Die Poesie des Biers

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Wrba contra Rehse

Eins. Zwei. Drei. Vier. / Vater braucht ein Bier. / Vier. Drei.

Zwei. Eins. / Mutter braucht keins.

Bertolt Brecht: »Liedchen aus alter Zeit«

Während es da hinten, etwas erhöht gelegen, in den Gerätschaften, die nicht unerheblich zum Glück der Menschheit beitragen, brodelt und gärt, hocken hier unten, auf der Eckbank in der Brauküche, der Brauer Wrba und sein Knecht Rehse und erzählen, wie man braut und wie man an diese teuflischen Kessel und Bottiche herankommt.

Meister Wrba kaut auf einem Käsebrot herum, Knecht Rehse steht auf, füllt die Gläser und setzt sich wieder. Meister Wrba entflammt eine Zigarette und kommt nebenbei auf diese Malzsackmalaise zu sprechen. Er, der Knecht, habe doch tatsächlich die falschen Säcke mit zur Mälzerei genommen, diese wunderbaren Privatsäcke, und jetzt seien die unwiderruflich verschwunden.

Nichts habe er, sagt Knecht Rehse, er habe bloß seine Pflicht getan und sei zur Mälzerei gefahren. Und weil man neue, gefüllte Malzsäcke nur erhalte, wenn man leere mitbringe, habe er halt die in dieser Bruchbude hier herumliegenden Säcke genommen und abgegeben.

Von wegen Bruchbude, er solle sich mäßigen, sagt der Meister, das seien seine wertvollsten Privatstücke gewesen. Auf denen habe gestanden: »Das ist Papi«. Und nun seien sie weg, wegen einer falschen Sackrückgabe! Da lägen sie doch, die richtigen Retoursäcke, Sackzement!

Er solle sich verflixt noch mal am Riemen reißen, sagt der Knecht.

»Von meinen Kindern bemalt!« greint der Meister.

»Ja Gott!« schreit der Knecht.

»Es ist alles hin«, jammert der Meister.

»Nichts ist!« ruft der Knecht.

»Wie – nichts?«

»Ja! Nichts!«

»Von wegen!«

»Ja, von wegen. Die sind einwandfrei eingetragen worden, deine Säcke«, sagt der Knecht. »Die stehen eins a in der Leihsackkartei! Und da stehen sie noch heute!«

»Na dann is’ ja gut«, sagt der Meister.

»Eben«, sagt der Knecht.

»Genau«, sagt der Meister.

Der Poet des Bieres oder: Ode an Helmut Stier

Maigret verspürte das Verlangen nach Bier.

Georges Simenon

Er trank langsam und genießerisch zwei große Glas

Bier, während ihn ein Wohlgefühl durchdrang.

Georges Simenon

[…] und das tröstliche Bier fließt.

Harry Rowohlt

Preisen will ich – im Sinne des US-amerikanischen Dichters James Agee – einen großen Mann: Helmut Stier, den ehemaligen Prokuristen der Pirmasenser Parkbrauerei. 1976 erschien in der Pfälzischen Verlagsanstalt Neustadt/Landau ein ungeheuerliches, nur vierunddreißig Seiten umfassendes Buch von Helmut Stier, betitelt Faßliches und Un-Faßliches, und zitieren möcht’ ich hier und ehren dieses Werk, das einzigartig war und bleibt.

»Brüder, fliegt von euren Sitzen, / Wenn der volle Becher kreist. / Laßt den Schaum zum Himmel spritzen: / Unser Glas dem guten Geist!« Stier bezeichnet die (Teil-)Strophe aus Schillers Ode »An die Freude« als »die schönsten Zeilen, die je zum Lob des Bieres geschrieben wurden«. Läßlich, daß Stier da ein wenig nachgeholfen und das Bier an die Stelle des Weins gerückt hat, denn Stier verfaßte sie selber, die schönsten aller jemals dem Bier gewidmeten Zeilen.

