Das Wasserkomplott

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3. Kapitel

Am Tag nach dem Besuch beim Notar kehrte die Hitze des Sommers zurück. Der Himmel war wolkenlos und blau. Aus den Kronen der Bäume, die im morgendlichen Schatten standen, fielen vereinzelt die letzten Tropfen des gestrigen Regens. Und da waren noch die angeschwollenen Bäche und Flüsse, die braunes Wasser brachten.

Amanda und Fynn fuhren eine halbe Stunde durch tiefe Wälder, die zwischendurch von Wiesen und Kuhweiden abgelöst wurden. Schließlich bogen sie auf einen geteerten Güterweg ab, der schmal und kurvenreich ins Hinterland führte. Ab und zu mussten sie Schlaglöchern ausweichen, die oft nur mangelhaft mit Schotter gefüllt waren. Nach einer scharfen Kurve endete der asphaltierte Weg und ging in einen Feldweg über. Das Gras des Mittelstreifens strich über den Unterboden des Wagens und manchmal schlug ein Kieselstein gegen das Blech der Karosserie.

»Auf so einem Weg bin ich noch nie gefahren«, seufzte Amanda, die am Steuer saß.

Unvermittelt stieg der Weg an und führte einen steilen Hügel hinauf. Die Räder begannen zu scharren, Kieselsteine prasselten gegen das Autoblech, und anstatt behutsam den Hang hochzufahren, gab Amanda Gas. Das Scharren nahm zu, und das Prasseln der Kieselsteine ging in ein lautes Hageln über, während die Reifen Furchen in den Weg pflügten. Aber schon im nächsten Augenblick trat Amanda heftig auf die Bremse und blieb mitten in der steilen Rampe stehen, denn vor ihnen war plötzlich das grelle Licht von zwei Scheinwerfern aufgetaucht und darüber die grün lackierte Kabine eines Traktors.

»Wenn der Plan stimmt, sind wir keine 500 Meter vom Eingangstor entfernt«, erklärte Fynn und blickte hinauf zum Traktor. Der Traktor hatte ebenfalls angehalten, aber der Fahrer machte keine Anstalten zurückzusetzen. Er verschränkte die Arme auf dem Lenkrad und stützte seinen massigen Körper darauf. Er wirkte gereizt. Nach einigen Augenblicken gab er ihnen mit fuchtelnden Armbewegungen zu verstehen, dass sie verschwinden sollten.

»Ich glaub, ich kann das nicht«, flüsterte Amanda. »Rückwärts den Hügel hinab. Und das auf einem Feldweg.«

Fynn wollte gerade aussteigen und den Traktorfahrer bitten, etwas zurückzufahren. Aber als er die Tür öffnete, schrie der Fahrer wütend, dass sie verschwinden sollen.

»Lass ihn«, entgegnete Amanda.

Sie legte gerade den Rückwärtsgang ein, als sie die grelle Hupe des Traktors hörte. Das war zu viel.

»Klappe jetzt«, fauchte sie, legte den rechten Arm auf den Beifahrersitz, blickte durch die Heckscheibe und fuhr langsam los.

Sie lenkte den Wagen zu weit nach links und dann zu weit nach rechts. Er streifte an borstigem Gras, dornige Sträucher kratzten am Blech, und die Reifen schabten an den Wänden der Fahrbahnrinnen. Amanda begann zu schwitzen und steuerte das Auto weiter in Schlangenlinien abwärts, bis sie endlich eine kleine Ausweichbucht erreichte und dort stehen blieb. Ihre Halsmuskeln schmerzten vom Rückwärtsblicken, und ihre Finger zitterten vor Aufregung.

