Die Poesie des Biers

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Kino

Freund M. und seine Frau A., Frau C. und ich waren im Kino, in einem richtig guten, schönen Kino mit bequemen, breiten Sitzen mit großer Beinfreiheit. Der Film war auch gut, Aki Kaurismäkis Der Mann ohne Vergangenheit. Gerade hatte der schöne Dialog stattgefunden, in dem der Protagonist sagt: »Danke für das Bier«, und der ältere, arme Mann, der ihm ein Bier spendiert hatte, antwortet sinngemäß: »Danke, daß du mir die Gelegenheit gegeben hast, acht Bier zu trinken«, als Freund M. aufstand und nach draußen verschwand. Vielleicht gefiel ihm der Film nicht, oder er mußte rauchen.

Nach ungefähr zehn Minuten tauchte Freund M. wieder auf, in meinem rechten Augenwinkel. Es war wie eine Erscheinung, als er plötzlich am Ende der Reihe in den von der Leinwand über die Sitze fallenden Schein trat, denn er trug vier leuchtende Weizenbierpokale bei sich, ja, er hatte sie mit beiden Armen vorsichtig – nicht wärmend, aber schützend – umschlungen wie einen Schatz oder wie ein Gotteskind, und als ich das sah, diese vier einträchtigen Weizenbiere, wie beschaffen und beschafft für uns, von ihm, dem Freund, da wußte ich, daß es keines weiteren Beweises mehr bedurfte für das wahre Gute in der Welt und in den Menschen. Sie müssen nur das Richtige im Kopf haben: Bier.

Kneipenkomik

Daß Kneipen nicht per se Orte des Komischen, aber sehr oft Bühnen für sehr, sehr komische, krumme, chaotisierende Charaktere sind, das lehren uns Literatur und Leben. Leider verschwinden zusehends jene simplen Gasthäuser, jene Rohkomikkabuffs, in denen sich das Publikum richtig mischt und eben erst diese Mischung die zuweilen irisierendsten Durcheinanderquatschereien von Vertretern der Bäcker-, der Fahrrad-, der Videoverleih- und der Bremsbelagbranche möglich macht. Wer mal zwei, drei triste Stunden in einem Aufsteiger-, Börsianer- und Werberschuppen vergammelt hat, weiß spätestens dann die angebliche Borniertheit der Normaltrinker und -schaffer zu schätzen. An deren teils großartig törichtem, widersprüchlichem, völlig gelöstem Gelaber entzünden sich unvermindert die schiefsten, dynamischsten, ungewollt artistischen, die wuchernden, ungeheure Satzverschachtelungen und Argumentationsverwirrungen erzeugenden Dialoge und Dramolette.

Manchmal reicht jedoch auch ein einzelner Satz, wenigstens mir, zum Beispiel eine herrlich grundlose, bündige Beleidigung. Eine solche landete formvollendet in der ausgerechnet dem FAZ-Personal als Speiselokal dienenden Frankfurter Zeitungsente ein mir Tag um Tag lieber werdender genialischer Bauunternehmer, schon tapfer weißweintequilaschorlebefeuert, gegen die Mitte des Raumes hin kreiselnd und die Journalistenmannschaft wunderbar düpierend: »Mein Name ist Wolfgang Stumpf, ich koch’ kaa Nudeln, verkauf’ kaa Auto, ihr könnt mich am Arsch lecken.«

Ich mußte sehr lachen. Ob da ein neuer Duschke heranwächst? Ich observiere weiter.

Die Gasthaushölle und die goldene Gerste

Einerseits hätten wir da: Ansbacher Hof, Hans Gruber Sommerkeller, Gaststätte Frank, Goldener Schwan, Wittelsbacher Hof, Wieland-Stubb, Schneiderskeller, Zur Linde, Grüner Baum, Gaststube Benaburger, Rotes Roß, Wirtschaft von Georg Schaffer, Zur Sonne, Bürgerbräu Stuben, Gasthof Herold, Zum Roten Ochsen, Lindenkrug, Brauereigasthof Weißes Roß, Zum Schwarzen Bären, Sonnenhof, Kreuzbergkeller, Landgasthof Rittmayer, Gasthaus Blauer Löwe, Zur schwarzen Katze, Zur Post, Zum goldenen Adler, Weißes Lamm, Schöne Müllerin, Schöne Aussicht, Krug zum Goldenen Kranz, Goldene Gerste, Brau-Gaststätte Mainlust, Solzer, Biergrund, Alte Mühle, Zum Hirschen, Zum Goldenen Stern, Goldene Krone.

