Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021

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Wenn Jean Paul in seiner autobiografisch ausgerichteten

Selberlebensbeschreibung

 (1826) fordert: „Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen“

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, so geht es ihm zunächst um die mit der Reduktion der Vielfalt in dörflich-kleinstädtischen Verhältnissen verbundene Konzentration auf die ästhetischen und emotionalen Valeurs der unter diesen Bedingungen wahrzunehmenden Dinge und Personen in Natur und Gesellschaft, dann aber auch darum, das Dorf als Standort der Selbst- und Fremdbeobachtung zu bestimmen. Nicht zuletzt können Dörfer und ländliche Räume auf diese Weise nicht nur als Gegenwelten zu städtischen (und im 18. Jahrhundert noch virulent „höfischen“) Verhältnissen in Erscheinung treten, sondern zugleich als Arenen und Aushandlungsorte der Modernisierung selbst erkundet und vorgestellt werden. In dieser Perspektive erscheinen dann Reformen auf dem Land nicht lediglich als nachholende Entwicklung oder Abfallprodukte in einem über sie hinweg gehenden Modernisierungsprozess, sondern zugleich als Probestücke und Laboratorien, ja auch als andere Wege im Entwicklungsgang und in der Ausgestaltung moderner Gesellschaften selbst.

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5.1



Soziale und individuelle Komponenten ländlicher Sozialreformen



Bereits in Jean Pauls Sicht erscheint das Lokale, vielfach ansonsten als Gegenstück zur Globalität gesetzt und entsprechend missachtet oder verteidigt, zugleich als ein Erfahrungsraum und Bewährungsfeld des Globalen selbst, und zwar in ästhetischer und ethischer ebenso wie in handwerklich-praktischer und lebenspraktischer Hinsicht: „und dieses herrliche Teilnehmen an jedem, der ein Mensch, welches daher sogar auf den Fremden und den Bettler überzieht, brütet eine verdichtete Menschenliebe aus und die rechte Schlagkraft des Herzens.“

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 Dies lässt sich auch bei Felder wiederfinden, dass der hier angesprochene Zugang zur Lebenserfahrung und Lebensgestaltung der Bewohnerinnen und Bewohner des Ländlichen, zumal auch zur Lebenswelt und zu den Handlungsmöglichkeiten der dort lebenden Unterschichten und Randfiguren, durchaus auch eine soziale und sogar politische Seite hat, die sich mit Stichworten wie Subjektivität, Anerkennung, Empathie und Stimme („voice“)

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 ansprechen lässt und die sich bei Jean Paul ebenso findet wie in den heterodiegetischen und autodiegetischen Erzählern und zusammengetragenen Geschichten und Beobachtungen Felders.



Angesichts einer damit angesprochenen (im Einzelfall durchaus unausgewogenen) Balancierung in der Gegenüberstellung von Land und Stadt, von Lokalität und globaler Welt, Moderne und Erfahrungsformen traditionell bäuerlich-ländlicher Gesellschaften kommt den bei Felder bspw. anzusprechenden Vorschlägen zur Sozialreform in ländlichen Zusammenhängen aber nicht nur in rein planerischer, politischer oder Institutionen bezogener Hinsicht Bedeutung zu. Sicherlich stehen in Hinsicht der letzteren die unverzichtbaren, „realistischen“ Forderungen, wie sie in den

Gesprächen des Lehrers Magerhuber

 (1866) erörtert werden, im Vordergrund, also die Notwendigkeit bürgerlicher Rechte für alle

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, das Recht und die Möglichkeiten einer allen zugänglichen, dann auch weiterführenden Bildung

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, Marktfreiheiten und Solidarität

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 sowie allgemeines und gleiches Wahlrecht

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. Nicht zuletzt geht es um genossenschaftlich organisierte Besitzverteilung

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 und Produktion sowie um eine darauf gegründete Wohlfahrt für alle

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. Als zentraler Bezugspunkt jedweder Landreform erscheint aber (und vor allem), „daß das Individuum vielmehr gelten müsse rein als solches und daß ihm nichts anderes als die ungehinderte Selbstbetätigung seiner Kräfte als der eines Einzelnen zu garantieren sei.“

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 Wenn es dabei, wie auf den diesem Zitat folgenden Seiten, darum geht, „die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit der Entwicklung“