Der Traktor rollte langsam den Weg hinab und hielt neben ihr an. Der Fahrer ließ das Seitenfenster herunter und rief: »He, du Waldfee! Das ist ein Privatweg, okay? Da vorne ist eine Schranke und danach ist Ende Gelände. Haut ab von hier, sonst steig ich aus und zeig euch, wo’s lang geht.«

Während der Fahrer irgendetwas von Polizei sagte, pfiff Amanda leise vor sich hin. Gleichzeitig fingerte sie im Handschuhfach nach einem Schlüsselbund und steckte ihn an den Mittelfinger. Kurz danach streckte sie ihren Arm aus dem Fenster und sagte laut: »Das hier ist ein Schlüssel, okay? Und dieser Schlüssel passt genau in jenes Torschloss, von dem Sie gerade gelabert haben, okay? Und das, was sich hinter diesem Tor befindet, gehört uns, okay? Und wenn Sie jetzt weiterfahren, wäre das eine tolle Sache, denn dann könnten wir endlich auf unser Grundstück. – Ach, und noch etwas.« Nun reckte Amanda ihren Kopf aus dem Wagen und blickte zum Traktorfahrer hoch. »Wenn du weiter Faxen machst, bekommst du ein Schreiben von meinem Vater.« Kurz verschwand ihr Kopf im Wagen. Aber Augenblicke später streckte sie ihn wieder hinaus, da sie etwas Wichtiges vergessen zu haben schien: »Ach ja, mein Vater. Der leitet übrigens eine Anwaltskanzlei.«

Im nächsten Augenblick tuckerte der Fahrer los. Aus der Kabine dröhnte laute Schlagermusik und schließlich verschwand der Traktor hinter einer Kurve aus dem Rückspiegel von Amandas rotem Toyota.

»Aber …«, setzte Fynn an, den die Aufregung durchflutete, »dein Vater ist doch gar kein Anwalt.«

»Mag sein, aber dieser Typ hat 100-prozentig keine Ahnung davon.«

Sie rollten langsam den Hang hinauf, auf der anderen Seite hinunter und hielten vor einem großen Tor. Links und rechts davon begann eine hüfthohe Hecke aus Buchs, Liguster und Hainbuchen.

Als sie das Tor hinter sich gelassen hatten, wurde das Gras auf dem Mittelstreifen des Weges noch höher. Samenkörner regneten gegen die Windschutzscheibe. Pflanzendolden und vertrocknete Grasspitzen flogen davon, und Käfer krabbelten über die Motorhaube und an den Außenspiegeln entlang. Sie fuhren mehrere Kilometer über sanft dahinwellendes Gelände und erreichten schließlich eine weite Ebene.

Als sie ausstiegen, schüttelten sie staunend die Köpfe. Die Landschaft erstreckte sich weit gegen Osten. Das hohe Gras neigte sich träge im Wind hin und her wie ein großes, weites Meer.

»Verrücktes Bild«, sagte Fynn. »Hier der Weg und ringsherum nur dieses ausgeschossene gelbe Gras«.

Drüben begann ein Wald mit hohen Fichten, Tannen und Buchen. Und vorne am Horizont, weit entfernt, ragten graue Felswände empor. Darüber konnten sie das bläuliche Weiß einer Gletscherzunge erkennen.

»Diese Stille hier«, sagte Fynn.

Kohlweißlinge und Zitronenfalter flatterten vorbei. Bienen und Hummeln summten. In der Ferne gurgelte ein Bach.

»Mann, Fynn. So etwas. Also das ist ja beinahe unglaublich. Haben wir das Zelt dabei und die Schlafsäcke?«

Fynn nickte.

»Und auch den Gaskocher und Proviant?«

»Reis, etwas Kaffeepulver und einige Würfel Gemüsebrühe.«

Sie trat näher, umfasste mit den Händen seine Pobacken, drückte sanft zu und gab ihm einen Kuss. »Was hältst du davon, wenn wir heute hier übernachten und so?«

Fynn lächelte verschwörerisch. »Davon halte ich sehr viel.«

Sie schulterten ihre Trekkingrucksäcke und zogen los. Amanda folgte Fynn auf einem schmalen Wildwechsel, der von hohem verdorrtem Gras eingefasst war. Manchmal schob er Halmspitzen zur Seite, die sich gegen den Weg neigten.

Wie schön seine Hände sind, dachte sich Amanda. Das dachte sie sich immer, wenn sie sie genauer betrachtete.

