Das Wasserkomplott

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5. Kapitel



Um die Bekanntheit der Familie zu steigern, ließ der Verein von einer Werbeagentur ein Logo erstellen. Dieses Logo fand sich später überall auf den Broschüren, an Rednerpulten, wenn Vorträge gehalten wurden, als fixer Bestandteil von Werbungen in Zeitschriften und Magazinen. Es zeigte die Zeichnung einer Gelbbauchunke mit großen, lächelnden Augen, tastenden Schwimmfüßen und strahlendem Mund. Darunter konnte man lesen: »Schenk der Natur ein Lächeln«.



Die Popularität der Familie und ihre Vorbildwirkung waren so groß, dass sich das Vermögen auf dem Vereinskonto bald verdoppelte. Noch im selben Jahr erwarben sie eine 117 Hektar große Feucht-, Streu- und Magerwiese, die sich im Hochgebirge befand. An einem wolkenlosen Oktobertag streiften Amanda, Fynn und einige Mitglieder der Familie durch dieses Gebiet und staunten über die Landschaft mit ihren Sträuchern und Gräsern, deren sommerliches Grün allmählich in ein dunkles Braun überging. Fynn stand mit seinen Gummistiefeln gerade am Rand eines wassergefüllten Moores, in dem sich das tiefe Blau des herbstlichen Himmels spiegelte. Und als er nicht weit entfernt die ockerbraunen Heidelbeerstauden sah, die wie ein riesiger Teppich das Gelände bedeckten, wusste er, dass er genau das immer gewollt hatte. So oft wie möglich in der Natur zu sein und den Rhythmus der Jahreszeiten zu spüren.



Er jauchzte vor Freude. »Halleluja, ist das schön!«, rief Fynn seinen Freunden zu, die sich lachend über seinen Gefühlsausbruch zu ihm umdrehten.




6. Kapitel



Später würden alle, die dabei gewesen waren, darin übereinstimmen: Es waren diese Augenblicke, diese Minuten, die alles in wahrlich gigantische Sphären katapultiert hatten.



Es geschah bei einem dieser Treffen, die von der Familie alle drei Monate abgehalten wurden. Dabei musste sie von Mal zu Mal in eine noch größere Halle wechseln, da die Familie inzwischen auf über 8.000 Mitglieder angewachsen war und über die Hälfte davon an diesem Abend dabei sein wollte. Sie hatten eine große Tennishalle gemietet, die 5.000 Menschen fasste. Eine Sitzreihe folgte auf die andere und vorn, auf dem Podest, stand ein langer Tisch, der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Die Treffen dienten dazu, Projekte vorzustellen, Referenten erklärten Untersuchungen im Schutzgebiet, und es wurden Pläne für die Zukunft erörtert. Aber es gab auch Raum für Visionen, die jeder der Anwesenden vortragen konnte und die realisiert wurden, wenn sie die Zustimmung der Mehrheit fanden. Nach den Berichten wurde ein Scheinwerfer auf ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren gerichtet, das eine Jeans und ein weißes T-Shirt trug. Es stand schüchtern am Rand des Podiums und hielt ein Mikrofon in der Hand, um es dem ersten Visionär zu bringen. Kurz war es still in der Halle. Das Mädchen blickte suchend in die Menge, als sich in der ersten Reihe ein großer, schlanker Mann erhob. Sein Haar war kurzgeschnitten und graumeliert. Er trug einen schlichten schwarzen Maßanzug, ein weißes Hemd und lächelte einnehmend. Er nahm das Mikrofon entgegen und räusperte sich kurz. »Vielen Dank für die Gelegenheit, hier sprechen zu dürfen.« Schon nach dem ersten Satz spürten es fast alle in der Halle. Dieser Mann war außergewöhnlich. »Ich heiße Max Bonnermann«, setzte er fort. »Ich habe lange für eine PR-Firma gearbeitet und dabei Privatpersonen, Firmen und sogar Staaten betreut, um sie in der Öffentlichkeit ins rechte Licht zu setzen. Ich war dabei so erfolgreich, dass ich bis an mein Lebensende nicht mehr arbeiten müsste. Nun, mit Anfang 50, habe ich mir gedacht, dass es an der Zeit ist, höhere Ziele in Angriff zu nehmen. Dass es Zeit ist, ohne finanzielle Gegenleistung zu arbeiten, sondern aus Überzeugung und Leidenschaft etwas Gutes für die Menschheit zu tun. Ich verfolge eure Arbeit schon lange und bin beeindruckt und berührt, wenn ich sehe, mit welchem Enthusiasmus von euch Projekte entwickelt und verwirklicht werden. Und ich spüre eines sofort: Ihr hört auf den Herzschlag der Natur und versucht diesem Herzschlag nachzuspüren. Und ganz ehrlich, das fasziniert mich.«



