Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021

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WERNER NELL

Literatur und Sozialreform auf dem Lande

Als Gegenbild zum zeitgenössischen Verfall der Welt durch die Massenmedien hat uns in den 1980er Jahren der US-amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman (1931 – 2003) den amerikanischen Farmer vor Augen geführt. Noch im 19. Jahrhundert konnte er offensichtlich sein Feld bestellen und sich zugleich, so ist es zumindest in Postmans kulturkritischem Bestseller Wir amüsieren uns zu Tode von 1985 zu lesen, noch seiner philosophischen oder sonstigen Lektüre, zumal der Bibel, widmen.

„Der Farmerjunge, der mit einem Buch in der Hand dem Pflug folgt, die Mutter, die ihrer Familie am Sonntagnachmittag etwas vorliest, der Kaufmann, der die Meldungen über die zuletzt eingelaufenen Clipper liest – sie waren andere Leser als die von heute. Flüchtiges Lesen dürfte es kaum gegeben haben, dazu fehlte die Zeit. Lesen geschah in einem täglichen oder wöchentlichen Ritual, dem eine besondere Bedeutung zukam. […] Bei Kerzenoder später bei Gaslicht las es sich nicht besonders gut. Und ohne Zweifel wurde sehr viel in der Zeit zwischen Morgengrauen und dem Beginn des Tagwerks gelesen. Was man las, das las man ernsthaft, intensiv und mit einem bestimmten Ziel.“1

Auch wenn dieses Bild insgesamt eher romantisch übermalt als realistisch entworfen erscheint, lässt es sich doch nutzen, um zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf einen Punkt zu verweisen, an dem Literatur und Gesellschaft in einer vergleichsweise engen und zugleich wirklichkeitshaltigen Beziehung zueinander zu stehen schienen. Literatur, Lesen, aber auch Schreiben, erscheinen hier als Medien und Zugänge zu einer in eben diesen Tätigkeiten fassbaren Wirklichkeit, ja sie lassen sich auch als Instrumente zu deren Bearbeitung und Veränderung bestimmen und unter entsprechenden Vorgaben nutzen.2 Es ist dies der Punkt, von dem aus auch Franz Michael Felder (1839 – 1869) bei seinem Versuch zu verorten ist, im Medium der schönen Literatur und mit den damit vorhandenen Gattungsformen und Instrumenten des Erzählens bzw. Dichtens Stimmen zu Wort kommen zu lassen: Zum einen, um die Erfahrungen und auch Erwartungen der bis dahin nicht wahrgenommenen, also weder kulturell noch politisch repräsentierten Landbevölkerung zur Sprache zu bringen. Zum anderen sucht er so, vom Feld der Literatur aus die Handlungsfelder der Gesellschaft nicht nur anzusprechen und seinem Lesepublikum vor Augen zu stellen, sondern diese im Sinne einer intendierten Besserung der ländlichen Verhältnisse auch zu verändern. Zeitgenössisch lässt sich der damit angesprochene Wechselbezug von Literatur und Gesellschaft nach beiden Seiten hin ausrichten, ist doch, mit René König gesprochen, die Vorstellung einer „Gesellschaft im Singular“, also die Ansprache einer Gesellschaft als Totalität im Sinne einer alle sozialen Zusammenhänge ebenso wie die jeweiligen sozialen Akteure zu einem „Ganzen“ rahmenden Kategorie,3 ebenso ein Ergebnis der geistes- und sozialgeschichtlichen Entwicklungen und Erfahrungen des frühen 19. Jahrhunderts4, wie sich korrelierend dazu die Vorstellung in dieser Zeit durchsetzt, Realismus in der Literatur und eine entsprechend realistische Schreibweise bezögen sich auf eine Welt und Wirklichkeit, „wie sie ist“ bzw. wie sie von Akteuren und Beobachtern erfahren und in literarischen Texten als Ganzes wiedergefunden werden kann.5