Andererseits: Labyrinth, Lebensfreude pur, Fabrik, Living, Lüsterweibchen, Zum Häßlichen, Zwischendurch, Saftladen, Energy Eatery, Thomas-Mann-Stubb, Upper Westside, Weinstube Schampus (vgl. Bild, 11. Februar 2003: »Grünen-Chefin blau im TV?«, das heißt: »Hicks! Prost!« wegen »eines Glases Weißwein«: »Der Außenminister sieht sich gefesselt« [Beerlein]), Verona, Ambiente, APO, Oldtimerstübchen, Natur-Bar, Wunderbar, Hexen Häuschen, Himalajahaus, Historix, Holzkopp, Futterstadl, Pfefferdutt, Lobster, Gäulchen, Guck-Guck, Klick-Klack, Krawallschachtel, Mampf, D’Andrea, Joschis Pinte, Funny House, Die Gans, Die Spaßkneipe, Die Hölle .

Was klingt (nach einer) besser(en Welt)?

Das Verschwinden des dicken Luftraums

Wie sie da sitzen und bald nicht mehr sitzen werden – die vier Schafkopfer, seelenstumm in ihre spielerische Wirklichkeit versenkt, jeweils ein Halbliterglas Helles vor sich. Die Karten platschen auf die klebrige Tischplatte, die zerknitterten Gesichter verschwimmen im Zigarren- und Zigarettenrauch, das Lampenlicht durchdringt den dunkeldicken Qualm kaum.

Ein Endfünfziger bringt Bier – Stirn und Wangen eine Schluchten- und Kraterlandschaft, die Augen wäßrig und weich, Schildkrötenhaut bedeckt seine knochigen Finger. Das mache vier Euro zwanzig, sagt er, für zwei Halbe.

Das sei ja, würde der Metropolenmensch jetzt ausrufen, hätte er hierher gefunden, »fast geschenkt!« Bald aber wird man in Fürths Bahnhofsgaststätte wohl nichts mehr geschenkt bekommen, und man wird nicht mehr bewirtet werden von einem Mann, der dies sehr gut kann – ohne Sperenzchen, ohne Tamtam – und der wahrscheinlich nichts anderes kann, weil er wahrscheinlich nie etwas anderes werden konnte als Bedienung in der Bahnhofsgaststätte zu Fürth.

Auch die vier Schafkopfer werden ihre Raucherhölle verlassen müssen, in der sie niemand belästigt und in der sie sein können, was sie noch sein können, denn die Modernisierung der Bahnhöfe schreitet voran. Fürth, so steht zu vermuten, ist demnächst dran, in Nürnberg nebenan hat die »Unternehmensbereichsleitung DB Station&Service« ihr Werk ja schon vollendet und ganze Aufräumarbeit geleistet, nämlich ein an innerstädtische Einkaufspassagen erinnerndes, durch Securitykräfte geschütztes, luftig-lichtes Konsumparadies aus Boutiquen, Hot-Snack-Points, Wok-Opens, Rail-Ins und Coffee-Table-Lounges geschaffen, in dem für Nichtsnutze, Gescheiterte, Deklassierte und Müßiggänger kein Platz mehr ist. Bis 2010, vermeldet die Deutsche Bahn AG denn auch stolz, werde man weitere fünfhundert Millionen Euro »in unsere Bahnhöfe investieren« und sie unwiderruflich ruinieren.

Die unheilvolle Geschichte der Renovierung, aus der eine revolutionäre Umgestaltung der Bahnhöfe in »moderne Verkehrsstationen und Dienstleistungszentren« (DB), in Shoppingtempel und postmoderne Gastroreiche wurde, begann, obgleich in Frankfurt am Main bereits 1972 das erste Intercity-Restaurant eröffnet worden war, etwa Mitte der neunziger Jahre des verblaßten vergangenen Jahrhunderts. Das Verschwinden der Bahnhofsgaststätte, eines Raumes der Aufenthaltsmöglichkeit für allerhand unterschiedliche und angesichts ihrer Unterschiedlichkeit schlicht geduldete Leute, die rasten und Zeit überbrücken oder vergeuden konnten, ohne eine On-Top-Befindlichkeit des schikken Lifestylereisenden simulieren zu müssen, kündigte sich womöglich mit der rigiden Handhabung des Zugangs zu den Toiletten der Bahnhofswirtsstuben an. »Toilettenbenutzung nur für Gäste« hieß es zum Beispiel in München plötzlich, und wenig später war nicht nur der Zugang für Mißliebige, weil nicht Geldpotente gesperrt, sondern auch der Gaststättenraum zerstört.