Wohl eine Stunde wanderten sie zwischen dem Meer aus hohem Gras dahin. Die Sonne schien angenehm warm, und Amanda grinste, als sie einen Blick auf Fynns braune Cordhose warf und seinen Po, der sich darunter abzeichnete.

»Sollten wir nicht einmal eine Pause machen?«, flüsterte sie.

Er gab ihr aus seiner Wasserflasche zu trinken und sie lächelte einladend.

»Es ist so still hier. Was meinst du? Ich würde gerne im hohen Gras liegen, gegen den Himmel blicken, der zwischen den Halmen hindurchblinzelt, deine braunen Augen, dein friedliches Gesicht sehen und deine Bewegungen spüren.«

Fynn streichelte ihre Wange und steckte die Trinkflasche zurück in den Rucksack. »Sollen wir nicht zuerst einen Zeltplatz suchen, bevor es dunkel wird?«

»Gleich finden wir einen. Ganz bestimmt.« Amanda küsste ihn und sie gingen weiter.

Ihr Weg führte sie durch einen Hochwald. Einige Bäume waren längst umgefallen, moderten vor sich hin und waren von Schwämmen und Pilzgeflechten übersät. Es roch nach feuchter Erde, Nadeln und Harz. Amanda seufzte zufrieden. Immer, wenn ihr diese Gerüche in die Nase stiegen, musste sie an die Wanderungen mit ihrem Vater denken, die sie früher an den Wochenenden unternommen hatten. Sie war vielleicht sieben oder acht gewesen, als sie damit begonnen hatten. Meistens waren sie kreuz und quer durch das Gelände gestreift, hatten Beeren und Pilze gesammelt, sich auf Moosteppichen ausgeruht und mitgebrachte Brote gegessen. Sie waren bei jedem Wetter unterwegs. Egal, ob die Sonne schien, ob es regnete, schneite oder neblig war. Manchmal nahmen sie ihr Zelt mit und campierten auf einer Lichtung. Dann entfachten sie ein kleines Feuer, brieten Würste und kochten Tee. Und nachts, wenn vor dem Zelt etwas knackte oder ächzte, klammerte sie sich ängstlich an ihren Vater, und ihr Vater streichelte ihr über die Stirn und das Haar und versicherte ihr, dass alles gut sei. Dadurch fühlte sie sich so sicher und geborgen, dass sie meistens gleich wieder einschlief. Amanda war in diese Wanderungen verliebt und sie hatten gewiss ihre Leidenschaft für die Natur geweckt. Alles Weitere, der Einsatz für das Moor, das drainiert werden sollte, die Spendenaktion und die Rettung des Moores wären ohne diese Erlebnisse niemals möglich gewesen. Davon war sie überzeugt.

Der Weg schlängelte sich hügelauf und hügelab durch den Wald.

»Ein Wildwechsel«, sagte Fynn, »bestimmt.«

Wenn Fynn in seiner braunen Cordhose so vor ihr her ging, wurde sie jedes Mal verrückt nach ihm. Manchmal musste sie einfach seinen Rücken berühren, seine Arme, ihm durch das lockige Haar fahren, ihn küssen oder ihm sagen: »Ich hab dich so lieb.«

Der Pfad führte eine Anhöhe hinauf und wieder eine Senke hinab. Sie folgten ihm über eine Stunde, als Fynn hinter einer großen Kiefer auf einmal das Blau eines Sees schimmern sah.

»Wow«, flüsterte er. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Glaub ich nicht«, sagte Amanda.

Das Ufer des Sees glich einem lang gezogenen C und war mit feinen Kieselsteinen und einigen Sandbänken bedeckt.

 

»Da hinten«, meinte Fynn, »unter den Kiefern liegt eine Schicht weicher Nadeln und der Boden ist eben. Hier sollten wir unser Zelt aufstellen.«

»Wunderbarer Platz«, meinte Amanda zufrieden.