Stichworte, die Orientierungs- und Bezugspunkte für diese Entwicklung nach beiden Seiten anbieten, sind dabei zum Ersten die mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft verbundenen marktgesellschaftlichen Prozesse und Strukturen, wie sie von Karl Polanyi im Blick auf deren Durchsetzung in ländlichen Räumen und Lebensformen als „The Great Transformation“6 beschrieben wurden. Zum Zweiten und damit ebenso korrelierend wie darauf reagierend sind die mit dem Einsatzpunkt der Französischen Revolution von 1789 verbundenen Ansprüche auf egalitärere, freiere und zugleich solidarische Gesellschaftsformen anzusprechen, die sich zunächst in der Rahmensetzung bürgerlicher Gesellschaft konstituieren,7 dann aber sukzessive auf weitere Gesellschaftsschichten und so auch auf die Landbevölkerung ausstrahlen8 bzw. von dieser auch übernommen und eingefordert werden.9 Schließlich sind es zum Dritten die vom Jahrhundert der Aufklärung ausgehenden Ansprüche und Leitbilder individueller Emanzipation, nicht zuletzt bzw. vor allem durch Bildung und Literalität zu erreichen, die sich ebenfalls den Bewohnerinnen und Bewohnern ländlicher Räume erschließen und vermittelt u. a. durch Pfarrer und Lehrer, aber auch durch schreibende Bauern, diese selbst zu Akteuren und Sprechern, auch zu reflektierenden Beobachtern ihrer sozialen Umstände werden lassen.10 Insgesamt führen diese Prozesse zu einem Abschmelzen ständischer Gesellschaftsmodelle, entsprechender Privilegien, Habitus-Konzepte und nicht zuletzt auch traditionell gefestigter Selbstverständnisse, wie dies von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 in die Formel: „Alles Ständische und Stehende verdampft“ gefasst und als bedeutende Leistung der „bürgerlichen Revolution“ in Korrelation zum Siegeszug des Industriekapitalismus hervorgehoben wurde. Dies betrifft, was sich insbesondere auch an der lebenslangen Auseinandersetzung Felders mit den Repräsentanten der katholischen Kirche ablesen lässt, auch die kulturellen Codierungen und Bewusstseinslagerungen der einfachen Leute in ihren herkömmlich überkommenen Mustern, denn „alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“11. Dieser Umstand führt zum einen auf den dann auch von Felder beschrittenen Weg zu „nüchterner“ Wissenschaft, publizistischer Agitation und ggf. realistischem Schreiben, zumal im Blick auf die angestrebte soziale und ökonomische Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Lande. Zum anderen, und auch dies lässt sich sowohl von Felders Texten aus bearbeiten als auch als spezifisches Merkmal seines Schreibens und Erzählens ausmachen, bleibt zu fragen, ob es bei einer solchen materialistisch induzierten wechselseitigen „Nüchternheit“ des In-der-Welt-Seins im Umgang mit sich selbst und anderen bleiben kann. Es geht ja doch zugleich darum, Sinnorientierungen, Glücksbegehren und dem Anspruch von Menschen auf ein je individuell „gelingendes Leben“ wenn schon nicht einen Raum in der Realität, so doch wenigstens in den Bereichen der Imagination, des Wünschens und davon ausgehender, durch diese gestärkter Praxisbezüge zu eröffnen.12 Beides zusammengenommen, führt dann auf das Feld der Literatur, das im Falle Felders gleichermaßen als ein Medium der Verlebendigung von Wünschen wie der Schilderung von Wirklichkeitserfahrungen genutzt und entsprechend ausgeformt wird.13

1.

Landreform und utopische Orientierung im Medium der Literatur

Literarische Texte, eben auch die von Glückshoffnungen und Glückserfüllungen, nicht zuletzt von deren Scheitern, handelnden Texte Felders, sprechen in diesem Zusammenhang eine mit den belleslèttres verbundene utopische Dimension – auch ihrer Form nach – an. Dies mag dabei sowohl die historische Stelle Felders im 19. Jahrhundert als auch die Möglichkeiten eines Anschlusses an seine Texte unter den Bedingungen weitergehender Moderne von heute aus ausmachen. Was die britische Soziologin Ruth Levitas in ihren Studien zum utopischen Denken als „education of desire“ angesprochen hat: „Utopia creates a space in which the reader is addressed not just cognitively, but experientially, and enjoined to consider and feel what it would be like not just to live differently, but to want differently – so that the taken-for-granted nature of the present is disrupted“14, findet sich im Sinne literarischer, imaginativer Wunscherfüllung in Felders Texten wieder – und zwar nicht als Kompensation für ein ansonsten nicht mögliches Tun und Wünschen, sondern als Impuls und Stärkung der mit den Wünschen in Erscheinung tretenden Handlungsoptionen im Blick auf die Entwicklung von Perspektiven zu ihrer Umsetzung.