Versöhnung, wahre, ungeschmälerte, ist das Motto des Helmut Stier. Der Johannes Rau des Bieres? Bewahre! Hätte der dem Bier nicht abgeneigte Kirchentagssozialdemokrat solche Sätze zustande gebracht? »Die Erlauchtheit des edlen Rebengewächses tut jedoch der Kameradschaft mit dem Krug schäumenden Gerstensaftes keinerlei Abbruch. Gibt es nicht Winzer, die sich nach des Tages harter Arbeit auf ein Glas frisches, würziges Bier freuen?« Ist es nicht so, o Bacchus, o Gus Backus, der ja immerhin 1967 die LP Ich bin kein stiller Zecher auf den Markt pfefferte? Gus Backus, der sich richtig »Gambrinus Bacchus« schreibt – als Realsymbolfigur der Stiftung des kantianisch ewigen Friedens zwischen Wein- und Biertrinkern?

Helmut Stier fährt fragend fort: »Rankt sich der Hopfen nicht ebenso dem alles verstehenden, alles verzeihenden Himmel entgegen wie seine empfindsame Schwester namens Rebe?« Versicherte nicht Schiller: »Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen«? Und erzählt Helmut Stier nicht eine wunderbare Geschichte von der Vermählung der germanischchristlichen und der polytheistisch-antiken Welt im Fluidum des Bieres?

Er erzählt sie, und sie heißt »Vor dem ersten Schluck«: »Der Gipfelhöhe solch freudigen Erschauerns begegneten wir auf der Insel Rhodos, zur Stunde des Pan. Auf dem durchglühten Felsensturz der Akropolis von Lindos fühlten wir uns vor Durst wie stranguliert. Kraftlos, schweißgebadet, mit zynischer Gleichgültigkeit stiegen wir zu den weißen Häuserkuben der Ortschaft hinab, überschüttet vom flammenden, erbarmungslosen Lichtregen. Seltsame Zerfaserung der Gehirnmasse, als löse sich ein Knäuel in flatternde Fäden auf. Abbröckeln des eigenen Leibes und der Welt. Da schleuderte uns das Schicksal die Taverne von ›Mama Lindos‹ auf den Weg. Welch eine Wirtin: Sie umarmte uns, holte Bier herbei, herrlich frisches deutsches Bier. Hei, teure Seele, feuchte deine Asche! Wie die schäumende Kühle unser Herz erwärmte! Wie die inwendige Dusche uns bis in die Fingerspitzen erquickte! Ganz sachte rutschten wir in den eigenen Urgrund zurück. […] Panagia, dieser göttlichen Schenke werden wir Kerzen entzünden!«

Da hat einer seinen Dr. Benn gelesen – und sehr viel mehr. »In weitem Bogen spannen sich sieben bierfrohe Jahrtausende«, erläutert Helmut Stier. »Beweis dafür, daß der schäumende Trinkstoff ein geduldiger Vermittler im Zusammenleben der Menschen ist. Als ein Geschenk der Schöpfung, das der Welt schmeichelt und mit dem sich in gewissen Zeiten ihre Bosheit und Torheit zu puren Schönheitsfehlern besänftigen lassen.«

Oh, welch weiser Mann! Preisen will ich Helmut Stier!

Und was er alles zu berichten weiß! Von William Shakespeare beispielsweis’, dem, dem gleichfalls großen Klaus Reichert zufolge, Erfinder des modernen, des Renaissance-Menschen, der in Was ihr wollt dem Junker Tobias die Zeilen in den Munde legte: »Vermeintest du, weil du tugendhaft seiest, dürfe es in der Welt keinen Kuchen und kein Bier mehr geben?«, und der allzugern an Bierwettbewerben in Bidford, dem Nachbarort von Stratford-Upon-Avon, teilnahm. Helmut Stier führt aus: »Im benachbarten Bidford konnte man kaum Shakespeares Ankunft erwarten. Dieses Dorf beherbergte eine berühmte Rasse von Biertrinkern, die darauf brannten, ihn und seine Genossen zum Wettkampf mit nußbraunem Gerstensaft herauszufordern. Man maß sich gerne in der feuchtfröhlichen Kunst, gewaltige Humpen handhabend, gegen die unsere heutigen Gemäße nur Knirpse sind. Um keine Tugenden auf sein Haupt zu häufen: Shakespeare war ein Mann dieser Welt. Er hielt die Augen nicht niedergeschlagen oder gen Himmel gerichtet. Ein Mann, der Komödien verfaßte, wenn es sein Publikum so wollte, und der Dramen schrieb, wenn es nach ernsteren Stoffen rief. Niemand fand etwas Anstößiges an diesem kräftig zechenden Dichter. Ja, man war stolz auf ihn als einen Vertreter des ›merry old England‹.«