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 auf den Weg zu bringen bzw. zu fördern, so zielen die hier in diesen im dialogischen Muster der an Sokrates geschulten Aufklärungsdialoge eines Lessing, Wieland oder Diderot gehaltenen Gespräche aber vor allem auf die Stärkung und Etablierung eines Individuums, das in seiner Unhintergehbarkeit ebenso wie in seiner Besonderheit, Endlichkeit und Unergründlichkeit als Bezugspunkt und Träger jedweder Reform der Lebensverhältnisse auf dem Lande auch in den Erzählungen und Romanen Felders in den Fokus gerückt wird. In den dort geschilderten Charakteren und Begebenheiten erscheinen diese plastisch, auch widersprüchlich und schwankend, aber so gefasst, dass sie als Handelnde und Beobachter einer lebensweltlich bezogenen Praxis vor Augen gestellt und in ihren – teils durch die Erzähler, teils durch die Figuren selbst vertretenen – Reflexionen als Impulsgeber für ein als „teilnehmend“ modelliertes und im Sinne einer bürgergesellschaftlichen Kommunikation anzusprechendes Publikum ausgearbeitet werden. Der kolloquiale Stil, der aus den Briefen bekannt ist,

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 wird in den Erzählungen auch dazu genutzt, einen Gesprächskreis und Reflexionszirkel der Lesenden zu konstituieren, der von den Möglichkeiten handelt, Subjektivität und Individualität in Richtung Selbstbestimmung und Sozialität sowohl zu entfalten als sich deren auch wechselseitig zu versichern, nicht zuletzt in der von Felder – vielleicht inszeniert, vielleicht notgedrungen, vielleicht tatsächlich selbstbewusst und künstlerisch – ausgearbeiteten, gerade in ihren Schwankungen zwischen Idiolekten, Dialekten, Soziolekten und konventionell bis artifiziell aufgebotenen poetischen Sprache, in der die Erzählungen gestaltet sind.



Waren ältere Entwürfe eines „gebildeten Landmanns“, wie sie in der Hausväter-Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts vor Augen gestellt werden,

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 deutlich ständisch beschränkt und orientierten sich an einem für den Dienstadel und die avancierten bürgerlichen Schichten des 17. Jahrhunderts offensichtlich attraktiven Neo-Aristotelismus ebenso wie an der von Eliten getragenen Landlebensliteratur der römischen Republik, so fand die Vorstellung einer „Hebung“, also Verbesserung des Landlebens durch Bildung im Rahmen einer von Gerhard Sauder so beschriebenen „verhältnismäßigen Aufklärung“

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 zum Ende des 18. Jahrhunderts eine breitere Resonanz, die sich nun auch über die Träger einer durch Schriftlichkeit und Literatur getragenen Volksbildung tatsächlich den Bauern, sicherlich erst einmal nur denjenigen, die über Hof und Grundbesitz verfügten, zuwandte. Neben Lehrern und Pfarrern sowie adligen, religiös ausgerichteten Grundherren von der Art der Zinzendorffs und einigen frühen volkskundlich ausgerichteten Ethnographen

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 treten dabei vor allem einzelne Menschen und ihre Charaktere bzw. Schicksale in Erscheinung, die vor dem Hintergrund z. B. gescheiterter theologischer Studien als reisende Beobachter oder experimentierende Pädagogen das Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner erkunden und zur Sprache bringen. In verschiedenen Regionen sind es nach 1815 dann auch landesherrschaftliche Behörden und deren einzelne Vertreter, die Schulbildung, Infrastruktur, öffentliche Wohlfahrt und in dieser Hinsicht dann auch Agrar- und andere Landreformen auf den Weg bringen (z. B. in Rheinhessen und der Kurpfalz; in Preußen und Baden).