Von heute aus gesehen erscheinen diese Ansprüche und ihre literarische Umsetzung umso wichtiger, als die englische Übersetzung der angesprochenen Stelle des Kommunistischen Manifests ja bereits über das Historische einer untergehenden Ständegesellschaft hinausgeht und das Abschmelzen jeglicher Bestände und Sicherheiten als das Signum der Moderne ausmacht: „All that is solid melts into air“. Marshall Berman verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass unter den Bedingungen einer anhaltenden Moderne die Unverzichtbarkeit von Ansprüchen auf ein gelingendes Leben ebenso auf ungesicherten Grundlagen basiert, wie diese der konstruktiven, also eben auch ggf. fiktionalen und imaginären Ausformung und Vermittlung bedürfen, um überhaupt zu Realitätspartikeln zu werden.15 Die oben für die Mitte des 19. Jahrhunderts skizzierte Engführung von Literatur und Gesellschaft kann dann zudem als ein Einsatzpunkt angenommen werden, um auch in literarischen Texten ein handfest politisches bzw. sozialökonomisches Thema wie die Forderungen nach Wirtschafts- und Sozialreformen auf dem Land nach beiden Seiten hin zu erkunden und in einen sowohl historischen als auch lebenspraktischen Zusammenhang zu stellen: zur Seite der Sozialreform, in deren Perspektive literarische Texte wie schon Georg Büchners Hessischer Landbote (1834) als Medien gesellschaftlicher Aufklärung und Besserstellung der Landbevölkerung intendiert und zu betrachten sind, und zur Seite der Literatur hin, in deren Kontext ländliche Erfahrungen und Lebenszusammenhänge als Sujet ästhetischer Gestaltung und als Mittel einer narrativen Herstellung von Kohärenz in Erscheinung treten.16 Dass und wie Franz Michael Felders Texte dies leisten, wird im Weiteren vorzustellen und zu diskutieren sein.

 

2.

Realistische Literatur und Reformansätze

in bürgerlicher Gesellschaft

In seinen Studien zum literarischen Realismus, die sich vielfach auf Erich Auerbachs noch immer lesenswerte Untersuchung Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur (1948) beziehen, spricht Joseph Peter Stern vom „goldenen Überfluß der Welt“17, um damit zum einen auf die Detailfülle und Detailbezogenheit der im literarischen Text entworfenen Wirklichkeitsbezüge hinzuweisen. Zum anderen nutzt er diese Metapher aber auch, um auf die durch die ästhetische Geformtheit jeder literarischen Darstellung ebenso wie durch die narrative Verkettung der Geschehnisse und Akteure ermöglichte Überdeterminierung bzw. eben auch Überzuckerung des Wirklichen, durchaus auch im Sinne einer möglichen ideologischen Überformung desselben, aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt geht es auch darum, die durch eine krude Abschilderung der gegebenen Welt ggf. auch entstehende Sinnentleertheit, auch Langeweile, Repetierbarkeit und Glanzlosigkeit des Wirklichen in den Spiegeln literarischer Texte in den Blick zu rücken: „Realismus in der Literatur bedeutet in erster Linie die Art, eine Situation in ‚wirklichkeitsgetreuer‘, ‚präziser‘, lebenswahrer Weise darzustellen und zu beschreiben; oder in reicher, üppiger und farbenprächtiger Vielfalt; oder auch auf photographische, schablonenhafte Weise.“18

Erwächst der Literatur des literarischen Realismus aus dieser Ausrichtung auf eine gleichsam in der Erfahrung vorgegebene, vermeintlich einfache, also auch oberflächlich nur wahrnehmbare Wirklichkeit aus avantgardistischer Sicht der Vorwurf einer schalen Reproduktion des lediglich Vorhandenen, die auf das Wagnis avancierter Formen als Mittel weitergehender Darstellung und Erkenntnis verzichtet, so steht realistische Literatur doch zugleich unter dem Vorbehalt einer herkömmlich idealistischen Ästhetik, die mit dem Mangel an besonderer Form auch den Verzicht auf den Standpunkt einer übergreifenden Deutungsinstanz oder gar den Verlust derselben verbindet.19 Demgegenüber verweisen kritische, auch sozialkritische Beiträge allzu schnell auf den lediglich affirmativen Charakter einer solchen an der Wiedergabe realer Verhältnisse und wirklichkeitsbezogenen Geschehens orientierten Literatur, was in den Debatten der 1920er Jahre den literarischen Biografismus ebenso trifft wie die Reportage-Literatur, im Rückblick auf das 19. Jahrhundert aber auch eine vermeintlich historisch perspektivlose, lediglich auf die Vermittlung von Genrebildern hin angelegte Dorfliteratur.20