Etwas weniger stolz ist Helmut Stier auf die – ja von Tacitus und Cäsar erfundenen – Germanen, zum Beispiel auf »jenes kompromittierende Geschehen im Teutoburger Wald, wo die germanische Infanterie, hochaktiv, angereichert mit Wirkstoffen des Gerstentrunks – simserim sim sim –, die römischen Weinfreunde besiegt hatte«; oder auf das Treiben im nordischen Götterhimmel: »Der Riese Ögir, von trüber Durstqual beherrscht, raubte eines Tages in Walhall das Braufaß. Ein ebenso trauriger wie peinlicher Tatbestand. Hätte nicht der Donner Thor das kostbare Stück zurückgeholt und den Göttern ihren Dämmerschoppen gerettet.«

Rund ums Bierfaß ereignete sich allerlei ergötzlicher Grob- und Feinunfug. »Auch in der Edda«, legt Helmut Stier dar, »entschied sich ein König für diejenige von zwei Frauen, die das beste Bier zu sieden wußte. Göttervater Odin half der hübscheren, indem er ihr heimlich ins Braufaß spuckte. Dieses Gärmittel verbesserte die Qualität des Trinkstoffs so vorzüglich, daß die Widersacherin das Duell Maß für Maß verlor.«

Maß für Maß – o weiser, großer Mann! Preisen will ich Helmut Stier! In Shakespeares Maß für Maß sagt übrigens der Libertin Lucio: »Frater, so lang essen und trinken nicht abgeschafft werden kan, wird es unmöglich seyn, es ganz auszurotten.« (III, 6, Übersetzung: Christoph Martin Wieland)

Weiter im Buche Stier.

Die bekannte Saga vom hl. Columban trägt Helmut Stier wie folgt vor: »Der irische Mönch Columban sah eines Tages zu, wie am Bodensee heidnische Alemannen ein Faß Bier auf das Wohl des Gottes Wotan leermachten. In innerem Aufruhr flehte er zum Himmel. Dann hob er das schier zentnerschwere Behältnis in die Höhe, führte das Spundloch an den Mund und blies derart gewaltig hinein, daß die Tonne im Augenblick auseinanderbarst. Welch Hin- und Mitreißendes! Worauf die Versammelten zu Ehren des kräftigen Evangeliums sogleich ein zweites Faß zur Strecke brachten.«

Hin- und mitreißend, wie Helmut Stier parliert, ein Mann, der weiß, »daß ein gefüllter Krug besser ist als alle trockenen Worte«. Fließend und strömend seine Anmerkungen und Anekdoten zum Bier: »Die Helden des Mittelalters, Ritter und Troubadoure, nahmen gefüllte Fässer in Empfang. Lohn für die glückliche Heimkehr zu Muttern. Heutzutage erhielten sie trockene Orden und Ehrenzeichen. Der barocke bayerische Kurfürst Ferdinand Maria, allergisch gegen alles, was ihn beim Trinken stören könnte, besaß sogar ein schwimmendes Bierfaß. Er hatte es wie ein Schiffchen herrichten lassen, das über Untiefen hinschwebte und, Stürmen wie Wettern preisgegeben, ihn stets im Kielwasser seiner Jacht auf dem Starnberger See begleiten mußte. Wollte man an Bord einen heben, wurde das Faß luvseits vertäut und seine Ladung gelöscht.«

 

»Ja, daß Fässer eine Öffnung haben, macht ihren besonderen Reiz aus«, und »daß der Menschen Sehnsucht zuweilen nach den Sternen langt, zwingt sie nicht, den Teil ihres Ichs zu verachten, der in ihren zwei Quadratmetern Haut beschlossen liegt«.

Oh, welch weiser Mann! Preisen will ich Helmut Stier!

Große Sätze legt Helmut Stier gelassen nieder: »Der Genuß von Starkbier dient der Befriedigung berechtigter Lebensansprüche«, »Ihr Schluckauf war nicht moralischer Natur«, »Der Pilspokal war Mittler«, »Das Medium Bier hat viel Gutes unter den Menschen angerichtet und immer wieder Heilsames, sprich Verbindendes und Versöhnliches bewirkt. Wie sonst hätte es alle Völker, alle Kriege, alle Krisen so kellerfrisch überdauern können?«

Und wie verhält es sich mit dem Durst, dem Verlangen nach Bier? Helmut Stier: »Die Liebe und der Husten lassen sich nicht unterdrücken. Auch der Durst nicht. Er gleicht einer Naturgewalt. Kurz, wenn wir den Bierdurst stillen, ist das unseres Schöpfers Willen.«

Will man mehr hören?