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Für die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert, und so auch für Felders Denken und Parteinahme, dürften dazu auch die gesellschaftsreformatorischen Impulse etwa der französischen Frühsozialisten im Zeitbewusstsein gelegen haben; bspw. Charles Fouriers Konzeption von Mustergütern, in denen sowohl der landwirtschaftlichen Produktion als auch der Emanzipation sinnlicher Erfahrungen Aufmerksamkeit geschenkt wird, wobei der letzte Punkt auffälliger Weise eben auch in Felders Freude am Küssen in den

Liebeszeichen

 wiederzufinden ist. Auch in anderen Entwürfen „neuer“, auf Egalität und Wohlfahrt, aber auch auf individuelle Selbstertüchtigung ausgerichtete Modelle, wie sie bspw. von Robert Owen (1771 – 1858) ausgehend in verschiedenen Kolonien der „Neuen Welt“ als Genossenschaften eingerichtet wurden,

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 finden sich Vorlagen für die Vorstellungen Felders. Felders besonderer Zugang besteht freilich darin, dass er anders als der mit seinen Anhängern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts außerordentlich einflussreiche Henri de Saint-Simon, auf dessen Impulse immerhin der Aufstieg der modernen Sozialwissenschaften in einem Zweig zurückgeführt werden kann, neben wissenschaftlich-technischen Orientierungen, die in den

Magerhuber

-Gesprächen mit Verweisen auf den US-amerikanischen Nationalökonom Henry Charles Carey (1793 – 1879) – sicherlich unzureichend – angesprochen werden, vor allem die Selbsttätigkeit und auch Selbstertüchtigungsmöglichkeiten des Individuums in den Vordergrund stellt. Karl Wagner hat in seinem instruktiven Aufsatz

Vom Schreiben auf dem Lande. Felders und Roseggers Anfänge

 auf die Gefahren hingewiesen, denen ein länger lebender Land- und Sozialreformer Felder im weiteren Fortgang des 19. Jahrhunderts vielleicht ausgesetzt gewesen wäre: „Felders früher, tragischer Tod hat ihn auch davor bewahrt, in einer der ideologischen Fallen zu landen, die das 19. Jahrhundert nicht nur für seinesgleichen parat hatte.“

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 Wäre er bei dem in den literarischen Texten in Szene gesetzten sinnlichen Materialismus und Individualismus, der Leibgebundenheit von Erfahrungen und Glücksstrebungen geblieben, die seine Figuren in ihren Ambivalenzen, auch unglücklichen Konstellationen ausmachen, so wäre die Umwendung bzw. Umdeutung seiner Konzepte in nationale, nationalistische oder sonstwie integralistische Strebungen und Programme, wie sie dann vom 19. Jahrhundert bis in 20. Jahrhundert weiter ihre Schatten geworfen haben, vielleicht schwerer gefallen als bei anderen – zumindest lässt sich an diese Stelle von heute aus eher an die kommunalistischen, kommunitären Impulse in Felders Denken anknüpfen.

 



5.2



„Wendung aufs Subjekt“ – Felders sozialer Individualismus



Neben Felders Beiträgen zur Publizistik, zur Aufklärung über die Möglichkeiten und Ziele politischer und sozialer Partizipation der Landbevölkerung und über seine Stimme im literarischen Feld der Dorfliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus sehe ich die Bedeutung seines literarischen Schaffens, um die These, unter der ich im Folgenden die beiden bereits genannten Texte etwas genauer vorstellen möchte, vorweg zu nehmen, in dem, was sich mit einer Formulierung Theodor W. Adornos als „Wendung aufs Subjekt“

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 bezeichnen lässt. Dies gilt zum einen für die Glücks- und Liebesgeschichte des jungen aus der Fremde der Stadt Bregenz ins heimatliche Schoppernau zurückkehrenden Lehrers Franzsepp, wie sie mit uneindeutig schwankenden Charakteren in ungesicherten, ebenfalls ambivalenten Verhältnissen in der Novelle

Liebeszeichen

 von 1867 entwickelt wird. Dies gilt zum anderen für die schnell wechselnden Naturgegebenheiten und Wetterverhältnissen, aber auch noch sonstigen Gefahren ausgesetzte Reisegruppe des