Tatsächlich aber, so hat dies Friedrich H. Tenbruck in seiner Studie zur „bürgerlichen Kultur“ ausgearbeitet,21 stellen kulturelle Träger, literarische Texte als Medien der Begleitung und Reflexion gesellschaftlicher Prozesse sowohl als Orientierungsgrößen und Spiegel als auch als Projektionsräume und Impulsgeber individueller und gruppenspezifischer Reformansätze und eines entsprechenden Selbstverständnisses ein bestimmtes Instrumentarium und Wirkungs-, auch Handlungsfeld in den Zusammenhängen einer sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbildenden, im 19. Jahrhundert dann dominierenden bürgerlichen Kultur dar. Kultur, und so auch Literatur, dient seitdem nicht mehr vor allem der Repräsentation einer mehr oder weniger festgefügten Ordnung, sondern begleitet die ins Rutschen bzw. Schwimmen geratenen gesellschaftlichen Sphären im Sinne einer selbst beweglichen, stets und immer wieder Neues und Veränderungen herstellenden Produktions- und Reflexionssphäre, wobei auch sie selbst – im Blick auf das hier in Rede stehende Thema des Lebens und der Veränderungsmöglichkeiten in ländlichen Räumen wichtig – ebenso wie die „Bürgerliche Gesellschaft“ im Ganzen tendenziell auch auf die Unabschließbarkeit weitergehender Mobilität hin angelegt ist.22 Dies betrifft die Erweiterungsfähigkeiten des Handelns einzelner Akteure ebenso wie die Möglichkeiten zur Emanzipation sozialer Gruppen und nicht zuletzt sowohl die Ansprüche als auch die Prozesse weitergehender Integration der bis dahin aus der gesellschaftlichen Kommunikation (und Teilhabe) ausgeschlossenen sozialen Gruppen, seien dies nun Frauen, die Arbeiterklasse oder eben auch die Landbevölkerungen.

Literalität (cultural literacy), die Befähigung zur Teilhabe an Leseund anderen Kommunikationsmöglichkeiten, bietet dazu ebenso die Voraussetzung und den Rahmen für eine kulturelle, dann eben auch soziale Integration unterschiedlicher Einzelner und Gruppen in die Gesellschaft im Ganzen wie die Ermöglichung von Schreiben und anderen Praxisformen kultureller Produktion nicht nur die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen, zumal derjenigen, die aus bislang vernachlässigten Unterschichten oder Randgruppen kommen, stärken, sondern auch zugleich deren (und ggf. aller) Wirklichkeitsverhältnis und -zugänge zu erweitern vermag: „Mit dieser Verselbständigung der Kultur“, so Tenbruck, „gewann die erlebte und bekannte Wirklichkeit für die einzelnen an Breite und Tiefe, an Gehalt und Bedeutung. Im Spiegel der literarischen, künstlerischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Behandlung und Durchdringung der bislang subjektiv als unmittelbar erlebten und deshalb kaum differenzierten Erfahrung reicherte sich nun die Selbsterfahrung durch die Sublimierung, Differenzierung und Reflektierung der Empfindungen, Gefühle, Affekte, Emotionen, Gedanken und Überzeugungen an, wie ähnlich die äußere Wirklichkeit sich durch kulturelle Informationen ständig ausdehnte und gliederte, räumlich, zeitlich und sachlich. Verselbständigung der Kultur heißt also, dass die innere und äußere Wirklichkeit unablässig durch kulturelle Arbeit weiter und neu gedeutet werden muß.“23