Nachdem sie gegessen und einen Ingwertee getrunken hatten, saßen sie zufrieden am Ufer des Sees. »So still hier«, flüsterte Fynn, während er auf das glatte Wasser sah, auf dem das Licht des Mondes glitzerte. Das Schilf neigte sich träge hin und her, und ein Blässhuhn glitt langsam vorüber.

»Was für ein Ort«, sagten beide gleichzeitig.

»Das glaubt uns keiner, Fynn.«

4. Kapitel

Der Notar lächelte wie ein gütiger Vater, als er ihnen zwei Verträge zur Unterschrift vorlegte. Amandas und Fynns Herzen rasten und beide wussten, das hier war ganz besonderer Moment. Ein Moment, der alles veränderte und ihr Leben von der einen zur anderen Sekunde in andere Bahnen lenkte. Amanda konnte ihre Stelle als Sachbearbeiterin beim Amt kündigen und Fynn seine öde Tätigkeit als Fakturist in der größten Textilfabrik des Ortes.

Mit Grauen musste er daran zurückdenken, wie er dort Rechnungen an Kunden geschrieben hatte und des Öfteren bei seinem Vorgesetzten vorsprechen musste, um sich dafür zu entschuldigen, dass er wieder einmal eine Zahl falsch eingetippt hatte. Sein Vorgesetzter fragte ihn stets, ob dieser Job schon das Richtige für ihn sei. Und Fynn hatte gewusst, dass er das nicht war, aber trotzdem jedes Mal mit vorgetäuschter Überzeugung gesagt: »Doch, doch, das ist er. Das müssen Sie mir unbedingt glauben.«

Sie würden von nun an für edle Ziele verantwortlich sein. Für Abermillionen Tiere und Pflanzen, für das Wohl der Natur, und das war eine der schönsten Aufgaben, die man sich vorstellen konnte.

Im Büro des Notars war es vollkommen still. Nur zwei Stifte kratzten leise über zwei Bögen Papier. Anschließend schoben Amanda und Fynn die unterschriebenen Dokumente mit den Fingerspitzen dem Notar zu.

Unglaublich, dachte Amanda. Wenn ihnen vor zwei Monaten jemand prophezeit hätte, dass sie bald Eigentümer des größten privaten Schutzgebietes des Landes sein würden, hätte sie diese Person für vollkommen verrückt gehalten.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es kaum glauben.«

Fynn war sprachlos vor Glück.

»Hier befinden sich alle wichtigen Unterlagen«, erklärte der Notar, als er eine Hand auf das dicke braune Kuvert legte. »Verträge, Kaufurkunden, Voreigentümer, Pläne von Wasserquellen, alles. Der Verein muss innerhalb eines Jahres gegründet werden. Danach sind Sie die rechtmäßigen Eigentümer des Gebietes.«

»Und das«, und nun nahm er ein schlankes gelbes Büchlein in die Hand, das in einer stabilen Klarsichthülle steckte, »ist das Sparbuch. Mit den Einlagen können Sie Ihre Arbeit für die Natur finanzieren, ein Vereinslokal erwerben, Untersuchungen im Schutzgebiet durchführen lassen, Referenten zu Vorträgen einladen, Werbungen schalten und um Spenden für den Verein bitten. So, ich glaube, das wäre alles.«

Amanda nickte zustimmend und Fynn meinte: »Puh. So viel Glück ist kaum zu ertragen. Das haut mich beinahe um.«

Als sie das Stiegenhaus des Gebäudes hinuntergingen, hörten sie es schon. Alphörner erklangen. Zunächst dachten sie sich nichts dabei. Aber als sie auf den Vorplatz traten, sahen sie es. Drüben, vor ihrem Auto, standen sie. Zwei Musiker mit ihren langen Alphörnern, die musizierten, und daneben eine applaudierende Menge.

»Wir dachten, dass man ja nicht jeden Tag ein Gebiet in dieser Größenordnung geschenkt bekommt«, sagte Amandas Vater gerührt, als er seine Tochter in die Arme nahm. Amandas Mutter war da, Fynns Großmutter, Verwandte und Freunde.