Ausflugs auf den Tannberg

 (1867), zu deren „zufällig“ letztlich erfolgreicher Heimkehr Ortskenntnisse, Vorsicht und Solidarität ebenso beitragen wie Gottvertrauen und diverse andere Kraftquellen, nicht zuletzt magisches Denken und unerwartete Begebenheiten, insbesondere aber auch die Hilfsbereitschaft und Fürsorge der Nachbarn und weiterer Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner, schließlich ein ebenso aufmerksam beobachtender wie um Kontingenz und Mehrdeutigkeit bedenklich wissender, zugleich mitwandernder Erzähler. Sicherlich geht es in diesen beiden Texten zunächst um die Schilderung der schweren und bedrückenden Lebensverhältnisse in den Umständen der durch die Natur, aber auch durch Kirche und Herrschaft hart bedrängten Bauern und anderer Bewohnerinnen und Bewohner der Vorarlberger Täler und Höhen. Es geht aber auch darum, deren Hoffnungen, Handlungskompetenzen und Erfahrungen zu beschreiben, vorhandene Fähigkeiten und Wünsche so zur Erscheinung zu bringen, dass sie als Ansatzpunkte zur Stärkung der Subjekte von innen gesehen und verstanden werden können. An zentraler Stelle heißt es dazu aus der Innenperspektive des Lehrers: „‚Meine Kraft ist nicht, um sie von Zweifeln verzehren zu lassen. Heute noch soll es sich entscheiden, wozu ich sie zu brauchen habe‘“.

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Anders aber als andere Landreformer erzählt Felder nicht von außen und nicht programmatisch, sondern fallbezogen und im Wissen um die Mehrdeutigkeit und die schwankenden Charaktereigenschaften seiner Protagonisten, deren Ungesichertheit die wechselvollen Umstände in Natur und Gesellschaft entsprechen und deren angestrebte Ziele sich nur in einer Mischung aus Erfahrung, Zufall und Kooperation in Reichweite bringen lassen. Schon die Eröffnungsszene, die den aus der Ausbildung heimkehrenden zukünftigen Lehrer an einer Brücke zeigt, von der aus er Papierblätter ins Wasser wirft und über deren weiteren Verbleib spekuliert, macht darauf aufmerksam, dass Geschichten, Handlungen und Geschicke keineswegs handhabbar zur Verfügung stehen oder gar einem Schicksal oder einer eindeutig identifizierbaren historischen Bestimmung unterliegen. Vielmehr ist es die „Veränderlichkeit“

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, die sicherlich belastet, zugleich aber den Einsatz für etwas Bestimmtes, zumal für Neuerungen

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 lohnend erscheinen lässt. In dieser Hinsicht ist der Lehrer von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten schulreformerischer Impulse überzeugt, die dann auch auf gute Resonanz stoßen: „Erst jetzt erzählten die Kinder begeistert, wie ordentlich ihnen im letzten Winter alles gezeigt und erklärt worden sei, wie der Lehrer sich immer bemühte, auch Schwieriges leicht und fasslich zu machen.“

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 Zugleich bleiben aber die Ambivalenz der Verhältnisse, auch der eigenen Charakterzüge und Wahrnehmungen

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 ebenso bestehen wie die Macht der alten Verhältnisse

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, Schicksalsglaube

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 und nicht zuletzt die Unwägbarkeiten der Umstände allen guten Vorsätzen gegenüber gegenläufige Macht ausüben können.



Wenn Dichtungen, wie dies Sigmund Freud in seinen Überlegungen zur Fantasie der Dichter darstellt, niedergeschriebene Tagträume sind,

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 Literatur imaginäre Wunscherfüllung bietet und die Kraft literarischer Imagination deshalb an einer Realität, wie sie ist, ansetzen muss bzw. kann, wenn sie, wie dies Northrop Frye beschreibt, den Entwurf einer besseren Wirklichkeit und Gesellschaft vorstellen und möglich werden lassen will,

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 so stellt die Erzählung um den jungen Lehrer, der mit neuen Ideen ins Dorf kommt, zunächst an falscher Stelle einen Liebesbeweis zu ergattern sucht, was ihn erst einmal zu einem Ausgestoßenen werden lässt, der dann aber durch glückliche Umstände und dank der Klugheit und Tatkraft einer anderen jungen Frau doch noch Liebe, Anerkennung und Ansatzpunkte auch für die Reform der Schule und damit des dörflichen Zusammenlebens gewinnen kann, eine Modellgeschichte dar, die das Wünschen zu forcieren und die Tatkraft der selbstverantwortlich Handelnden zu stärken sucht. Eingelagert ist diese Erzählung von einer eigenständigen Suche nach dem Glück („the pursuit of happiness“) allerdings in durchaus schwierige Situationen. Armut und Gewalt, nicht ohne Grund wird der abzulösende Lehrer Christian im Dorf als „Klopfer“ bezeichnet,