Der hier angesprochene Ansatzpunkt eines mit der Konstitution bürgerlicher Gesellschaft verbundenen eigenständigen Feldes kultureller Produktion und Reflexion benennt damit zugleich die kulturellen, aber auch politischen und sozialen Funktionen literarischen Schreibens für ein Leben (und Wahrgenommenwerden) in den Integrationsformen bürgerlicher, in diesem Sinn moderner Gesellschaften. Gruppenspezifisch wie gattungsspezifisch ist dieser Ansatz so aufzunehmen, dass auch das Schreiben eines autodidaktischen Bauern wie Felder im Zusammenhang jener Aushandlungsorte (auch der Ketten) bürgerlicher Vergesellschaftung als kulturelle Produktion mit entsprechenden Intentionen und Resonanzerwartungen erkennbar wird. Der literarische Markt, aber auch Bildungseinrichtungen wie Schulen, publizistische Tätigkeiten und nicht zuletzt politische Aktionen stellen sich dabei sowohl als Handlungs- als auch als Aushandlungs- und Konfliktfelder, nicht zuletzt als Diskursarenen jener bürgerlichen Gesellschaft (im Sinne dessen, was aktuell als Zivilgesellschaft angesprochen wird) dar, deren Grundriss „bürgerlicher Öffentlichkeit“24 auch noch immer das Selbstverständnis liberaler Republiken und offener Gesellschaften so bestimmt, dass literarische Texte in irgendeinem Sinn „realistisch“ darauf Bezug zu nehmen vermögen.25

Freilich handelt es sich auch bei einer auf die poetische Abschilderung bzw. auf einen fiktionalen Entwurf von „Wirklichkeit“ angelegten Literatur, wie sie als literarischer bzw. poetischer Realismus angesprochen werden kann, keineswegs nur um die Reduktion des weiten Feldes schönen Scheinens (und seiner Mittel) auf das eingegrenzte und spannungslose Feld bürgerlich-gesellschaftlicher Verhältnisse26 oder um die Reduktion komplexer und widerspruchsvoller Realitätsbeobachtungen auf ein „Furchenglück in der Beschränkung“, wie dies später u. a. auf Jean Paul gemünzt wurde.27 Vielmehr geht es auch hier um die Ausarbeitung eines eigenständigen Beobachtungs- und Gestaltungsansatzes von Menschen in den sie bestimmenden Situationen und längerfristigen Kontexten bürgerlicher Gesellschaft und darauf bezogener emanzipatorischer Prozesse. Dass diese Bezüge auf gesellschaftliche Wirklichkeiten im Übrigen jeweils neben ihrer objektiven Seite auch unterschiedliche und divergierende subjektive Seiten und damit sowohl diverse Wirklichkeitsaspekte als auch divergierende Lebenslagen ansprechen und ausbilden, hat u. a. Jean Paul selbst bereits in seinen Überlegungen zu der von ihm so bezeichneten „deutschen Schule“ des Romans herausgestellt: „Nichts ist schwerer mit dünnem, romantischen Äther zu heben und zu halten als die schweren Honoratiores.“28 Zwischen Idealisierung und Komik sei mit der Zuwendung zur Realität für den Dichter die Aufgabe verbunden, „daß er doch die bürgerliche Alltäglichkeit mit dem Abendrote des romantischen Himmels überziehe und blühend färbe.“29

Damit ist freilich nicht, zumindest nicht vor allem, der Kitsch bzw. die politisch und historisch reaktionäre Färbung oder Überzeichnung einer ansonsten nicht auszuhaltenden und auch ästhetisch nicht zu vermittelnden Wirklichkeit gemeint, wie sie sich in der ebenfalls an die Romantik anschließenden und bis heute, folgen wir Eva Illouz’ Studien zur Aktualität und zum Gebrauchswert romantischer Liebe30, auch noch marktfähigen Unterhaltungsliteratur wiederfinden lassen. Vielmehr widmet Jean Pauls poetisches Programm einer „romantischen“, in seinem Sinn „modernen“ Poesie der Entzweiung/ Entfremdung des Menschen und der Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne ebenso sehr Aufmerksamkeit wie es dem damit einhergehenden Transzendenz- und damit Sinnverlust Rechnung zu tragen sucht. Im Sinne eines Empowerments finden wir diesen Impuls aber bspw. auch in Felders Novelle Liebeszeichen (1867) gestaltet: Durch situationsbezogenes, zugleich entschlossenes, durchaus in seinen Reichweiten begrenztes Handeln und immer nur auf Zeit und Kontexte hin angelegt, sollen sich offensichtlich auch unter den Bedingungen moderner, „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) noch Sinn-Defizite im Medium der Literatur und des Erzählens/Schilderns/Berichtens kompensieren bzw. bearbeiten lassen.