Im Sommer 2000 hatte man den alten Gaststättenbereich entkernt und abgerissen. Heute dominieren in allen großen Bahnhöfen die gläsern-rauchfreien, stahlblanken, strahlenden, blitzsauberen, meist keinem Sitzbedürftigen mehr Gelegenheit zum Verschnaufen bietenden Multifruchtsafttheken und Milchbars, die markenschreierischen Cafés Nescafé (wie in München) oder die systemgastronomischen Errungenschaften der worthöllisch anspielungsreichen Exklusivbierbuchten und Erfrischungsecken namens Connection BAR oder Kaffee mit … (wie in Frankfurt am Main). »Der Münchner Hauptbahnhof ist für viele Reisende das Eintrittstor zu Bayern«, deklamierte Bayerns Wirtschafts- und Verkehrsminister Otto Wiesheu angesichts der 12,3 Millionen Euro teuren Neugestaltung des Münchner Gastronomiebereiches begeistert. »Mit dem neuen Gastronomie-Highlight zeigt der Freistaat an prominenter Stelle, daß sein Gastgewerbe nicht nur Kultur hat, sondern selbst Teil der bayerischen Kultur ist.« Das Bayerische an dieser Kultur dürften die Brezen und Weißwürste sein, die nach wie vor verkauft werden.

Rührig und schäbig zugleich mutet da an, wie sich etwa im Rosenheimer Bahnhof das neofolkloristisch aufgemotzte Servicekonzept einer breiten Angebots- und Stilpalette in einem Potpourri aus Markt-Backshop, Imbiß, Bierschwemme, Stadt-Terrasse, Südtiroler Stub’n und Luitpold-Stub’n niederschlägt. Letztere Einrichtung zumal erregt durch ein Edelkitschinterieur par excellence schlichtweg das blanke Grausen. Wilhelm Buschs Zeichnung »Die Mittagstafel in der Rosenheimer Bahnhofs-Restauration«, 1860 erschienen in den Fliegenden Blättern, hielt eine tumultuarische Riesenversammlung überschwenglich gestimmter Speisender fest, und vom ersten Pächter der Halleschen Hauptbahnhofswirtschaft, dem Ende des 19. Jahrhunderts segensreich wirkenden Gustav Riffelmann, ging die Kunde, er sei »eine stadtbekannte Persönlichkeit« »von imponierender Gestalt« und mit einer außergewöhnlichen »Großzügigkeit« ausgestattet gewesen. Bei dem ließ sich jeder, der dazumal, was nicht ungewöhnlich war, lange Wartezeiten erdulden mußte, gerne nieder. Heute will man allenthalben bloß noch weg.

 

Bevor es ganz zu spät und die alte Bahnhofsgaststätte, eine Art Agora, ein Zentrum der zufälligen Zusammenkunft inmitten der Dynamik des Hin-und-weg, vollends hinwegsaniert ist, sei ein Halt in Würzburg empfohlen. Hier, in den Bürgerstuben im Bahnhof, sitzen sie noch, die alten Frauen aus der Stadt, die nicht reisen, aber Apfeltorte mit Schlagobers verspeisen, und die alten Männer aus der Gegend, die, wie Karl Kraus, die Öffentlichkeit brauchen, um einsam sein und ihr Bier trinken zu können.

Stellwände teilen den Raum dezent auf, eine Messinguhr tickt, an der braungetäfelten Decke hängen Kugellampen, an den schmiedeeisernen Kleiderhaken graue Mäntel, daneben baumelt die örtliche Zeitung. Kellner Christofolos wandelt über braune Teppichläufer, die mit Metalleisten auf dem Linoleumboden befestigt sind, und verteilt überwiegend Bier. Wer hier einen Cappuccino trinkt, gehört dem Teufel.