Ja!

So denn: »Wo der Durst anfängt und wo er endet, dies zu ergründen haben sich Philosophen vergebens bemüht. […] Kaum sind wir auf der Welt, haben wir Durst. Einem Unwiderstehlichen gehorchend, das man die kategorische Schoppenstunde nennen könnte. Ohne Durst, wie trostlos wäre da die innere Einsamkeit so manches Geselligen. […] Die Wonne, den Durst zu löschen, ist trotz der Jahre nicht in unserer Achtung gesunken. Allem Erquicklichen, allem flüssigen Trost zugänglich, stehen wir wurzelfest und wipfelbereit auf der Erde.«

Wurzelfest und wipfelbereit – welch weiser Mann! Preisen will ich Helmut Stier!

Helmut Stier erweist dem Pfälzer Mundartdichter Paul Münch die Reverenz. »Seine Verse lagen nie trocken da, Fässer jeglicher Form waren für ihn eine Art Resonanzboden«, zieht er den Hut und zitiert den himmelsnahen Zweizeiler: »Loßt de Kopp nie hänge’, / Parkbräu gebt’s in Menge’!« Doch am innigsten ist er dem ehemaligen Parkbräu-Biersieder Georg Wiesmath verbunden, wie das Kapitel »Ein Bierphilosoph« belegt.

»Münchner von Geblüt, sah er auf die Welt in ›durstigem Staunen‹, wie Joachim Ringelnatz derlei ausdrückte«, beginnt die herzergreifende Hommage, und nun will ich nur mehr zitieren, zu ehren das unfaßbare Buch Faßliches und Un-Faßliches, zu preisen den Braumeister Georg Wiesmath:

»Nach Feierabend verkroch er sich im hintersten Eck der Betriebskantine, den Maßkrug vor sich, daneben Tinte, Federhalter und Papier. Dort saß er wie unter einer Glocke aus Glas. Nach einigen Schlucken, die ihn labten, als erquicke Sommerregen dürstendes Erdreich, knipste er im Geflecht seiner Überlegungen und Empfindungen den Strom an.

Wo er hindachte, entstand ein Reim. Wer behaupten wollte, bei Hopfen und Malz würden die Musen schweigen, der irrt. ›Denn was ins Bier gebannt der Meister‹, sagte Georg Wiesmath, ›erweckt im Künstler erst die Geister!‹ […]

Sein Vorbild war Paul Münch. In Verbeugung vor diesem ›Bilding frisch vum Faß‹ schilderte er die Grenzen menschlichen Füllvermögens mit diesen Worten: ›Ich wollt’, ich wär ein Parkbräu-Faß, / Außen trocken, innen naß. / Dann bräucht’ ich keinen Maßkrug mehr / Und söffe mich stets selber leer!‹

[…] [E]r beschwor nicht das Beschlauchen, den simplen Massensuff, bei dem der Magen von Flüssigkeit schwappt und aus der Gemütlichkeit allmählich Angst wird vor würgendem Ekel. Er trank nicht, um zu fallen, sondern um sich zu erheben. ›Etwas Helles nach dunklen Stunden!‹ sagte er, leerte den Krug und holte sich einen neuen. ›Wer auf Gott vertraut, der sitze beim Bier, oder er braut!‹ schrieb der Glückliche, vom Himmel mit beneidenswerter Einfalt gesegnet.

Bier schmeckte für ihn wie gebrauter Friede. Stand sein Leben schief, trank er es gerade. Und weil er nie trocken saß, hatte er Humor. […] Georg Wiesmath nach brauchte auch die Seele ihren Stoffwechsel, um sich von den Schlacken der irdischen Unrast zu reinigen.

Die Verse, die der ›Hektoliterat‹ feinsäuberlich niederschrieb, boten freilich keine Höchstleistungen im kritischen Sinne. Aber muß es denn immer nur Höchstleistung sein, aus der die Welt Nutzen zieht? Immer nur dieses Alles oder Nichts?