Er machte eine kurze Pause und oben, irgendwo auf den Rängen, setzte plötzlich Applaus ein, der sich wie eine Welle über die gesamte Halle ausbreitete. Als er leiser wurde, rief eine Frauenstimme: »Max for president!«



Kurz wurde Gelächter laut, und der Applaus schwoll abermals an. Es schien unglaublich. Ein Mann, der nur einige Sätze gesprochen hatte, schien 5.000 Menschen in nur wenigen Sekunden in seinen Bann gezogen zu haben. Max wartete und hob nach einer Weile behutsam die Hand. Der Beifall verebbte sofort. Es war vollkommen still, als Max erneut zu sprechen begann. »Vielen Dank«, sagte er. »Ja, Ich gebe es zu, ich habe etliche Angebote von Naturschutzorganisationen erhalten, aber als ich diese heutige Stimmung miterleben durfte, eure Leidenschaft und eure Hingabe, habe ich sofort gewusst, wenn es irgendwie möglich ist, möchte ich Teil dieser Familie werden.«



Noch an jenem Abend wurde Max Bonnermann mit 98 Prozent Zustimmung in den Beirat der Familie gewählt.



Nach dem Treffen saß ein Teil der Familie in einem Restaurant zusammen. Max sprach gewählt, sehr überlegt und überzeugend. Es ließ sich schwer beschreiben, aber fühlen. Da war etwas Väterliches an ihm, etwas Beschützendes und zugleich Respekteinflößendes. Niemand, der mit ihm sprach, wäre auf die Idee gekommen, ihn zu duzen, obwohl das Du in der Familie sonst üblich war. Und keiner stellte das in Frage oder erhob einen Zweifel.



Als er sich kurz vor Mitternacht verabschiedete, blickten ihm die anderen ehrfürchtig hinterher.



»So etwas habe ich noch nie erlebt«, schwärmte Mia, während sie die Ärmel ihres Pullovers zurückschob. Sie hatte längere Zeit neben Max gesessen und war sehr aufgeregt.



»Schaut euch meine Arme an. Ich habe noch immer eine Gänsehaut. Ich schwöre euch: Als er neben mir saß, habe ich andauernd diese Gänsehaut gehabt.« Sie konnte sich vor Aufregung kaum beruhigen. »Das ist wie Zauberei, wie Magie! Sitzt einfach nur da, und ich bekomme eine Gänsehaut.«



»Jetzt krieg dich wieder ein«, meinte Fynn freundlich.



»Er ist eifersüchtig«, antwortete Mia und stieß Amanda mit den Fingerspitzen schmunzelnd in die Seite.



»Kaum schwärmen wir ein bisschen, wird er eifersüchtig.«



Alle lachten.



»Übrigens«, setzte Mia fort, »findet ihr nicht auch, dass er beinahe so aussieht wie Patrick Dempsey?«



Erneut brachen sie in Gelächter aus, während Fynn mit der Zunge schnalzte und ihr innerlich zustimmte, als er den Kopf schüttelte.