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 aber auch die Unbilden der Natur, die Macht der Kirche und die für die Bauern nahezu schicksalsgleich in Erscheinung tretenden Ansprüche der politischen Macht, hier gezeigt an einer Lotterie, die die Rekrutierung der Armen zum Militärdienst bestimmt,

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 werden als Rahmenbedingungen für ein auf die Veränderung bzw. Besserung der Verhältnisse eintretendes Handeln drastisch und mächtig gezeigt. Ihnen entgegen zu treten erfordert neben Mut eben auch Glück, das – so wird es in der Erzählung vorgestellt – durchaus wiederum auf Entschließung und Tatkraft angewiesen ist, die zumal hier von einer jungen Frau ausgeht. War zunächst der Kuss als „Liebeszeichen“ intendiert (und missverstanden worden), so ist es nun ein Kleeblatt, das als Glücksbringer in der Lotterie hilft, vor allem aber auch die Zuneigung und damit die Tatkraft einer unterstützenden Liebe für individuelles Handeln und eine ggf. emanzipatorische Praxis in den Vordergrund stellt. Freilich lässt die Geschichte offen, was des Weiteren daraus unter den genannten Bedingungen zu werden vermag.



Das unverfügbaren Mächten, zumal der Natur, dem Wetter, aber auch der sozialen Lage und nicht zuletzt der eigenen menschlichen Natur Ausgesetztsein bildet dann auch den Rahmen für die Schilderung des „Ausflugs“ einer Gruppe von Bauern im Winter zur Hochzeitsfeier auf dem Tannberg. Ängste sind für diesen Ausflug, der sowohl der Neugier als auch den dörflich-verwandtschaftlichen Verpflichtungen geschuldet ist, ebenso zu überwinden wie eisige Schneeflächen. Es drohen Abstürze und Lawinengefahr, ebenso aber auch ggf. böse Geister und eigene Unpässlichkeiten, so dass das Unternehmen, ebenso wie seine Erzählung, letztlich vor allem dadurch gelingt, dass Entschlossenheit und Vorsicht gleichermaßen den Ton angeben, zu deren Unterstützung dann auch noch Gebete, magische Praktiken, solidarische Hilfe, Gewohnheiten und nicht zuletzt Zufälle herangezogen werden müssen. Letztlich ist es dieses Durcheinander der Sinnreservoire und Orientierungen, auch der Erfahrungen und Vorstellungen, nicht zuletzt der Wahrnehmungen und Intentionen, das sowohl den Charakter der Reise und des Hochzeitsfestes, in dessen Zentrum eine Art Teufelstanz nahezu alle Besucherinnen und Besucher, zumal die Braut in ihren Bann zieht, als auch den Reiz der vorliegenden Erzählung ausmacht. Dabei wird die Erzählung von einem teilnehmenden, ebenfalls in unterschiedlichen Stimmungen, Beobachtungen und Vorstellungen befangenen Erzähler getragen, dessen Schwankungen und Reflexionen zusätzlich die Unruhe der Reise und des Tuns hervorheben:



„Ich sorgte weniger für heute als für die kommenden Tage. Aber warum nur ans Schlimme denken? Stürme und Gefahren gibt’s auch, wenn’s nicht schneit . Ich gab keinem Einwand mehr Gehör und zog trotzig den Hut auf die Stirn herunter, als mir der Sturm die ersten gefrorenen Schneeflocken entgegentrieb.“

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Versuche, unter diesen Bedingungen eine gelingende Reise, ein einigermaßen als glücklich zu nennendes Leben zu führen, erst Recht Versuche zur Besserung der Verhältnisse auf den Weg zu bringen, so legt es der Erzähler ebenso nahe wie die Erzählung davon berichtet, bedürfen ziemlicher Entschlossenheit und solidarischen Zusammenhalts, sind allerdings zugleich auch von der Kontingenz und ggf. Gewogenheit der Umstände abhängig. Beten könnte hier ebenso helfen wie magische Praktiken, während die Disproportionalität von Erwartungen und Bedarf auf der einen, Aufwand und Ergebnis auf der anderen Seite vom Erzähler in teils skeptischen, teils humoristischen Betrachtungen sowohl vorgetragen als auch repräsentiert wird. Statt eine Art Selbstmord zu begehen durch Beten in der kalten Kirche, zieht dieser es vor, zuhause zu bleiben, da „der liebe Gott auch wisse, wie einem halb erfrorenen Bäuerlein zumute“