Links schmückt ein Panoramastich die Wand, rechts eine Butzenglasarbeit, die das seit langem vom Markt gefegte »Patrizier-Bräu Würzburg« bewirbt. Davor schaufelt ein Ehepaar Hacksteak und Pommes in sich hinein. Die meisten indes nippen lediglich am Bier und rauchen. Hier wird außerordentlich stark geraucht, eine Nichtraucherecke gibt es nicht. Man raucht Stumpen, Selbstgestopfte, HB, und man trägt bevorzugt Kordhose oder Trainingsanzug und auch mal eine Schiebermütze.

Dr. Benn wäre auf einem der Holzstühle an einem der Tische gut aufgehoben gewesen, zu sich selbst beschwörend sagend: »das Bier heben, soliden Blicks, schaumgeboren – reiner Abendausklang«.

Bier im Schuh

Als ich vom Sportschwimmen die Nase voll und durch ebendiese genügend Chlor inhaliert hatte, wurde ich Handballer.

Wir zogen vom gefährlich nah ans holländische Drogenzentrum Heerlen grenzenden Städtchen Brunssum zurück nach Deutschland. In St. Augustin, einer Bonner Schlafstadt, bezogen wir ein Klinkerhaus mit Glasbacksteinen als Toilettenfenstern.

In diesem Haus konnte ich nicht den ganzen Tag herumhocken. Ich mußte etwas tun und auch mal raus. Ich meldete mich im Handballverein an, denn Handball hatte mir im Schulsport immer schon gefallen. Beim Handball wurdest du nicht als einzelner, als dem notengebenden Schleifer Ausgelieferter examiniert, wie etwa beim Pferdsprung oder beim Ringen an den Ringen, sondern du warst aufgehoben in einem Kollektiv, das dich agieren ließ, ohne dich zu traktieren. Handball in der Schule war Schulung gewesen – Schulung der Wahrnehmung, daß du nicht allein dein Dasein zu bezwingen verdammt bist, sondern daß du zwanglos, spielend einen Vertrag mit anderen darüber abschließt, sich gegenseitig zu unterstützen. Das ist wohl das respektabel Humane am Mannschaftssport, solange er nicht als Wettbewerbssport betrieben wird.

Ich war also, endlich erlöst vom endlosen Kachelzählen, im Handballverein gelandet, und ich startete meine neue Karriere bravourös. Im dritten oder vierten Training brach ich mir den linken Ringfinger, weil ich ein Zuspiel nur mit einer Hand annahm, aber ich machte weiter, ich zeigte Härte. Ich biß den Schmerz hinunter und ließ mir nichts anmerken. Denn ich wollte spielen, an den Wettkampfsonntagen. Das war das Ziel.

Ich erreichte mein Ziel, doch mit dem Erreichen des Ziels waren neue Ziele verbunden. Die neuen Ziele kündigten sich schon vor dem eigentlichen Ziel, dem Spiel, an. Schon vor dem Spiel, als man sich vor einer Sporthalle im Rhein-Sieg-Kreis traf, in der man gleich das so fiebrig erwartete Match zu bestreiten hoffte, sagten einem die Mitspieler, daß sie schon sehr gut, ja hervorragend »drauf« seien heute morgen.

Doch, doch, man habe schon mal, heute sei ja Sonn- und Spieltag, ein, zwei Große gewuppt und sich von innen schön geölt, sagten der Lange, der Center, und der Kurze, der Dicke, unisono, das gehöre sich so. Wir standen vor dieser Halle, und ich war nervös. Der Lange und der Kurz-Dicke kicherten, sie demonstrierten eine Leichtigkeit, die mir ganz fremd war, mir, der von einem Fuß auf den anderen trat, weil ich ja doch endlich ein Spiel bestreiten wollte und mich bewähren mußte. Ansonsten, im Falle des Versagens, drohte »die Bank«.

Doch, taktisch aufgetankt habe man schon mal, sagten die beiden. Der Trainer, ein untersetzter Metzger, fuhr vor, pellte sich aus seinem Auto und führte uns in die nach Bohnerwachs riechende Halle.