»Was mir aufgefallen ist«, sagte er dann, »habt ihr die goldene Anstecknadel von Birdhelp am Revers seines Anzugs gesehen? Und das goldbestickte Emblem der WNO? Ich habe vorhin gegoogelt. Ich meine, die World Nature Organisation vergibt dieses Emblem nur an ausgewählte Naturschützer, und es gibt weltweit lediglich 21 Menschen, die diese Auszeichnung bis jetzt erhalten haben. Also, ich glaube, das ist kein großer Fisch, das ist ein Hai, der die einflussreichsten Menschen der Welt kennt.«



»Ich spüre gerade, dass ich Teil von etwas Großem bin«, ergänzte Mia. »Dieser Mann wird unsere Familie berühmt machen. Bald wird sie jeder kennen. Davon bin ich überzeugt.«



»Oh, nicht schon wieder«, unterbrach sie Fynn. Und noch im selben Augenblick dachte er: Verdammt, sie hat recht.



Wie von selbst drang Max in das Zentrum der Familie vor. Manchmal war es beinahe unheimlich. Wenn er einen Raum betrat, der mit Menschen überfüllt war, wurde es plötzlich leise und die Köpfe drehten sich in seine Richtung. Von Anbeginn musste er nicht auf die Mitglieder der Familie zugehen, um ein Teil von ihnen zu werden, sondern die Mitglieder kamen auf ihn zu, um ein Teil von ihm zu werden. Sie fragten nach seinem Rat, nach einem Tipp, nach einer Strategie. Denn es bestand kein Zweifel: Ein Mensch, der zu jenen 21 Personen zählte, die von der World Nature Organisation mit der höchsten Auszeichnung bedacht worden war, die sie zu vergeben hatte, konnte nur kompetent sein.



Einige Wochen später traf sich der innere Zirkel der Familie in einem abgeschiedenen Landhaus. Der Eigentümer des Hauses zählte zu den großzügigen Spendern des Vereins und stellte es ihnen für ein Wochenende zur Verfügung. In dieser kleinen Runde wollte man Max die Gelegenheit geben, seine Visionen genauer zu erklären.



»Ich gebe zu«, sprach er mit einer bewusst leisen Stimme, was die anderen zu absoluter Stille zwang, »früher war ich ziemlich extrem. Als ich noch nicht so besonnen war wie heute, besetzte ich mit radikalen Freunden eine Jugendstilvilla, die für eine exklusive Wohnanlage geopfert werden sollte. Das konnten wir nicht zulassen, denn die Villa war von Otto Wagner, einem der berühmtesten Architekten aus der Zeit des Jugendstils, entworfen worden. Und wir wollten alles dafür tun, um diese wunderschöne Villa zu erhalten. Wir hatten uns mit Vorräten eingedeckt, die es uns ermöglichen sollten, das Gebäude monatelang zu besetzen und Widerstand zu leisten. In einem Raum, in dem sich ein offener Kamin befand, stapelten wir Brennholz, schleppten Paletten mit Reis, Nudeln und Mineralwasser an, denn fließendes Wasser gab es in dieser Villa nicht. Ja, wir konnten sogar eine Regionalzeitung für uns gewinnen, die über uns berichtete und unseren Mut und unsere Überzeugung lobte. Aber spätestens als wir eines Nachts um 4 Uhr in die grellen Scheinwerferaugen von Raupen, Baggern und Lastern blickten, kamen uns erste Zweifel, ob wir unser Ziel erreichen konnten. Als schließlich die Schlägertrupps mit ihren Knüppeln auftauchten, wussten wir, dass wir chancenlos waren. Noch am selben Nachmittag mussten wir tatenlos zusehen, wie ein Kran mit einer schweren Abrissbirne die Wände dieser wunderschönen Villa einriss. Das hat uns sehr traurig gemacht. Es war das klassische Scheitern von Schwachen und Unorganisierten. Wir fühlten uns wie die größten Verlierer aller Zeiten. Ja, das war eine harte Lektion, und sie lehrte mich etwas sehr Essenzielles: Ohne Seilschaften, Beziehungen und Kontakte wirst du immer und überall unterliegen. Es ist wie mit einem Papierschiffchen, mit dem man einen Ozean überqueren will. Man wird versagen und weiß es schon, bevor man den Hafen verlässt.

