überläßt sich bevorzugt den erregenden Unmittelbarkeits- und Folgewirkungen des lendenweichen Mühlen Kölsch, das, »frisch aus der Malzmühle« geflossen, als würziger Appetizer, der den bald greifenden Fastengeboten schon vorauseilend nicht im mindesten zuwiderläuft, das einzige seines Faches ist, das den altknorkigen Sortencharakter nicht leugnet und, vollharmonisch auf die Kölsch-Konvention geeicht, nicht im Pils-Simulations-Orkus umherirrt.

»Köbes, gib Bier auf die Mühlen!« rufen die Jockel, Gockel und Jecken, und falls die Flasche nicht poppt, so ploppt sie doch. Es ist noch auf etwas Verlaß in dieser Welt und in diesen Tagen.

Berwersdorff hat unrecht

Der Kollege und Freund Michael Tetzlaff schrieb ein Buch, obwohl er nie Lust gehabt hatte, eins zu schreiben, und war, um nicht jeden Abend mit Freunden oder mit mir in irgendwelchen Frankfurter Kneipen herumzuhängen, anstatt an seinem Buch zu schreiben, für zwei Wochen an die Ostsee gefahren.

Die Ostsee sei ohnehin die einzige Gegend auf der Welt, in der man es aushalten oder die man erreichen könne, ohne fliegen zu müssen, hatte Herr Tetzlaff vor der Abreise gesagt. Ich erkundigte mich dann täglich telephonisch über den Fortgang der Arbeit und darüber, wie es an der Ostsee im großen und ganzen bestellt sei, und Herr Tetzlaff sagte, es habe an der Ostsee eine Menge Wasser, das kalt sei, er fürchte zu sterben, springe er ins Wasser, des weiteren habe es diverse Kliniken, ein FDJ-Heim, das zum Superbumshotel oder zu was auch immer umgebaut worden sei, und das Bier sei ja auch nicht mal das schlimmste, Rostocker Bier, das könne man trinken.

»Hast du noch genug Zigaretten? Soll ich dir zehn Stangen vorbeibringen?« fragte ich Herrn Tetzlaff, aber die Verbindung brach ab.

Am nächsten Morgen kaufte ich zehn Stangen Zigaretten und setzte mich neun Stunden lang in den Zug.

Graal-Müritz ist nicht groß. Ich traf Herrn Tetzlaff in der ersten der beiden Kneipen. Er rauchte Caro-Zigaretten, trank Rostocker Bier, er begrüßte mich, ich begrüßte ihn, anschließend tat ich es ihm gleich.

Zwei oder drei Tage lang taten wir das (ohne die Begrüßungsgeschichte, die gewöhnten wir uns schnell ab). Während eines Spaziergangs schmiß ich die mitgebrachten Zigaretten in den Vorgarten einer der Kliniken. Herr Tetzlaff merkte das nicht, wahrscheinlich schrieb er im Geiste weiter an seinem Buch.

Gewöhnlich liefen wir zehn oder zwanzig Minuten am Strand entlang, guckten auf die zähe, zufrieden schwappende Ostsee, fanden das okay und gingen in ein Promenadenrestaurant. Dort spielten wir Mühle bis zum Zapfenstreich und tranken Rostocker Bier.

Ich kann von mir wirklich behaupten, alles getan zu haben, um die Fertigstellung des Buches zu verhindern. Es ist fertig geworden, Ostblöckchen, dieses zu einem Gutteil ohne meine Kontrolle und trotz meines aufmunternden Kollegenarbeitsbesuches an der Ostsee entstandene Wunder von Buch, ein Geniestreich auf dem Feld der Hochkomik.

So verdankt die Welt der Ostsee das Ostblöckchen, in großen Passagen zumindest. Ich verdanke der Ostsee außer dem Ostblöckchen, dem wiederentdeckten Feingenuß des Caro-Rauchens an der Meeresluft und der freundschaftlichsten Zusammenkunft beim Bier zudem eine, und dann sind wir bald auch schon wieder durch mit diesem Text, nützliche Belehrung oder Einsicht.

Denn die Bild-Zeitung darf und kann, wie am 24. Mai 2004 geschehen, schreiben, was sie will; sie darf mitteilen, im Sternbild des Großen Bären sei »die Hölle los«, da sei die Galaxie M82 zugange, brodele »wie ein Hexenkessel« und jage »unvorstellbar große Gaswolken mit 1,5 Millionen Stundenkilometern pro Stunde durch den intergalaktischen Raum«, und sie, die Bild-Zeitung, darf diesen gut recherchierten Bericht (von Hans Berwersdorff) auch mit der genialen Überschrift schmücken: »Achtung, irre Kamikaze-Galaxie!« – aber im oder am Himmel über der Ostsee ist dergleichen nicht zu sehen. Im Himmel über der Ostsee ist alles im Lot, Berwersdorff lügt.