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 ist, und mehr noch, statt zu beten, bevorzugt er es, die Zeitung zu lesen, woraus er durch die Einladung zur Hochzeit aufgeschreckt wird. Alltagshandeln wie die Bewältigung der durch Natur und Herrschaft gesetzten Anforderungen können, so erzählt es diese Geschichte, immer nur ansatzweise und unter Einbeziehung aller möglichen Hilfsmittel, vom christlichen Beten über den Schnaps bis zu magischen Praktiken, mit Alltagsvernunft und lebenspraktischem Wissen wie mit Ortskundigkeit, Neugier und vorhandenen Erfahrungen angegangen und erfolgreich bearbeitet werden.



Für eine mögliche Besserung des Lebens der Menschen auf dem Land, davon berichtet Felder an dieser Stelle, ist deren Eingebettetsein in herkömmliche Erfahrungs- und Vorstellungsschätze ebenso zu berücksichtigen und zu nutzen wie deren Tatkraft und Entschlossenheit, Gemeinsinn und u. U. auch Exzentrik anzuerkennen sind. Die Subjekte, auf deren Repräsentation und Empowerment diese Texte zielen, werden in ihrer Verwobenheit, in den Wirren der unterschiedlichen Erfahrungen, Bedürfnisse und Sinnbezüge gezeigt. Damit ist zu arbeiten und hier ist anzusetzen, wenn es um Reformen auf dem Lande geht und darum, hierfür Menschen zu gewinnen, ohne deren Umschulung oder gar Vernichtung zugunsten eines „neuen Menschen“ ins Auge zu fassen. Wer im Blick auf das Ineinander-Verwobensein von Tradition und Moderne nach Vergleichbarem dazu sucht, könnte zum einen auf die Spur kommen, wie sie in ungefähr zeitgleichen Umständen Heinrich Heine mit seiner Studie zu den

Elementargeistern

 (1837) gelegt hat. „In Westfalen, dem ehemaligen Sachsen, ist nicht alles tot, was begraben ist.“

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 Postkolonial orientiert, ließe sich zum anderen feststellen, dass die Stimme der Subalternen auch hier bei Felder zu Wort kommt und im literarischen Spiel einen bis heute klingenden Resonanzraum zu finden vermag.





1 Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main: S. Fischer 1992, S. 80.



2 Inwieweit sich Lektüre als Gestaltungsmittel, Verständigungsmedium und auch Verstehenshilfe in privaten, intimen Beziehungen des 19. Jahrhunderts nutzbar machen ließ, selbstverständlich zugleich auch neue Felder der Missverständnisse und der Grenzsetzungen eröffnete, hat Dan Hofstadter anhand der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts gezeigt. Vgl. Ders.: Die Liebesaffäre als Kunstwerk. Berlin: Berlin Verlag 1996; für weitere, v.a. auch milieu- und schichtenbezogene Zusammenhänge vgl. Hans Dieter Zimmermann: Vom Nutzen der Literatur. Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der literarischen Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 97 – 104 und bspw. Rolf Engelsing: Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert. In: Ders.: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978, S. 180 – 224.



3 René König: Gesellschaft. In: Das Fischer Lexikon Soziologie. Hg. von René König. Frankfurt am Main: Fischer 1967, S. 104 – 112, hier S. 105.



4 Namentlich die „Erfindung“ der Gesellschaft durch die Etablierung der Soziologie als einer eigenständigen, auf diese Totalität hin bezogenen Wissenschaft und deren ebenso auf Praxis wie auf Verstehen und theoretische bzw. geschichtsphilosophische Rahmung ausgehende Konzeptbildung. Vgl. Helmut Klages: Geschichte der Soziologie. München: Juventa 21972; Albert Salomon: Fortschritt als Schicksal und Verhängnis. Betrachtungen zum Ursprung der Soziologie. Stuttgart: Enke 1957.