 



Ich lernte die Gesetze der Menschen und ich lernte sie gut. Später beriet ich Unternehmen, Politiker, Regierungen und Staatschefs, und meistens gelang es meinem Team und mir, die Meinungen und Ziele unserer Klienten erfolgreich zu vermitteln. Aber irgendwann drängte sich mir beim Umgang mit den Mächtigen dieser Welt ein immer größerer Unmut auf. Ihr herzloses Vorgehen gegen die Natur, ihre rücksichtslose Gier, die sie Regenwälder abholzen und für Uranabbaustätten riesige Wunden in die Landschaft schlagen lässt. Ganz zu schweigen von den radioaktiven Uranwolken, die dabei entstehen und Landstriche auf Jahrhunderte verseuchen. Ich empörte mich über den Klimawandel, das Abschmelzen der Polkappen, das Elend der Eisbären und musste erkennen, dass keine Botschaft, kein Aufschrei irgendetwas zum Guten veränderte. Ja, und dann saß ich eines Abends in einem Flugzeug von Frankfurt nach Bangkok. Ich las in einem Naturschutzmagazin einen Artikel über junge Menschen, die allein mit Spendengeldern ein Moor gerettet hatten, das schon seit Tausenden Jahren existiert. Das faszinierte mich. Ich las über die Erbschaft dieser Witwe, über den Zulauf an Menschen, denen die Natur wichtig ist und die wissen, dass der Planet dünnhäutig und sehr zerbrechlich geworden ist. In Gedanken musste ich euch sofort zustimmen. Wir müssen diesem Planeten wieder Kraft geben und ihn gesund machen. Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, machte ich mich sofort schlau, und wenig später stand ich bei euch in dieser Tennishalle. Ja, ich gebe es zu, ich habe große, kühne Visionen. Ich habe in den letzten Tagen viel über dieses Gebiet gelesen. Seine Strukturen, seine Umgebung, seine Bevölkerung. Das Naturschutzgebiet ist von insgesamt sechs Tälern umgeben. Und in jedem Tal fließen wunderbare Bäche und Flüsse. Ihr Wasser ist in den Unterläufen jedoch meistens so verunreinigt, dass nur die widerstandsfähigsten Lebewesen darin überleben können.« Max nahm einen Schluck Wasser und machte eine Gedankenpause. »Ja, eines Tages will ich ein Emblem auf meinen Revers heften, und auf diesem Emblem soll ein wichtiger Satz stehen: ›Das Schutzgebiet der sieben Täler‹. Ja, unser Schutzgebiet soll im Vergleich zu heute die siebenfache Größe erreichen. Das ist mein Ziel.«



Nils, eines der ersten Mitglieder der Familie, hob die Hand. Seine Rastalocken zitterten, als er schüchtern zu sprechen begann: »Max, ich möchte Sie etwas fragen. In diesen sechs Tälern befinden sich Dutzende Bauernhöfe mit Feldern, Wiesen, Äckern und Vieh. Das kann doch nicht einfach so verschwinden. Wie sollen wir so ein Ziel erreichen können? Ist das nicht ein wenig überzogen?«



Max lächelte. »Danke, das ist eine sehr wichtige Frage. Ich habe gerade von Visionen gesprochen. Die Schuhe von Visionen sind stets größer als die Schuhe, in die wir gerade passen.« Max nickte und setzte fort: »Wir allein entscheiden. Wir können an ein Ziel denken und versuchen, es zu erreichen, oder wir denken nicht daran und werden es nicht einmal theoretisch erreichen können, da es in unseren Gedanken keinen Platz dafür gibt. Es liegt an uns, Visionen Leben einzuhauchen. Allein an uns.«



Kaum hatte er den Satz beendet, applaudierte die Menge. Es schien, als wollten sie damit eines deutlich sagen: Mit Max kann das alles möglich werden. Und keiner widersprach.