Am Abend vor der gemeinsamen Abreise gingen wir noch mal an den Strand. Wir wanderten von einem Gasthaus, in dem wir Caro-Zigaretten geraucht und Rostocker Bier getrunken hatten, durch den Kiefernwald am Rande der Ostsee und nahmen einen der mit alten Betonplatten ausgelegten Zugänge zum Wasser.

Herr Tetzlaff sagte: »Hier muß mal saubergemacht werden.« Er wollte den halb versandeten Weg fegen, das war sicher eine gute Idee. Wir setzten uns aber bloß in den Sand. Der fühlte sich angenehm an, noch ein wenig erwärmt, und die nur angedeuteten Wellen wechselten sich sehr freundlich, ja irgendwie kommunistisch gesonnen ab in ihrem zwanglosen Herzu-und-Hinweg-Getue.

Es war eine klare Nacht, und irgendwann schaute ich in den Himmel, keine Ahnung, warum. Da standen unglaublich viele »schöne, helle, goldne Sterne« (Heinrich Heine). Das gefiel mir, ein wohliges Gefühl stellte sich ein. Da oben ihr, hier unten wir. Ätsch.

Es war, als hätte ich nie zuvor einen Sternenhimmel gesehen. Das ist natürlich Unfug. Aber hier, an der Ostsee, an einem Meer, das nichts von mir und, so glaube ich, für den Freund und Kollegen Tetzlaff sagen zu dürfen, nichts von uns wollte, an einem Meer, das sich nicht erhaben aufwarf und nicht schäumte und spuckte, hier leuchtete mir zum erstenmal ein, was der Königsberger Kant ans Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft eigens fürs geflügelte Lexikon der Humanität hingeschrieben hatte: »Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« Befriedung, Vernunft, Glück. Mag der Kosmos blöd sein, die Ostsee ist um so klüger.

Herr Tetzlaff erklärte mir dann die ganzen Sternbilder in ihrem sauber inszenierten »Schlummerleuchten« (Theodor Storm), den Großen Bären und den Großen Wagen, den Kleinen Wagen, den Polarstern und die Seeschlange. Das einzige, was zu diesen »Sternen wie Sand am Meer« (Barbara Häusler) und zu diesem Kant-Gedanken noch fehlte, war ein Rostocker Bier. Das haben wir aber auch noch gekriegt.

Diffuses Wartegebaren

Das Plätschern, nein, das Gurgeln und Schnorcheln, das Sprotzeln oder eher Schwörlen des Wolgawassers bei nächtlicher Fahrt über den Spiegel des Wassers der Wolga ist schon – sehr schön. Auch schön ist der Brauch, in Samara am Mittellauf der Wolga Taxis dergestalt zu rufen und zu nutzen, daß man einen beliebigen Daumen raushält, daß umgehend ein Privat-Pkw stoppt, daß man das Fahrziel mit mehr als einem Daumen zu umschreiben versucht, daß man dem Fahrziel im Idealfall im Umkreis von fünf Kilometern nahekommt, daß man einen frei erfundenen Beförderungstarif entrichtet (Rückgeld gibt es nicht) und daß man dann läuft. Immer grob Richtung Wolga. Bis man, nur wenige Gehminuten vom Flußhafen entfernt, auf die Gastwirtschaft Auf dem Grund stößt.

 

Nichts schöner, als hier auf Grund zu gehen. Als hier abzutauchen, in aller russischen Ruhe vollzulaufen und schließlich abzusaufen. Dazu bediene man sich eines Getränks, das zu seligen Sowjetzeiten als der Inbegriff dessen galt, was man »Bier« nannte. Das hier verfertigte Schigulevskoje war eine Metonymie, eine mutmaßlich methylalkoholgeschwängerte.

Bereits unter Breschnew war das Bier als Volksernährungsmittel angepriesen worden, um dem Wodkawahnsinn ein moderates Narkotisierungsprogramm entgegenzusetzen, allerdings mit nicht unerheblichen geschmacklichen Fehlschlägen und Querschlägern. Gleichwohl, der Bedarf nach Bier = Schigulevskoje wuchs rasch, und die Schlangen vor den Kiosken nahmen die bei Vladimir Sorokin beschriebenen Ausmaße an. Da stand man, faltete aus Zeitungen trinkgefäßähnliche Auffangvorrichtungen, schüttete nach Aushändigung des Schigulevskojes das Schigulevskoje in sich hinein und stellte sich als armer Tropf mit tropfendem, aufgeweichtem Bierpapierbecher wieder hinten an. Wozu Zeitungen gut sein können!