Klopfte man den Bierstein von seinen Werken ab, kam ein Individuum zum Vorschein, das man ganz einfach lieben mußte. Schade, daß Georg Wiesmath sich längst endgültig fortmachte.«

Oh, welch weise Männer! Preisen will ich Georg Wiesmath! Preisen will ich Helmut Stier! Preisen möchte ich das Bier!

Dank an Klaus Motsch.

PS: Am 1. November 2009 schreibt mir Harry Rowohlt:

»Lieber Jürgen:

… wollen wir aber nicht vergessen, daß das Zitat ›Hei, teure Seele, feuchte deine Asche‹ von Carl Mikael Bellman (in der Nachdichtung von Carl Zuckmayer in seinem Stück ›Ulla Winblad‹) ist (und ›Knipst auf der Geige, und haltet die Humpen fest!‹ weitergeht).

Danke für das Zitat in dem ehrenvollen Umfeld!

Dein Harry«

Kafka in Pirmasens

Pirmasens – hier leistet man sich wieder minus zehn Grad, bei allerdings hellem Sonnenschein samt blauem Himmel, was den ganzen Saustall noch unübersichtlicher macht.

Dieter Steinmann, Mail vom 5. Januar 2010

Arglos fuhren wir zum Kaufland in Pirmasens, um einen ehrlichen Kasten Parkbräu-Pils zu erwerben. Das Pirmasenser Kaufland liegt exakt in der Mitte eines gleichschenkligen Dreiecks, dessen Eckpunkte das Polizeipräsidium, die sagenumwobene Zwickerstubb, an deren Tür ein Schild warnt: »Achtung! Hier wird geraucht!«, und der Imbiß Rundeck bilden, in dem die Stammkund- und die Belegschaft gelegentlich stark unter Fehlbelieferungen mit alkoholfreiem Bier zu leiden haben.

Wir gaben unser Leergut an einer Halle auf dem Parkdeck ab und glitten über kilometerlange Rolltreppen hinunter in den Einkaufsbereich, der ungefähr so groß ist wie der Flughafen von Dallas. Wer all das Zeug, das hier feilgeboten wird, erstehen soll, vermag niemand zu sagen. Der Pirmasenser ist seelisch und anderweitig derart depraviert, daß er weder in der Lage noch gewillt sein dürfte, pro Monat mehr und Sinnvolleres denn zwei Hartwürste, einen Sauerkohl, vier Tüten Muscle-Gain-Food, fünf Landser- und zwanzig Frickelhefte in seinen Besitz zu bringen.

Wir schritten die Regalreihen auf der Suche nach ehrlichem Parkbräu-Pilsener ab. Es war still, fast totenstill, gespenstisch still wie in einem Text von Kafka – bis wir eine Durchsage hörten: »Die 9738 für die 4265!« Und noch mal, diesmal etwas lauter und auch schärfer: »Die 9738 für die 4265!«

»Hehe, der Fleischereioberchef schickt eine Nachricht an seine neue Wurstauszubildende«, meinte mein Kumpel. »Die hat sich jetzt zum Aufbocken ins Kühlhaus zu verfügen! Da wäre man ungern dabei. Sehr häßlich, das, wahrscheinlich, hehe. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, gell!«

Ich schenkte den Worten meines Kumpels keine nähere Aufmerksamkeit und konzentrierte mich auf die Suche nach ehrlichem Parkbräu-Pilsener. Plötzlich eine weitere Durchsage: »Herr Steinmann, die 078379 hier, Herr Steinmann, bitte umgehend in die Rhetorik!«

Ich blieb stehen und zog meinen Kumpel am Arm. »Dieter, hast du das gehört? Die meinen dich!« – »Wer?« – »Keine Ahnung. Aber hast du’s nicht gehört? Du sollst in die Rhetorik kommen!«

Bevor Dieter antworten konnte, tönte es erneut aus den versteckten Lautsprechern: »Und wenn wir schon dabei sind: Herr Egner, bitte in die Erkenntnistheorie! Und zwar zack, zack!«

Was war hier bloß los? Dieter, dem der zweite Aufruf ebenfalls nicht entgangen war, und ich blickten uns leicht konsterniert an, da hob die knattrige Stimme wieder an: »Herr Henscheid, finden Sie sich doch bitte in der Veterinärtheologie ein. Frau Passig, wir ersuchen Sie, möglichst flott zum Bilchzwinger zu kommen. Herr Rowohlt in die Normenabteilung! Herr Meurer zum Friseur! Herr Schmidt, China, in die Koioase!«

Es hörte nicht mehr auf. »Herr Traxler, bitte im Rektorat melden! Herr Metes, bitte zu den Damen! Die Herren Greser & Lenz werden in zwei Minuten auf der Aktionsebene C am Mineralwasserprobierstand erwartet. Herr Prof. Weigle, bitte in die Computerecke! Und Herr Tomayer, sofort ins Sexual!«

Woher kannten die uns? Uns und unsere Kollegen und Freunde? Kann jemand für Aufklärung sorgen?