 



5 Vgl. dazu Gottfried Willems: Geschichte der deutschen Literatur. Band 4: Vormärz und Realismus. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2014, S. 20f.; Richard Brinkmann: Zum Begriff des Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt: WBG 1974, S. 222 – 235, hier S. 222 – 229.



6 Siehe Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen . Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.



7 Siehe Dieter Claessens und Karin Claessens: Kapitalismus als Kultur. Entstehung und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.



8 Siehe Christian Graf von Krockow: Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890 – 1990. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 17 – 29.



9 Siehe Werner Nell: Vom Landbewohner zur Bürgerin. In: Ders. und Marc Weiland (Hg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin: Metzler 2019, S. 101 – 107.



10 Ulrich Bräker, der „arme Mann von Toggenburg“, ist hier ebenso zu nennen wie Johann Peter Hebel, u. a. ein Vorbild Berthold Auerbachs. Für diese Zusammenhänge vgl. Marcus Twellmann: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Berthold Auerbach. Schriften zur Literatur. Göttingen: Wallstein 2014, S. 267 – 304, hier S. 271 – 285; Gottfried Korff: Kultur. In: Hermann Bausinger u. a. (Hg.): Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt: WBG 1978, S. 17 – 80, hier S. 63 – 80, sowie Wolfgang Bonß: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 59 – 96.



11 Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. Berlin: Dietz 1970, S. 46.



12 Es böte sich hier ein Bogen zu anderen kritischen, z.T. frühsozialistischen Denkern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, die wie etwa Charles Fourier (1772 – 1837) oder auch Henri de Saint-Simon (1760 – 1825) neben sozialer und ökonomischer Rationalität den Sinnlichkeit, Sozialität und Transzendenzvorstellungen gewidmeten Bedürfnissen und Erfahrungen von Menschen einen Raum und Anspruch gewähren – ein Impuls, der literarisch nicht zuletzt von Felders Zeitgenossen Heinrich Heine (1797 – 1856) aufgenommen und in poetischen Formen angesprochen wurde. „Keiner“, so Theodor W. Adorno im Vorwort zur deutschen Ausgabe Fouriers, „bietet dem Vorwurf des Utopismus schutzloser sich dar als er; bei keinem aber auch ist die Anfälligkeit der Doktrin so sehr gezeitigt vom Willen, die Vorstellung des besseren Zustands zu konkretisieren.“ (Theodor W. Adorno: Vorwort. In: Charles Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Hg. von Theodor W. Adorno. Eingeleitet von Elisabeth Lenk. Frankfurt am Main, Wien: Europäische Verlagsanstalt 1966, S. 5f., hier S. 6). Bezogen darauf bleiben Felders Entwürfe und Geschichten gegenüber dogmatischen Setzungen und doktrinärer Abstraktion bei der konkreten Lebendigkeit der von ihm geschilderten Personen, Erfahrungen und Umstände stehen und bieten so – über die frühsozialistischen Ideen und späteren Sozialismus hinaus – eine Anschlussmöglichkeit zu aktuellen Erfahrungen im Umgang mit sozialer Sicherheit, gesellschaftlicher Anerkennung und/oder individuellen Glücksbestrebungen (vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 429 – 442).



13 Dies betrifft zumal seine Autobiografie

Aus meinem Leben

 (1869), die unter dieser Perspektive eine eigene Untersuchung wert wäre. Vgl. Franz Michael Felder: Aus meinem Leben. Mit einem Nachwort von Walter Methlagl. Lengwil: Libelle 2004.



14 Ruth Levitas: The Imaginary Reconstitution of Society or why sociologists and others should take utopia more seriously. Inaugural Lecture University of Bristol 24 October 2005, S. 11. Siehe http://www.bristol.ac.uk/media-library/sites/spais/migrated/documents/inaugural.pdf .



15 Siehe Marshall Berman: All that is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity. New York, Toronto: Penguin 1988.



16 Siehe Josephine Donovan: European Local-Color Literature. National Tales, Dorfgeschichten, Romans Champêtres. New York: Continuum Publishing 2010.



17 Joseph Peter Stern: Über literarischen Realismus. München: C. h. Beck 1983, S. 9.



18 Ebd., S. 50.



19 Entsprechend fällt die Kritik vo

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