Pivnaja hießen diese Ausschänke, und noch heute gibt es so eine Tränke neben dem roten Backsteingebäude der Schigulevskoje-Brauerei aus dem 19. Jahrhundert. Man lasse mithin die Brauereibar, die über den Haupteingang am Wolschki-Prospekt erreichbar und dem neureichen Geschwörl vorbehalten ist, scharf links liegen, schreite links um die Ecke und wohne dem Hausschanktreiben vor Auf dem Grund bei – dem Lungerleben mit Wolga- und komplementärem Wodkablick, dem Gewusel am Stockfischstand, dem diffusen Wartegebaren der Plastiksackträger, deren Einwegflaschen und Einmachgläser der Befüllung harren, und den sonstwie herumparkierenden Mannschaften, von denen vornehmlich jene überzeugen, die ihre Weibsbilder zum Putzen der Fensterscheiben verdonnern, während sie im Wageninneren ihre Schigulevskoje-Wodka-Tinkturen umnageln.

Im Auf dem Grund, in jener Lokalität, die in Gorkis Nachtasyl, das auf russisch nicht umsonst Auf dem Lebensgrund betitelt war, in ihrer früheren Topographie abgeschildert wird, kaut man zum betörend blonden Schigulevskoje von Wokano den prophylaktisch extrafetten Stockfisch, getrockneten, geräucherten und geflochtenen Käse sowie durstfördernd gesalzene, geröstete Brotwürfel Marke Kirijlschki oder Souchariki. Minderste Westradiomusik konkurriert mit der vorletzten Putin-TV-Rede, der Linoleumboden erwartet den ersten Erbruch, acht Bistrotische tragen allerhand Lasten, und eine Decke mit goldbeschlagaffiner Verzierung hält den Laden zusammen.

Zufrieden dreinschauende Mafiabosse der mittleren Ebene killen monströse Bierpokale, ein blau getäfelter Durchgang führt zum einzigen Gemeinschaftsklo oder in die Erdhölle. Und derweil einem beim Zermalmen der Brotwürfel die Backenknochen um die Ohren fliegen, ordert der Dicke nächst zur Toilettentür vier Weizen auf einen Schwung. Keine Minute später ist der Bestand halbiert – wie die Servietten, die Insignien der neuen Ökonomie.

Die »Strömung der Wolga«, sann Gorki, mache, »daß mein Denken lebhafter, schärfer wird«. Ein Bier im Abgrund Auf dem Grund tut’s aber auch.

Vergorene Gegenwart

Gegen Mitternacht zieht ein milder Nebel über die behaglich faule, durch allerlei in den fünfziger Jahren angelegte Stauseen zu derart artigem Müßiggang verführte Wolga. Auf dem Sonnen- respektive jetzigen Mondscheindeck blinken die erhobenen Gläser, und eine erschöpfte Bierflasche fällt um und rollt auf die Reling zu, als wolle sie dem drunten am Pier ertönenden frohgemuten Klimperspiel des Flaschengutes antworten.

Drunten, also gewissermaßen am Fuß des zirka dreihundert Passagiere fassenden und nach Georgij Shukow, dem Marschall der Sowjetunion, Heerführer der Roten Armee und späteren Verteidigungsminister benannten Flußkreuzfahrtschiffes, das unsereinen im Verbund mit einer dem Alter nach reifen Reisegemeinde von Kasan bis hinunter nach Astrachan am Kaspischen Meer schippert, immer zuverlässig brav tuckernd und ohne jede Andeutung von abenteuerlichen Überraschungen oder dräuenden Havarien – drunten also, wo uns die hölzerne Bordbrücke an Land und dort durch ein Spalier von schweigenden Menschen führt, die Stoffe, Bestecke, Batterien oder Kassetten verkaufen, da brummt und rappelt es richtig, bis in den Oktober hinein und dann spätestens ab Mai aufs neue.

Droben, wo die Reisegesellschaft mehr rechtschaffen schlapp denn aufgekratzt-fidel verweilt, zerschmilzt die Sonne am Horizont – wie eine Pfirsicheiskugel, die in ein aquarelliertes, glühend gelbes und aquamarinblaues Band zerfließt, als würden ihr die Prospekte der Tourismusbranche das vorschreiben. »Die Natur ist nie Kitsch«, bewundert manch einer zu Recht eine solche Anmutung, und doch zieht es einen nach unten. Abermals runter vom Schiff möcht’ man springen und hetzen hinein ins Gewusel und Gequirle.