Dorst und Dorf

Zugestanden, der Name lockt, der Name jenes winzigen lothringischen Ortes kurz hinter der Grenze, dort, wo Bisons in den Wiesen dösen und Pferde ihnen einträchtig Gesellschaft leisten, dort, wo die Wolken behaglich und in mannigfach verspielten Formen über den bewaldeten Hügelketten des Bitscher Landes kleben. Der Name »Dorst«, er lockt und zieht einen unwiderstehlich an. Dorst. Dorst. Dorst, Dorst, Dorst.

Aber praktisch auf oder, genauer, eine Handbreit vor der Grenze und der gefährlichen Maginot-Linie liegt mein neues Mekka. In dem Dorf Riedelberg, gleichermaßen von landschaftlichen Schönheiten umkränzt, residiert in der Mühlenstraße in einem Einfamilienhaus der Brauer Martin Wentzler, und was er da im Keller mit seinen blitzsauberen Gerätschaften anrichtet, gereicht ihm zu höchsten bierologischen Ehren.

Bier, ob aus den in Mode gekommenen Gasthaus- oder den notorischen Großkotzbrauereien, kann einen ja zur Verzweiflung bringen. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe bis dato etwa 4.000 Marken verkostet.

Und ich schwöre, daß ich, ausgenommen vielleicht das Trumer Weizen aus Österreich, kein gelungeneres, anregenderes, betörenderes, lieblicheres, grazileres helles Weißbier kenne als das von Martin Wentzler mit beinahe metaphysischer Begeisterung verfertigte.

Glauben Sie mir: Bei einer Fuhre Leon Weizen muß man sich nicht mal die Welt schöntrinken. Da ist sie’s. Und die Pilgerfahrt nach Dorst verschieben wir auf ein andermal.

Eins für die Chefin

Von Dieter Steinmann

In einem Dorfgasthaus in der südwestlichen Pfalz, nahe der Grenze zum Elsaß, wirkte bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts eine Wirtin, die für ihr eisernes Regiment über sämtliche Belange der Wirtsstube weithin bekannt war. Nervensägen, Schreihälse, Streithammel oder anderweitig störende Zecher wurden von ihr stets knapp, deutlich und bisweilen auch barsch zur Ordnung gerufen. Keimende Ausschreitungen erstickte sie allein durch Blicke, selbst allzu engagiertes Einschütten und Besoffenwerden wußte die ledig durchs Leben gehende Prinzipalin, damals stramm in der Blüte ihrer schon reiferen Jugend stehend, ohne große Umstände in geregelte Bahnen zu lenken.

Trotz ihrer also gewissermaßen Strenge und Herbergsmutterhaftigkeit stand Wirtsfrau Waltraud, allgemein Truda genannt, just bei ihren Stammgästen in generell hohem Ansehen, denn sie hatte über die Prägnanz ihrer unmittelbaren Ansprache ans Trinkpublikum hinaus etliche weitere drollige Schnurrigkeiten an sich. In den Legendenschatz der Hackmesserseite, so heißt die Gegend im Volksmund, ging etwa ihr sprachlicher Umgang mit ihrem Haushund ein, einem gerne gemütlich und vorbildlich kameradschaftlich in der Gaststube aufhältigen Quasischäferhund, der als einziges Lebewesen hier das Privileg auskosten durfte, all ihre Befehle, Appelle und Anraunzereien komplett zu ignorieren: »Nimm dich in acht, ja, ja, ei, mein Guterle, jawohl, ein Schatz is’ er, ja, wo is’ er denn, ja, da is’ er ja, gell, so ist’s gut, Platz!«

Nur nebenbei: In Würdigung ihres so häufig geschnarrten wie seitens des Hundes glatt ignorierten Befehls »Platz!« waren Rüpel unter den Gästen irgendwann auf den Witz gekommen, es wäre doch toll, dem Hund einen Sprengstoffeinlauf anzutun und diese Füllung mit einer Zündkapsel rektal zu verschließen, um ihn dann genau beim Wort »Platz!« per Fernsteuerung explodieren zu lassen, das würde garantiert bombig reinhauen, da würde die Wirtin Augen machen. Der Sowieso, beruflich Detonator im Steinbruch, würde das mit links hinkriegen. Klar, daß niemand im Ernst an einen solchen Frevel dachte.