»So einen Augenblick muss man feiern!«, meinte die Großmutter strahlend und drückte Fynn fest an sich. »Ich bin so stolz auf euch.« Danach stießen sie mit Sektgläsern auf dieses Ereignis an. Amandas Vater hatte auf der Grünfläche, die an den Parkplatz angrenzte, sogar ein kleines Partyzelt und Tischbänke aufstellen dürfen.

»Wie habt ihr das nur geschafft?«, fragte Amanda.

»Ach«, erklärte ihr Vater. »Wir sind zum Eigentümer der Wiese gegangen und haben ihm gesagt: ›Wir müssen da unbedingt etwas Großes feiern und brauchen deine Wiese dazu.‹« Und drüben saß der Mann, über den ihr Vater gerade sprach, und winkte fröhlich.

»Verrückt«, sagte Fynn. »Einfach verrückt.«

Der Verein, den sie einige Wochen später gründeten, wuchs schon nach kurzer Zeit auf über 300 Mitglieder an und trug unter Insidern bald den Codenamen »Die Familie«. Naturschutzmagazine berichteten euphorisch über das Gebiet und die Ziele, die Amanda und Fynn verwirklichen wollten. In lokalen Tageszeitungen blickten sie von Titelseiten, und kleine Radiosender und Fernsehstationen baten sie um Interviews.

Aber nicht allen gefiel diese Naturschutzeuphorie. Eines Tages erhielten Amanda und Fynn ein Anwaltsschreiben, in dem es hieß, dass mehrere Landwirte, die Flächen in der Nähe des Schutzgebietes betreuten, seit geraumer Zeit erhebliche Einbußen zu beklagen hatten. Da die Schutzfläche brachliege, herrsche auf den angrenzenden Feldern und Wiesen eine invasive Ausbreitung von Unkräutern, die nur durch den massiven Einsatz von Herbiziden bekämpft und eingedämmt werden könne. Zudem erlitten die Bauern durch große Bäume und den Schattenwurf, den sie verursachten, massive Einbußen, da das Gras und Getreide wegen des Licht- und Nährstoffmangels auf den angrenzenden Feldern nur noch kümmerlich gedeihe.

Amanda und Fynn versuchten die Landwirte zuerst mit höflichen Briefen zu beruhigen. Aber das schien sie nicht zufriedenzustellen, denn sie klagten kurz danach vor Gericht auf Schadensersatz. Ein Teil des Guthabens versickerte rasch in Anwaltskosten und kurz schien es, als würde der Druck der Bauern so groß, dass die beiden das Erbe zu verlieren drohten.

Wütend äußerte sich ein Landwirt in einer Radio-Livesendung über die neuen Eigentümer und bezeichnete die Naturschutzaktivisten als Schädlinge der Gesellschaft. Je länger das Gespräch dauerte, desto enthemmter wurde er. »Das sind doch faule Leute«, erklärte er. »Und am schlimmsten sind die reichen Spinner, die diese Faulheit auch noch finanzieren. Diese jungen Nichtstuer sollen zuerst einmal arbeiten, anstatt sinnlos durch verwildertes Gebiet zu spazieren, um dort Käfer und Bäume zu zählen oder andere Sinnlosigkeiten aufzuführen, die niemandem etwas nützen!«

Immer wieder sprachen die Landwirte bei hohen Politikern vor. Gleichzeitig machten einige der Landwirte Amanda und Fynn über Strohmänner Kaufangebote, die versicherten, dass durch juristische Winkelzüge das Testament der alten Frau für ungültig erklärt werden könne. Die Strohmänner warnten Amanda und Fynn außerdem vor der nicht zu unterschätzenden Macht einiger Bauern, die in der Lage seien, auch außergerichtliche Mittel einzusetzen, um Druck auf die neuen Eigentümer auszuüben.

Doch dann wurde ein Naturschutzmagazin auf die missliche Lage der Familie aufmerksam. In der nächsten Ausgabe titelte es mit der Überschrift »Gier«, zeigte auf der ersten Seite einen grünen Traktor in einem großen abgemähten Feld und verurteilte die Agrarwirte im Artikel als weltfremd, raffgierig und profitgeil.