Hinterher fragte ich mich oft, ob sie nicht auch in der Halbzeitpause irgendwo ein Großes zischten. Jedenfalls spielten der Lange und der Dicke in der zweiten Hälfte immer noch waghalsiger und befreiter auf als in der ersten. Bayern-Trainer Udo »Pilslatte« Lattek hatte ja seinem nervösen Fohlen Karl-Heinz Rummenigge vor dem Anpfiff öfter mal einen Cognac verordnet und einpfeifen lassen. Was dem Fußballer der Schnaps, das dem Handballer das Bier.

Unser Trainer hatte einen sehr schönen roten Ballonkopf. Er schnaufte beim Gehen, aber wenn er mal zwei Meter die Seitenlinie entlangstapfte, war er sehr agil. Es lag vielleicht an seinen immerweißen Spezialhandballturnschuhen, die ihn dann gegen alle Gesetze der Bierschwerkraft herumfedern ließen, als sei er ein Balletthandballer.

Ich war Linksaußen. Das ist, wie im Fußball, die Idiotenposition. (Nur der Handballtorwart ist noch bekloppter als der Handballinksaußen.) Von links außen werden im Handball mehr »Hundertprozentige« versiebt als von jeder anderen Position. Das kann ich beweisen. Man setzte mich auf die Bank.

Des Trainers Glatze glänzte wie eine blankpolierte Messingtresenarbeitsfläche. Danach, um etwa vierzehn Uhr, gingen wir in ein Rustikallokal. Jetzt, sagten der Trainer, der Lange und der vorbildlich unsportliche Kurz-Dicke unisono, werden wir einen Stiefel trinken.

Wer einen Bierstiefel zum Munde führt und das Bier nicht in den Schlund schleust, sondern über das Gesicht schwappen läßt, ist ein Idiot.

Man lachte mich aus. Der Trainer lachte, und seine Glatze leuchtete im gelben Schein der Bierkneipenlampe. Der Lange lachte, und der Kurz-Dicke, sein kleiner Reinschüttbruder, kicherte.

Das hat meiner Liebe zum Bier nicht nachhaltig geschadet, aber es war dies, ohne daß ich es damals ahnte, doch das genaue Gegenteil des stillen Tresentrinkens, das ich manchmal schätze, wenn das Kollektiv um mich herum kollabiert und ich eine Wand angucke.

Es gibt gute Gründe, betrunken sein zu wollen. Aus einer Gruppe, zumal einer Gruppe von Sportlern, kommen sie nicht. Ein drogenfreies Leben ist ein Fluch, ein protestantischer. Ein Sportlerdrogenleben ist ein Grauen, ein fürchterliches, ein doppelt protestantisches Grauen des Zwangs. Saufen gegen und als Leistung.

Damals, 1983, gab es noch nicht diese Turnschuhe mit Plastikglasbausteinen im Absatz. Hätte es sie gegeben, ich bin sicher, hinter den Sichtfensterchen der Turnschuhe meiner Handballergenossen wäre Bier geschwappt. Nein, geschwommen, hin und her.

Trotz Zahlkraft der Heimat so fern

Wohin ich denn wolle, fragte der Taxifahrer. Sein von einem wohl noch nicht allzu langen Leben in Hanau gezeichnetes Gesicht hing elend und ohne jeden Anflug von Milde zwischen Türholm und heruntergelassener Scheibe. Der Mond bestrich den Bahnhofsvorplatz mit einer schmierigen grauen Lasur, und es war kalt wie im Herzen Josef Stalins oder Friedrich Zimmermanns.

Vor mehr als einer Stunde hatte ich in Mainz die S-Bahn genommen. Es war ein anstrengender, aber zufriedenstellender Arbeitstag gewesen. Die Schlußkorrektur eines Buches hatte alle geistigen Kräfte verbraucht und Herr Büsser, der Chefideologe des noblen Ventil Verlags, anschließend zu einigen dampfablassenden Bieren geladen.

Um kurz nach zwölf war ich in Mainz-Süd in die S 8 gefallen, eine gute halbe Stunde später wäre ich zu Hause in Frankfurt gelandet. Nun schaute ich in den widerlichen Himmel über Hanau. Die Uhr zeigte Viertel nach eins. Auf den Gleisen standen Gleismeßzüge, verrostete Cargo-Waggons und gestrandete InterRegios. In der Ferne schimmerten ein paar Funzellichter. Ein Kasten, das Arbeitsamt, entworfen von unzweifelhaft schwerkriminellen Halunken, schob sich ins Passepartout aus Nichtigkeit, Weltverachtung und Wirklichkeitsvernichtung.