Gleichermaßen zur Belustigung führte immer wieder aufs neue die hingegen reale Spitzennummer des erweiterten beruflichen Verfahrens- und Attitüdenrepertoires der Wirtin selbst: ihre vollendet bühnenreif ausgetüftelte Etikette, fast Subversion, dank deren subtilst ausbalancierten Einsatzes sie in der Organisation der eigenen Getränkezufuhr Habitus und Handfertigkeit nahe an die Sphären der Telekinese heranzuverfeinern wußte. Kenner der Szenerie kannten alle Details der Prozedur: So gut wie jeden Abend war irgendwann zu beobachten, daß die Chefin sich betont beiläufig daran machte, ein Bierchen zu zapfen, das niemand bestellt hatte. Fast ohne hinzusehen füllte sie schrittweise das Glas, eine mittlere Größe, wischte zwischendurch demonstrativ mal eine Teilfläche ihrer mächtigen Theke trocken, schob Flaschen, Gläser und Krüge hin und her, sudelte ohne tatsächliche Veranlassung behend im Spülwasser herum, kontrollierte wie nebenbei das Radiogerät auf Plausibilität des Programms und Wohlklang des Tons und ließ dann wieder fix eine Strecke Bier ins Glas zischen. War das Glas endlich gefüllt, mußte es ein, zwei Minuten neben dem Zapfaltar stehen, während die Gastronomin nun nochmals emsiger, fuchtelig choreographiert fast wie das Gefuddel eines Zauberkünstlers, der Hasen in nicht existente Zylinder zu stopfen trachtet, sozusagen freischaffend mit Salzstangenpäckchen, Kümmerling-Phiolen oder eingeschweißten Miniaturwürsten hantierte, was augenblicklich den ansonsten dösenden Hund alarmierte, dessen in Sachen Beute allerdings zweckloses Antreten die Unübersichtlichkeit des Vorgangsgefüges zusätzlich vertiefte. Und, schwupp, blitzschnell hatte sie in einer scheinbar anderweitig motivierten Drehung ihres Körpers das Glas aufs Fensterbrett der Durchreiche zur Küche gestellt – um aber endlich, eine nochmals spannende Minute später, selbst grandios unauffällig, wie ein Windhauch durch die Tapetentür in ihre Küche zu wechseln. Hier ging sogleich Licht an, und schemenhaft fuhrwerkte die Bierkonspirativlerin drei-, viermal am milchglasbewehrten Durchreicheschiebefensterchen vorbei, das dann plötzlich um eine Handbreit geöffnet stand.

 

Kurz darauf dann verschwand, wie von heiliger Elevation bewegt, das Glas nach innen, und gleich anschließend stand die nun sichtlich Erfrischte und Entspannte wieder hinter ihrer Theke, zupfte in ihrer ganzen kategorischen Chefinnengrandezza die Falten und Rüschen ihrer prächtigen Kittelschürze auf Zack und zeigte sich zu hundert Prozent gewiß, daß niemand auch nur das Geringste von ihren Manövern mitbekommen hatte.

Feine Gesittung bewiesen ebenso Frau Trudas Gäste, mehrheitlich Vertreter einer eher säkularisiertrustikalen Lebensart, indem sie ihre Wirtin unbedingt im Glauben ans Gelingen ihrer Trickserei ließen und sich so Abend für Abend ihr kleines Kammertheater sicherten.

PS: Mir war es einmal vergönnt, sie für den Lidschlag eines fast wie zenbuddhistisch vernagelten Augenblicks ansatzweise aus ihrer Contenance aufzuscheuchen. Auf ihre Frage »Pils oder Export?« hin bat ich sie, eh nur selten anwesender und keineswegs für voll genommener Zaungast an ihren Tischen, um »ein Schöppchen Clausthaler-Radler bittschön«. Es ist nicht bekannt, daß sie je eine Bestellung mit mehr Verachtung in Blick und Haltung erledigte als diese.