Als Fynn und Amanda in dieser Nacht nebeneinander im Bett lagen, schüttelte Fynn auf einmal den Kopf. »Ich weiß nicht. Seine Ideen sind manchmal, wie soll ich es sagen …? Verrückt. Ich meine, das Schutzgebiet der sieben Täler. Das ist schon mehr als visionär. Weißt du, was ich gerade gedacht habe?«



Amanda verneinte.



»Vielleicht ist er nur ein ausgezeichneter Blender und zugleich ein Spinner. Vielleicht bläst er nur heiße Luft in unsere Köpfe, und wir merken es gar nicht. Und am Ende sitzt er irgendwo in einem stillen Salon, öffnet eine Flasche Champagner und stößt mit seinen Kumpanen auf unsere Naivität an.«



Amanda widersprach sofort: »Ja, er hat kühne Gedanken. Sehr kühne. Aber müssen wir diese kühnen Gedanken nicht denken, um die Welt zu retten? Wir stehen kurz vor dem Abgrund. Das spüren wir irgendwie doch alle. Die wenigsten tun allerdings etwas dagegen, stimmt’s? Wir sind es, Fynn, die vielen Menschen Mut machen und ihnen den Glauben vermitteln, dass wir diese Zerstörung abwenden können, und genau deshalb strömen sie zu uns, weil sie verzweifelt sind und wir ihnen Hoffnung geben. Wir haben eine große Verantwortung, und Max ist getragen von dieser Vision. Wenn ich in seiner Nähe bin, spüre ich diese ehrliche Kraft, die von ihm ausgeht. Das muss unser Ziel sein, eine saubere, schönere Welt, damit unsere Kinder einmal mit Stolz sagen können, unsere Eltern haben alles für diesen Planeten getan. Sie haben auf ihn Acht gegeben. Und übrigens«, flüsterte Amanda ihm zu, »will ich einmal ein Baby von dir.«



»Nur eins?«, fragte Fynn.



»Nein, natürlich mindestens ein Dutzend und ich finde, dass wir heute Nacht damit anfangen sollten, und wenn wir nur erst einmal ordentlich üben.«



»Ich glaube, da kann ich dir helfen.«




7. Kapitel



»Wir müssen noch einmal ganz von vorne beginnen«, erklärte Max in der nächsten Strategiesitzung. »Wir müssen unsere Abläufe optimieren und alles, was wir tun, bis ins kleinste Detail hinterfragen. Alle, die wie auch immer mit uns in Kontakt kommen, müssen eines ohne nachzudenken sofort und unmissverständlich wissen: Hier sind Experten am Werk. Die besten Experten, die es in ihrem Fach gibt.«



Die 300 Teilnehmer der Sitzung waren verblüfft. Sie hatten bis jetzt doch alles richtig gemacht. Der Verein hatte letzte Woche das 10.000. Mitglied aufgenommen. Das Gebiet war vergrößert worden, zwar nur um einige Hektar, aber es war größer als zuvor, und die Spenden flossen regelmäßig und in so hohen Beträgen, dass ihre Rücklagen stetig anwuchsen.



Max lächelte väterlich. »Ich verstehe euer Misstrauen. Aber lasst es mich euch genauer erklären.« Auf einem Bildschirm über ihm erschien das Logo der Familie, die Zeichnung der lächelnden Gelbbauchunke. »Als ich das Logo zum ersten Mal sah, war mein Gedanke: recht ordentlich. Aber Logos dieser Art gibt es Dutzende Male. Ich habe Experten kontaktiert, herausragende Künstler, und bin auf Jorgo Blanko gestoßen. Einige von euch kennen ihn vielleicht. Er hat einmal eine kleine rosarote quadratische Leinwand ausgestellt – ich glaube, es war in New York –, und bei der Pressekonferenz erklärte er sie zu seinem Lebenswerk. Das fragende Staunen und Achselzucken der Betrachter quittierte er mit seiner bekannt schroffen Art. ›Wer darauf nichts sieht, ist zu dumm für meine Kunst, und wer zu dumm für meine Kunst ist, wird dieses Bild und meine Kunst niemals verstehen.‹ Jorgo Blanko hat unsere Unke adaptiert.«