3.

Felders Dorfgeschichten

Insoweit ist es gerade die räumlich-zeitlich und zugleich von Personal und Horizonten her beschränkte Form der Dorfgeschichte31 – und dies lässt sich dann auch auf das Verhältnis von Landreform und Literatur übertragen –, die einer unter den Bedingungen der Moderne ebenso fragmentierten wie pluralisierten Wahrnehmung der Wirklichkeit des Lebens „auf dem Lande“ Rechnung zu tragen sucht. Nicht zuletzt bestehen ihre Funktion und Bedeutung wohl darin, dass die Möglichkeiten (und Grenzen) realistischen Schreibens um 1850 ebenso zur Wahrnehmung, auch Erfahrung und Gestaltung von Wirklichkeit, in den begrenzten Räumen ländlicher Lebenswelten beizutragen vermögen32 wie sie eine Phänomenologie der Erfahrung unter den Bedingungen der Moderne vorstellen können. Zwischen der „Einübung des Tatsachenblicks“33 durch Fragestellungen, Techniken und Erfahrungsformen empirischer Forschung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und der modellierenden Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse durch Theorie-Ansätze und nicht zuletzt auch in politisch-ideologischen Programmen kommt dabei der „schönen Literatur“ (den belles-lèttres) wie auch anderen Künsten, so hat es Maurice Merleau-Ponty in seinen Radiovorträgen des Jahres 1948 hervorgehoben, die Funktion zu, eine Art Vermittlung zwischen Anschauung und Erkenntnis zu leisten, die sich im Falle einzelner Werke in spezifischen Situationen nicht nur als Impuls für weiteres Handeln (bspw. im Sinne eines Klassenstandpunkts oder – individuell bezogen – Empowerments)34 bestimmen lässt, sondern auch deren soziale Gestaltungsmöglichkeiten und historischen Grenzen vor Augen stellt: „Das Herz der Modernen“, so Merleau-Ponty, „ist […] ein intermittierendes Herz und vermag nicht einmal, sich selbst zu erkennen. Jedoch sind nicht allein die Werke der Modernen unabgeschlossen, sondern die Welt selbst, die in diesen Werken ausgedrückt ist, gleicht einem unabgeschlossenen Werk, von dem man nicht weiß, ob es jemals einen Abschluss finden wird. Sobald es sich nicht mehr nur um die Natur, sondern um den Menschen handelt, verdoppelt sich die Unabgeschlossenheit der Erkenntnis, die durch die Komplexität der Dinge bedingt ist, durch eine grundlegende Unabgeschlossenheit.“35

Felders Texte, von denen angesichts der Begrenzung von Raum und Zeit hier nur zwei etwas genauer angesprochen werden können: Liebeszeichen (1867) und Ein Ausflug auf den Tannberg (ebenfalls 1867 gedruckt) bieten in ihrer Konkretion ziemlich genau das, was hier im Rückgriff auf Merleau-Ponty als Möglichkeit und Leistung der belles-lèttres unter den Bedingungen der Moderne zur Verlebendigung ländlicher Lebenserfahrungen und Lebensverhältnisse erwartet und vermittelt werden kann: Sie handeln von den Lebensbedingungen ländlicher Gesellschaften im Konkreten, von der Besonderheit der angesprochenen Individuen, ohne sie in ihrer Komplexität und damit auch Uneindeutigkeit zu reduzieren. Das freilich beansprucht zugleich eine Leserin, einen Leser, der bereit (befähigt) ist, die damit angesprochenen Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten nicht nur anzunehmen, sondern sie auch im Sinne des oben mit Tenbruck angesprochenen gesellschaftlichen Bedarfs an kultureller Reflexion mit den eigenen Lebenserfahrungen und Wirklichkeitskonzepten in Verbindung zu bringen. Für das hier in Rede stehende Handlungs- und Arbeitsfeld der Landreform hat diese Aufladung mit Komplexität, wie sie ästhetischen Gebilden eigen ist, freilich auch Konsequenzen, die noch einmal über sozialgeschichtliche (oder politische) Aspekte eines in diesem Sinne engagierten Schreibens hinaus die Eigenart der Texte Felders auch hinsichtlich ihrer ästhetischen Gestalt und ihres historischen (auch aktuellen) Stellenwerts in den Blick rücken. Ob damit die Waage, wenn sie in Richtung ästhetischer Valenz ausschlägt, dies zugleich auf Kosten politischer Relevanz/Eindeutigkeit machen muss, oder ob diese gerade als Wert die politische Bedeutung vielleicht auch erhöhen kann (ggf. auf Kosten einer vermeintlich zu erwartenden Eindeutigkeit, die selbst im Politischen schadet), wäre im Blick auf die einzelnen Texte – und sicherlich kontrovers – weiter zu diskutieren.