Nichts fuhr mehr, kein Zug, keine S-Bahn. Finis, Feierabend, Sense. Weil ich eingeschlafen und an der Endstation Hanau von einem unbarmherzigen Bahnbediensteten aufgeweckt worden war, hing ich jetzt in der denkbar verfluchtesten Materialisation des Nichts fest und herum wie der traurigste Arsch auf Trockeneis. Rumhängen in Hanau, das ist ein Gefühl, als müsse man sich auf der Stelle entleiben. Zum Glück fiel mir ein Satz meines Kumpels Christoph Winnat ein: »In Hanau zu sterben ist sinnlos.«

Ich hatte nicht gewußt, daß Hanau, das laut der obligaten städtischen Website »viel zu bieten hat« – eine Ex-Atomfabrik, »Dauerkleingärten« und eine »Altstadt« (www.hanau.de), aus der schon die Brüder Grimm zu fliehen sich gezwungen sahen –, darüber hinaus auch über keine sichtbaren Hotels in Bahnhofsnähe verfügt. Von Gästen will man in Hanau offenbar nichts wissen, man läßt sie am Rande der Stadt herumirren und vergammeln, dort, wo diese architektonische Saufrechheit von einem Bahnhofsgebäudespitzenmißgriff der Erde Antlitz aufs himmelschreiendste verschandelt und, die Worte sind bedächtig gewählt, entsetzlich entstellt, ja hohnlachend zur Schnecke macht.

Ich hatte also kein Hotel gefunden, weil dem untrüglichen Anschein nach kein Hotel zu finden war. »Ich muß nach Frankfurt«, antwortete ich dem Taxifahrer, und er zog die rechte Augenbraue hoch. »Das ist aber weit.« – »Ich weiß«, sagte ich demütig und wies mich mit einem Hunderter aus. »Na gut, steigen Sie ein«, sagte er, »aber ich kenn’ mich in Frankfurt nicht aus. Ich fahr’ nur bis zum Bahnhof.« – »Ich wohne bloß zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt, ich zeig’ Ihnen dann den Weg.« Er sagte nichts.

Am Frankfurter Hauptbahnhof, nach etwa sechzig Euro, endete die wortlose Fahrt. »Entschuldigung«, sagte ich, »wir müssen noch ein Stück weiter.« – »Ich kenn’ mich nicht aus«, sagte der Taxifahrer und drückte eine Taste am Taxameter. »Bitte«, ich fischte den Hunderter aus der Jackentasche, »nur schnell zweimal rechts und drei Minuten die Mainzer Landstraße runter.« – »Die was?« – »Die Mainzer Landstraße bis zur Galluswarte, dann sind wir fast da.« – »Sie haben gesagt: direkt am Bahnhof.« – »Ja, na ja, es ist wirklich praktisch am Bahnhof, das dauert nur ein paar Minuten.«

Der Hunderter in meiner rechten Hand bewegte ihn dazu, den Gang wieder einzulegen. Als wir auf die Mainzer Landstraße eingebogen waren, fragte er: »Und?« – »Gleich. Da hinten.« Ich wies mit dem Zeigefinger geradeaus. Hundert Meter weiter hielt er an. »Ich fahr’ keinen Meter mehr, ich kenn’ mich hier nicht aus.« – »Ich bitte Sie, es ist nicht mehr weit. Wir sind gleich da.« – »Das sagen Sie.« – »Glauben Sie mir doch!«

Erneut rollte der Wagen an, und im gleichen Atemzug stieß der Mann am Steuer einige dunkle, unverständliche Laute aus, was mich dazu animierte, ihm nachdrücklich Mut zuzusprechen. »Sie haben gesagt: am Bahnhof«, giftete er zurück, und als ich ihm ein mattes »Ja« entgegnete, stieg er, die Galluswarte war noch immer nicht zu sehen, in die Eisen.

»Schluß jetzt! Ende der Dienstfahrt! Raus!«

Was macht Hanau bloß aus den Menschen? Sie werden doch gut bezahlt. Von mir.