Ein Bild erschien auf dem Screen. Ein staunendes Oh ging durch die Menge. In fotorealistischer Brillanz war eine Unke abgebildet, aber trotzdem glich das Bild keinem Foto, denn hauchzarte schimmernde Linien und Netzstrukturen verliehen ihm etwas Surreales. Ja, es war noch immer die lächelnde Gelbbauchunke mit ihren Schwimmfüßen, aber gleichzeitig war es vollkommen neu. Unter dem Bild stand in türkiser Farbe ein Wort: »Change«.



Die Teilnehmer applaudierten spontan. Die meisten erhoben sich, einige riefen »Bravo« und pfiffen enthusiastisch.



»So meine ich das«, erklärte Max. »Alles hinterfragen, neu denken und verbessern, falls sich Verbesserungsmöglichkeiten ergeben. Wenn wir Vorreiter für eine bessere Zukunft sein wollen, müssen wir anders sein als die Masse, und wir müssen vor allem eines sein: authentisch. Echt, zu 100 Prozent echt. Wir müssen konsequent und streng zu uns selbst sein. Wir dürfen keine Halbheiten in uns zulassen. Keine Kompromisse, die uns angreifbar machen. Wer von euch besitzt oder fährt regelmäßig ein benzinbetriebenes Fahrzeug?«, fragte er ohne Übergang.



80, 90 Prozent der Teilnehmer hoben die Hände.



»Danke. Ein Auto stößt im Schnitt 190 Gramm CO2 aus. Pro Kilometer. Das ist eine enorme Menge. Vom Einfluss der Treibhausgase wie CO2 auf das Weltklima weiß heute jedes Kind. Von Spinnern, die solche Zusammenhänge leugnen, reden wir nicht. – Wie wollen wir Kritikern erklären, dass wir die Natur schützen und achten, wenn wir mit unseren Fahrzeugen und ihrem CO2-Ausstoß gleichzeitig dazu beitragen, das Weltklima zu bedrohen oder gar zu zerstören? Das wird uns niemand glauben, und es wird uns zu Recht niemand glauben, weil es verlogen ist. Unsere Visionen erfordern Mut, aber auch Opfer. Wenn wir wirklich überzeugen wollen, müssen wir unsere Überzeugungen auch leben. Wisst ihr was? Letzte Woche habe ich meinen heißgeliebten Volvo 424 verkauft. Mein Plädoyer für eine bessere Zukunft lautet – und ich möchte, dass wir noch heute darüber abstimmen: Innerhalb eines halben Jahres soll sämtlichen Mitgliedern der Familie die Verwendung von kraftstoffbetriebenen Fortbewegungsmitteln verboten werden. Erlaubt sind nur noch E-Mobile, öffentliche Verkehrsmittel und Greenmachines, also Fahrräder.«



Vereinzelt ging ein Raunen durch die Menge.