 

4.

Landreform und Literatur unter Bedingungen der Moderne

Dafür, dass es möglich ist, Gesellschaft als einen umfassenden und zugleich in seiner Totalität auch fassbaren Zusammenhang zu erkennen, ja zu erfahren – und erst recht, wenn es dann darum gehen soll, diese im Ganzen als Handlungsfeld zu gestalten, zu bearbeiten und ggf. zu „verbessern“, wie dies hier unter dem Aspekt der Landreform angesprochen wird –, braucht es natürlich auch eine Schulung der Wahrnehmung, eine auf die Ermöglichung von Kommunikation hin angelegte Form der Beobachtung und Darstellung, also auch die Zusammenstellung von Gegebenheiten zu einer mehr oder weniger kohärenten Geschichte, zudem mit Verweisen auf entsprechende Kontexte. Nicht zuletzt geht es dabei um die Vorstellung, Sichtbarmachung und Plausibilisierung von Individuen und Gruppen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie sich in der Literatur der Moderne im Anschluss an das 18. Jahrhundert finden und sich so in den Romanen Stendhals, Austens, Trollopes, Gottfried Kellers oder auch Balzacs, später bei Virginia Woolf oder auch William Faulkner und John Cheever, wiederfinden (und lesen) lassen.

Dass dabei der Weg zur Moderne zumal auch in soziologischen und modernetheoretischen Perspektiven an der Entwicklung der Stadt und im Blick auf die aufkommende, sich dann durchsetzende Industriegesellschaft beobachtet und diskutiert wurde, stellte in diesem Rahmen freilich erst einmal nur eine Option dar, an der gemessen die Rolle, der Reichtum und die Aussagekraft von Erfahrungen des Ländlichen allenfalls als Residualkategorie oder als zurückliegender Ausgangspunkt einer Reise, die ins unumkehrbar Moderne führen sollte, angesehen wurde.36 Freilich trifft diese Gegenüberstellung in Wahrheit noch nicht einmal auf die angesprochenen Romane einer klassischen „realistischen“ Literatur selbst zu, in denen gerade doch auch ländlichen Räumen und den Erfahrungen ihrer Bewohner, man denke etwa an Stendhals Le Rouge et le Noir (1830), gerade im Blick auf die Gegenwart des 19. Jahrhunderts beträchtliche Aufmerksamkeit eingeräumt wird.37 Auch aktuell trägt eine solche einlinige Ausrichtung avancierter Literatur auf die Gegebenheiten einer städtisch geprägten Industriemoderne noch immer weder der Bevölkerungsverteilung noch den Erfahrungsschätzen von Menschen unter den Bedingungen fortschreitender gesellschaftlicher und industrieller Modernisierung Rechnung. Vielmehr, so ließe sich im Rückblick auch auf die Dorf- und Landlebensliteratur des 19. Jahrhunderts, innerhalb deren die Konjunktur und Bauformen der Dorfgeschichten einen prominenten, gerade aktuell auch wieder „entdeckten“ Platz einnehmen,38 sagen, stellen sowohl die ländlichen Räume selbst als auch ihre Schilderungen und Gestaltungsformen in der Literatur eine andere, eine weitere Diskursarena dar, wenn es darum geht, sowohl die Prozesse der Modernisierung ganzer Gesellschaften als auch deren Verarbeitung, Wahrnehmung und Ausgestaltung von Seiten beteiligter Individuen und Gruppen zu erkunden.39