Droben ist Natur, droben ist Tourismus, zu einem aparten Paar vereinen sie sich höchstens bei Einbruch der Dämmerung. Drunten ist, sobald unser Dampfer als das von der halben Stadt inklusive Brot, Bürgermeister, Salz und Trachtentruppe erwartete und jeden anderen im Hafen herumlungernden Rest- und Rostkahn zufriedenstellend überragende Symbol des Aufschwungs andockt, das Leben.

Beim buddhistischen Dahintreiben auf dem Fluß neigt sich die Wahrnehmung nach innen, sofern man das ewige, breite Fließen für ein Bild stiller Erhabenheit erachtet, das mythische Konnotationen transportiert. Es genügt indes genauso, einfach nur das sanfte, einnickende Ufer dahingleiten zu sehen und die Bezeichnung »Dampfer« als Euphemismus dingfest zu machen. Dampfen, brausen, rauschen tut’s wenige Schritte vom Pier entfernt.

Der Fluß und das Leben, der »heilige Strom« (Gorbatschow) und die säkularen Menschen: In der Welt ist in Rußland, wer sich, kaum hat er hundert Schritte getan, im erstbesten Bierzelt einfindet, unter einem der zahllosen, aus Plastikplanen gefügten und von einer der expandierenden heimischen Großbrauereien gesponserten knallbunten Baldachine, unter denen das Glas- und Plastikflaschenbierangebot Ausmaße annimmt wie die Kartoffelchipsabteilung im amerikanischen Supermarkt. Und obwohl diverse der den Markt überschwemmenden Sortimente an Turbovergärung und Fuseltuning gemahnen – weshalb man sich zuzeiten als Bierzurückgehlasser oder immerhin Bierstehenlasser betätigt –, schiebt die auf Vergnügen und Eros geeichte Jugend, als gebiete ihr das ein ehernes Gesetz der Tradition, eine Fuhre nach der anderen in sich hinein, geschlechtlich paritätisch verteilt.

Der von der Staatsduma unternommene Versuch, ab 1. April 2005 das Biertrinken aus der Öffentlichkeit per Gesetz zu verbannen, ist am Veto des Föderationsrates gescheitert. Die blühende Bierbranche atmet auf, die Mehrheit der Russen atmet durch. Das Bier aus der Flasche – im Gehen oder im Zelt, auf der Parkbank oder auf den Stufen der imposanten, von marmornen Propyläen und Kandelabern gesäumten Granittreppe des Wolgograder Flußhafens genossen – befördert eine erdnahe Beschwingtheit in unmittelbarer Nähe zur nassen Lebensader des Landes, eine sukzessive befeuerte Freude, die jene Melancholie verscheucht, die man hier allenthalben auch zu gewärtigen meint.

Gewiß, in Uljanowsk, wo der Hafen zerbröselt wie die Kulisse der Breschnew-Plattenbauten oben am Berg, erfüllt das Bierzelt vornehmlich elendstrinkerische Funktionen, und in Kasan stapeln sich im ferrariroten Bierunterschlupf rund ums markenstrotzende Bierdepot pro forma ein Sixpack Wasser, indifferente Säfte, Eisweintinkturen, Fischdosen, Kaugummischachteln und anderweitiger »magenfüllender Unfug« (E. Henscheid). Doch ob im hafennahen Park von Saratow – der »Stadt des Kühlschranks« –, wo sich die schönsten Frauen der Welt, begleitet vom unvermeidlichen Dröhnpop, zum Bier vor den ihnen zugewiesenen Zelten versammeln, oder an der Bierflaniermeile Wolgograds mit ihren schlicht bis diskopeppig orientierten Zeltbauten: Überall verdampfen das Elend der Ökonomie und der Terror der Geschichte in der emphatischen Gegenwart der vergorenen Gerste, und sei’s für ein paar illusorische Augenblicke.

Wenn das Licht der Stadt am abkühlenden Horizont im Tintenschwarz des Himmels versickert, ist man wieder unterwegs – und zurückgeworfen in die Tristesse des touristischen Teilzeitdaseins. Trost spendet allein Gottfried Benn: »Wen Bier hindert, der trinkt es falsch.« Oder doch Dostojewski? »Der betrunkene Russe ist vielleicht gemeiner als der betrunkene Deutsche, doch ist dieser zweifellos dümmer und komischer als der Russe.«

Oder umgekehrt? Wir denken bei einem Baltika Export 7 noch mal verschärft versonnen darüber nach.