Als immer mehr Medien über das gerichtliche Vorgehen der Bauern berichteten, wuchs der Unmut der Bevölkerung. Die Klage wurde zum öffentlichen Ereignis und der Druck so groß, dass selbst die Richter davon nicht unbeeinflusst blieben.

Das Unglaubliche geschah: Die Kläger verloren und verzichteten darauf, den Rechtsstreit weiterzuführen. Die Medien feierten den gewonnenen Prozess als einen Sieg der leidenschaftlichen Jugend gegen die Gier des Alters. Die Spenden nahmen derart zu, dass die Familie damit sogar einen großen verwilderten Obstgarten erwerben konnte, der an ihr Schutzgebiet angrenzte und an dessen Rändern üppige Inseln aus Wildrosenhecken und Holundersträuchern gediehen.

»Das ist die Magie der Jugend«, titelte eine Naturschutzzeitschrift. »Eine Jugend, die Kraft hat und Visionen, denen sie durch ihren bedingungslosen Einsatz Leben einhauchen. Danke, Familie, für dieses große Zeichen der Hoffnung, das ihr uns geschenkt habt. Und eines steht fest: Wir Menschen haben den Kampf für eine saubere, klimafreundliche Zukunft noch nicht verloren. Denn diese engagierte junge Generation handelt, sie handelt für eine intakte Umwelt, für eine intakte Natur und letztlich auch für das Glück der Menschen auf dieser Welt.«

Amanda und Fynn waren wie besessen von ihrer Leidenschaft. Endlich gab es etwas, das ihrem Leben Sinn verlieh. Wie wohltuend war es, von einer Sache restlos überzeugt zu sein. Viele Menschen würden ihrem Beispiel folgen, davon waren sie überzeugt, diese positive Kraft würde wachsen wie eine schöne Blume, und ihre Wurzeln würden eines Tages die gesamte Welt umspannen. Alles würde besser werden. Der Klimawandel gestoppt. Die Eisbären hätten wieder ihren Platz auf der Welt, den sie seit Jahrtausenden bewohnten, die Ressourcen würden nicht mehr verschwendet.

In diesen Tagen unterstützten Amanda und Fynn auch Experten bei ihren Feldstudien im Gelände. Darunter waren Biologen, die sich vor allem für tote Bäume interessierten, oder Ornithologen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Verbreitung und das Optimieren der Lebensverhältnisse von Weißrückenspechten zu erforschen. Amanda und Fynn erfuhren von Schachtelhalmkolonien, die über 300 Jahre alt waren, sich ausbreiteten wie riesige Teppiche und doch eine einzige Pflanze als Ursprung hatten. Sie hörten von Schluchtgemsen, die abgelegene Bergtäler bevölkerten und die kaum jemand zu Gesicht bekam, weil sie so scheu waren.

Einmal begleiteten sie einen introvertierten Biologen, der sich seit über 30 Jahren mit Pflanzensystemen in Feuchtgebieten beschäftigte. Er hatte 20 Bücher zu diesem Thema geschrieben und galt als Koryphäe auf diesem Gebiet. Als sie ihm durch die Natur folgten, fielen ihnen seine trägen Schritte auf und seine Augen, die stets auf der Suche nach interessanten Pflanzen waren. In seiner Hand hielt er eine Lupe, deren Durchmesser dem eines Fußballs nahekam. In einem Moor sank er unvermittelt auf die Knie und schien Amanda und Fynn, die neben ihm standen, gänzlich zu vergessen. Er bemerkte auch nicht, dass sich seine Hose an den Knien gerade mit Wasser vollsog. Vor seinen Augen hielt er die Lupe und flüsterte mehr zu sich selbst als zu seinen Begleitern: »Immer wieder verrückt, dieser Einfallsreichtum, diese Überlebensstrategien.« Dann, als erwache er plötzlich aus seinen Gedanken, hob er den Kopf. »Das müsst ihr euch ansehen. Es ist unglaublich.«

Durch das Glas entdeckten sie eine blassgrüne Pflanze mit zwei Seitenblättern, die in rötliche Tentakel übergingen und an deren Enden kleine Tröpfchen hingen, die in der Sonne funkelten.