Gerade wenn zudem der Entwicklungsgang moderner Gesellschaften nicht als universell angelegter einliniger Prozess verstanden wird, in dessen Sog nahezu alle Verhältnisse sich bestenfalls in unterschiedlichen Zeitstufen, aber immerhin linear modernisieren, sondern etwa im Rahmen der von dem Soziologen Peter Wagner vorgelegten Moderne-Theorie von Phasen, Etappen und Schüben restringierter, fragmentierter und auch von unterschiedlichen Entwicklungsgängen überlagerter und in sich widersprüchlicher Modernisierung gesprochen werden kann,40 erscheinen ländliche Gesellschaften und Lebensverhältnisse auch nicht mehr lediglich als Residuen vormoderner Prägung, die sich in Auflösung oder im Gange des Verschwindens befinden. Vielmehr stellen sie sich – wie andere Lebensräume auch – als Erfahrungs- und Handlungsräume, zumal aber auch als Symbolvorräte und Kommunikationsangebote dar, in denen unterschiedliche Orientierungen, Erfahrungsschätze, Sinnreservoire und nicht zuletzt deren Verobjektivierungen, auch Verfestigungen und ggf. Verzerrungen zu Traditionen, Institutionen und kulturellen Artefakten anzutreffen sind und die als jeweilige Medien der Aushandlung von Interessen, Konflikten und Optionen zur Verfügung stehen bzw. diese auch entsprechend begrenzen.41

Selbst dort, wo Ländlich-Dörfliches vor allem als Gegenwelt und zu transformierendes „Andere“ der Moderne gezeigt, ja funktionalisiert wird, bieten Ländlichkeit und Dörflichkeit über die noch bestehenden Verhältnisse hinaus schon von ihrer Bildkraft her zugleich auch einen Imaginations-, Orientierungs- und Erfahrungsschatz dar,42 der nicht nur zur ästhetischen Validierung der in den Texten entworfenen Geschichten, Räume und Charaktere dienen kann, sondern darüber hinaus auch an Erfahrungen, Verhaltensmuster und Erwartungen im Lesepublikum anzuknüpfen vermag, die sich in der eigenen Biografie oder in der intergenerationellen Familiengeschichte noch immer mit den Erfahrungen und Vorstellungen des Ländlich-Bäuerlichen verbinden und durch sie validieren lassen.

5.

Felders Ansatzpunkte zur Sozialreform auf dem Lande

Jenseits von Folklore und Exotik oder auch regressiver Reaktion bieten bspw. die Dorfgeschichten Berthold Auerbachs und so auch die Romane und Erzählungen Franz Michael Felders vor allem Erfahrungsschätze und Verhandlungsstoffe an, anhand deren und in deren Ausarbeitung sich nicht nur eine einseitig sichtbare Durchsetzung der Moderne – mit entsprechenden Verzögerungen im ländlichen Raum und unter Vernachlässigung bzw. Diskriminierung der dort lebenden unterbürgerlichen Schichten – fassen lässt. Vielmehr umfassen und bringen diese Texte und die in sie eingebundenen Referenzen auf die Erfahrung ländlicher Räume und bäuerlicher Gesellschaftsformen, gerade in dem sie die Erfahrungen ländlicher Gesellschaften in das oben angesprochene Kommunikationsmodell einer bürgerlichen Vergesellschaftung und Kultur einbringen, ein für die Entwicklung der modernen Gesellschaften charakteristisches Wechselspiel und Verwebungsverhältnis der Erfahrungen, Formen und Vorstellungen herkömmlich ländlicher Gesellschaften mit Impulsen, Kategorien, Lebensformen und Ansprüchen der Moderne zustande, aus deren vielfältigen Verwicklungen sich dann nicht nur der Stoff der Geschichten, sondern auch die Lebenserfahrungen und Einstellungen, auch Handlungsansprüche und Erwartungen von Menschen auf dem Lande sowohl formulieren als auch erkunden lassen und wie sie zugleich in den Imaginationsräumen der Lesenden einen Wiederhall finden können. Dass sich Felders Schreiben dabei gerade nicht nur an ein ggf. städtisches Publikum wendet, das – sei es zur Unterhaltung oder auch Befremdung – angesprochen werden kann, sondern als Stimme und Sprachrohr der Landbewohnerinnen und Landbewohner für diese zu sprechen sucht und sich überdies auch an sie selbst wendet, unterscheidet den Bauerndichter Felder von anderen, die sich lediglich die Kostüme oder die Folklore des Ländlichen zugunsten eines unspezifischen Marktsegments zu eigen machen, und rückt ihn an die Seite bspw. Berthold Auerbachs (1812 – 1882) oder des von diesem verehrten Johann Peter Hebel (1760 – 1826).