Dialektischer Durst

Es gibt ja bundesweit, ob auf dem Land oder in der Stadt, nahezu keine Wirtschaft mehr, in der man, egal, ob man sie zur durstlöschendsten Zeit um 14.23 Uhr, zwecks Frühschoppenaufmunterung oder zum hirnkrampflösenden Abendbierausklang betritt, nicht berieselt, belästigt, akustisch besabbert wird. Denn es gehört zur akuten modernen Conditio humana wie der Reformstau und die flächendeckende neoreligiöse Demenz die scheinbar durch nichts mehr einzudämmende Verlärmung der Existenz selbst dort, wo der gebeutelte einzelne durchaus mal zu sich kommen, einem Gedanken nachhängen und darob den Rand halten könnte.

Da der moderne Mensch seinerseits offenbar alles vermag, außer die Klappe zu halten, die er mitunter allein sachte zu öffnen sich anschicken sollte, wenn er einen Schluck Wein, einen Nipper Wasser, einen Hieb Wodka oder einen Schwall Bier durch jene in sich hineintransportieren möchte, vermag er es nicht mehr, einfach für sich zu sein, wo allein und still und vergnügt oder traurig zu sein nach Karl Kraus einzig wirklich möglich ist: in der dezenten Öffentlichkeit eines Gasthauses.

Doch, so dialektisch diffizil ist die Lage. Je unbarmherziger dem einzelnen vor Augen geführt wird, daß er nutzlos ist wie eine Gerstenspelze, alleingelassen, verworfen, weggeworfen, desto mehr verlangt es ihn nach simulierter Geselligkeit, und deshalb nimmt er es, mitten ins allgemeine Kuddelmuddel des dummen spätkapitalistischen Lebens geworfen, unwidersprochen oder sogar insgeheim dankbar hin, selbst dann, wenn er endlich für sich sein könnte, in der am besten angenehm leeren Wirtschaft, mit Technojazz und Tahiti-HipHop zugespachtelt zu werden, ohne Unterlaß und von Jahr zu Jahr in stramm anschwellender Lautstärke. Die Welt, die einem nichts mehr sagt und in der man nichts mehr zu sagen hat, sie töne.

Daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, besagt ein allzu bekanntes Bonmot von Theodor Wiesengrund Adorno, ein, näher betrachtet, nicht gerade einleuchtendes zumal übers, genauer, Wohnen im Spätkapitalismus. Adorno war kein großer Kneipengänger, seinen Wein- und Champagnerdurst befriedigte er eher privat. Lediglich den morgendlichen Cognacbrand bekämpfte er zusammen mit seinen Spionen aus den Reihen des SDS im Frankfurter Café Laumer. Getarnt waren diese Flüssigkeitszufuhren als »Frühstück«.

Mehr als dreißig Jahre später kann einem in einem Odenwälder Dörfchen mit dem schönen Namen Winkel allerdings aufgehen, daß Durst und Dialektik, dieser manchmal selbst vom Odenwald- und speziell Amorbach-Fan Adorno geringfügig überstrapazierte Denkmodus oder -habitus, durchaus verschwistert sein mögen – nicht weil zuweilen mit Abnahme des Pegelstandes etwa im Bierglas das Bedürfnis nach einem weiteren und womöglich noch großzügiger bemessenen Bierpokal seltsamerweise wächst, sondern weil in Winkel, jenem an einem der malerischsten Berghänge Zentraleuropas gelegenen Ort, eine altmodische Ausflugsrestauration schlicht und herzergreifend Zum Wiesengrund heißt. Und in der hocken am Freitagabend drei bis acht vorsichtig plaudernde Gestalten unbestimmter Herkunft herum, und während sie weder grölen noch Parolen schmettern, tröpfeln aus unsichtbaren Lautsprecherboxen ganz behutsam doofe Treuherzschlager, die Begleitgesänge deutschen Tums und deutscher Barbarei.

Im Vergleich zu der alltäglichen Erfahrung, die man macht, wenn man seinem Durstgefühl folgt, ist das nahezu plausibel, nein: gefällt das regelrecht. Man bleibt sitzen und bestellt ein viertes Glas, eines schon beinahe über den Durst. Das ist gewiß ein gewissermaßen dialektischer, ein verzwickter Vorgang, eine annäherungsweise adornitisch komplexe, gleichwohl prima praktische Erkenntnis, hab’ ich den Eindruck. So weit hat uns die Welt mittlerweile gebracht. Oder eben mich. O Wirrnis!

 
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