»Ein Spezialist für extreme Standorte, für kargste Lebensbedingungen. Der Sonnentau. Er wartet, bis ein Insekt von seinen glitzernden Tropfen angelockt wird. Die Tropfen täuschen Nektar vor. Ameisen oder Fliegen lassen sich davon blenden. Und zack, werden die Tentakel zu Fangarmen, aus denen es kein Entkommen mehr gibt. Das Tierchen wird in seine Bestandteile aufgelöst und ermöglicht dem Sonnentau, an einem Standort zu überleben, der so sauer ist, dass die meisten anderen Pflanzen, die hier keimen, kurz danach eingehen.«

Amanda und Fynn erfuhren von Dingen, von denen sie bis dahin nicht gewusst hatten, dass es sie überhaupt gibt. Von Hangschluchtwäldern und Tuffquellen etwa oder dem Reich der Pilze, die totes Holz in seine Bestandteile zerlegten und zu Erde werden ließen.

In diesen Tagen verbrachten sie ihre freie Zeit meistens im Haus der Großmutter. Seit er fünf war, besaß Fynn im ersten Stock des Hauses ein gemütliches und ruhiges Zimmer. Es war seit jeher sein sicherer Hafen und Zufluchtsort. Und hier ließ sich bestens studieren, lesen und nachdenken.

Amandas und Fynns Hunger nach Wissen über die Flora und Fauna war riesig. Neben dem Bett türmten sich bald Dutzende Zeitschriften, Facharbeiten und Broschüren. Sie wollten alles über die Natur und ihre Zusammenhänge wissen, denn wie stand es im Vorwort eines dieser Bücher? »Nur was ihr kennt, könnt ihr auch schützen.«

»Sagenhaft«, flüsterte Amanda an einem regnerischen Sonntagvormittag, als sie ihre Beine unter der warmen Decke ausstreckte und ein Buch über die Geheimnisse der Wälder zur Seite legte. »Das glaubst du gar nicht. Wir können so viel von der Natur lernen, Fynn. So viel über unsere Haltung zur Welt. Die Tanne zum Beispiel. Sie kann jahrzehntelang im Schatten eines Waldes stehen und wird dadurch nicht größer als drei, vier Meter. Und obwohl sie beinahe kein Licht bekommt, gibt sie nicht auf. Sie macht schmalste Jahresringe, kleinste Triebe und bildet winzige Wurzeln aus. Aber tief in ihr schlummert eine Kraft, die darauf wartet, dass ein Sturm über das Land zieht oder schwerer nasser Schnee fällt, der sich wie Blei auf die Äste jener Bäume legt, die sich hoch über ihr befinden. Wenn die großen Äste oder Kronen schließlich zu knacken beginnen und abbrechen und sich ein Lichttor öffnet, geschieht es. Die Ereignisse explodieren. Denn kaum spürt die Tanne das Licht über ihrer mickrigen Krone, ist es, als ob ein Schalter in ihr umgelegt worden wäre. Allmählich, aber unaufhaltsam streckt sie die Wurzeln, die Triebe werden länger und länger und die Jahresringe breiter und breiter. In ihrer ganz eigenen Geschwindigkeit schießt sie dem Himmel entgegen und ist in zehn Jahren beinahe so groß wie jene Tannen, die schon immer genug Licht bekamen. Das ist doch unglaublich, Fynn. Diese Strategie könnte eine Metapher für uns alle werden. Nie aufgeben, immer weiter gehen, auch wenn die Schritte noch so klein sind. Und am Ende sieht man das Licht, den Gipfel, das Ziel, man muss nur beharrlich sein und mutig.«

 

Auf einmal wurde sie still, blickte Fynn tief in seine braunen Augen und sagte: »Glücklicher, als ich jetzt bin, kann ich vermutlich gar nicht mehr sein.«