Max nickte. »Ich frage mich manchmal eines: Was erzählen wir unseren Enkelkindern und Nachfahren, wenn sie einer zerstörten Welt gegenüberstehen und uns fragen: ›Was habt ihr damals gegen den Klimawandel und gegen die Zerstörung der Umwelt getan?‹ Was werden wir ihnen antworten? ›Ach, Liebes, weißt du, wir haben unsere Wagen damals dringend gebraucht, um unsere Kleinen in den Kindergarten und in die Schule zu bringen. Der Weg zur Schule war immerhin einen Kilometer lang, und dann mussten wir ja auch noch einkaufen. Die Supermärkte und Shoppingcenter waren weit entfernt. Wie hätten wir unsere Besorgungen nach Hause bringen sollen? Die Kisten mit Mineralwasser, Fruchtsäften und Bier und die Kohle für den Grill im Garten?‹ Werden wir ihnen das so sagen können? Und werden sie Verständnis für uns haben oder werden sie die Stirn runzeln und die Köpfe schütteln? Wir haben die Wahl. Wir können mickrige Mitläufer bleiben oder ein Vorbild für viele und Verantwortung für diese Welt übernehmen. Ich überlasse diese Entscheidung allein eurem Gewissen.«



Die Abstimmung war eindeutig. 97 Prozent entschieden sich dafür, innerhalb eines halben Jahres kein kraftstoffbetriebenes Fahrzeug mehr zu verwenden. Auf fast allen Gesichtern zeigten sich nach der Abstimmung Zeichen von Erleichterung. Endlich hatten sie es getan. Endlich hatten sie den richtigen Weg eingeschlagen, der wirklich etwas zum Guten veränderte.



»Danke«, sagte Max. »Die Menschen da draußen müssen überzeugt sein, dass wir es mit unserem Einsatz für die Natur verdammt ernst meinen. Und sie müssen wissen, dass die Natur für uns oberste Priorität hat. Aber niemand soll unsere Überzeugung mit Fanatismus verwechseln. Denn das, was wir ihnen vorleben, ist einzig und allein Ausdruck für restlose Ehrlichkeit und für den Willen, unsere Umwelt zu retten. So sollen und werden es die Menschen dort draußen auch bald verstehen – und ich garantiere euch eines: Sie werden uns glauben.«



In den folgenden Wochen und Monaten wurde die Familie von einem wahren Tatenrausch erfasst. Man sah ihre Mitglieder beinahe überall. Sie bevölkerten Fußgängerzonen, Parks und Einkaufszentren. Sie verteilten Flyer, Sticker, Wimpel und Fähnchen.



Einige Aktivisten der Familie platzierten vor der Einfahrt eines Autobahntunnels ein Transparent, auf dem stand: »Weshalb verschmutzt du die Umwelt?« Mit Schablonen wurden Graffiti der Gelbbauchunke an Wände gesprüht und daneben Sätze wie »Natur zuerst«, »Change« oder »Du bist nicht mehr allein«.



Die Mitgliederzahlen stiegen in den folgenden Monaten rasant an und lagen bald bei über 17.000. Die Spenden nahmen zu, und heimische Fernsehsender berichteten von den führenden Mitgliedern der Familie wie über Popstars.



In einer geheimen Sitzung verteilte Max an radikale Mitglieder der Familie Listen, auf denen Automobilmarken angeführt waren und in absteigender Reihenfolge ihr Treibstoffverbrauch auf 100 Kilometer. Einige Tage später sah man in den großen Städten des Landes Wagen, deren Seiten- oder Windschutzscheiben mit Sprüchen in grell­oranger Farbe besprüht waren, die Auskunft über den Benzinverbrauch des jeweiligen Wagens gaben. »12 Liter auf 100 Kilometer – mir doch egal.« Oder »14 Liter auf 100 Kilometer – liebe Natur, ich kann mir das leisten«. Und: »Ich habe es eilig!« Oder »15 Liter auf 100 Kilometer. Ich bin ein Verbrecher, aber keiner weiß es«.

 



Aktivisten, die bei ihren Taten ertappt wurden, leugneten einen Bezug zur Familie zu haben, und die Familie selbst leugnete ein Naheverhältnis zu den Tätern ebenfalls. Ja, sie verurteilte diese Aktionen sogar öffentlich.



Als Fynn und Amanda die ersten besprühten Autos sahen, fanden sie, dass einige Mitglieder der Familie in ihrem Fundamentalismus zu weit gingen. Sie waren entrüstet, als sie später von Gerüchten er

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