Die Begabten

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Da merkte sie es.

Vielleicht hätte sie sich flach auf den Boden werfen und wie eine Schlange davonwinden können. Doch sie war nicht im Mindesten darauf vorbereitet, als die Tür aufflog und der größte Mann, den sie je gesehen hatte, stolpernd und torkelnd ihr entgegenwankte. Mit einem Stöhnen und Keuchen und einem entsetzlichen, heiseren gurgelnden Laut war der Riese bei ihr, an ihr vorbei und ließ die Hose runter.

Sonia schnürte es die Kehle zu.

Der gewaltige Mann war groß wie breit, trug eine buntgescheckte Weste und hatte den wohl längsten Bart, den sie je gesehen hatte. Während sie sich eiligst von ihm wegbewegte, floss ein Urinstrahl in die Dunkelheit, während der Riese mit der anderen Hand eine Flasche an den Mund führte. Vergessen war das leckere Essen oder die Aussicht auf Wärme und Behaglichkeit! Das war zu viel für sie! Sie stolperte, wankte und fiel schmerzhaft auf den Boden während der Riese abschüttelte, die Hose zuknöpfte und zu jemanden sprach, den sie nicht sehen konnte. „Du hast unrecht!“, dröhnte die Stimme, die wie ein ungeöltes Scharnier knarrte. „Du bist doch bescheuert, wenn du meinst, dass die Asen an allem schuld sind. Ich sage, dass das die Hexen waren und die Elfen. Oder alle zusammen. Gib nichts auf die Zwerge! Verdammtes Magierpack, das sind sie! Kann doch jeder sehen, das! Verdienen nicht die Luft zum Atmen. Verdammte Brut! Werde mich nicht mit einem Vogel herumschlagen, der nicht mal einen Becher halten kann.“ Er furzte laut und grinste dümmlich.

Zur Sonias Überraschung tönte es aus der Dunkelheit: „Wenn du mich beleidigen willst…“

Der betrunkene Tölpel schlug gegen den Eisenkäfig und etwas zappelte darin aufgebracht, was Sonia nicht in den richtigen Kontext brachte. Mit wem unterhielt sich der Riese? Wankend wandte sich der riesige Mann ihr zu aber schien sie nicht zu bemerken, sondern griff nach eine der Flaschen, entkorkte sie mit den Zähnen und sog die Flüssigkeit gierig in sich hinein.

Und wieder die Stimme aus dem Dunkel. „Langsam, Großer. Nach vier Flaschen wirst du schläfrig. Schon vergessen?“

Der Riese torkelte umher und geriet immer mehr in Raserei, während er versuchte die richtigen Worte in seinen Sätzen zu formulieren. Dabei trat er zweimal beinahe auf Sonia, die mit anhaltendem Atem versuchte nicht zertreten zu werden. „Du Scheißvogel bist nur am Reden“, ächzte der Kerl und eine üble Fahne strich Sonia entgegen, als er an ihr vorbeiwankte. Jetzt war der ganze Wald sein Publikum und der würde keine Widerworte geben. „Morgens, mittags und abends. Wenn ich mal etwas sagen will, dann redest du nur und verbesserst mich. Schau Lukas, da fehlt ein Komma! Schau Lukas, eine Bachstelze! Kennst du den Unterschied zwischen einer Bachstelze und einem Habicht? Was ist der Unterschied zwischen einem Sekretär und einer Krähe? Ich sage dir, was der Unterschied ist: der eine ist aus Holz und der andere bald tot. Das ist der Unterschied. Ich pisse auf deine Weisheiten, du undankbarer Vogel.“ Er rülpste, holte aus und schlug mit Wucht gegen einen ausgetrockneten Baum, dass die Äste anfingen zu wackeln. Er schnappte sich noch eine Flasche, entkorkte sie und wandte sich um… und verharrte.

Glotzte unsicher Sonia an, die sich versuchte noch kleiner zu machen. Alles in ihr drängte sie darauf, fortzulaufen, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Doch diesmal kam ihr der Mann zuvor, indem er folgendes sagte: „Heh, du bist voll hässlich, Kind.“

Sprach es, verdrehte die Augen und fiel rücklings um.

Die Erde erbebte, und kurze Zeit später hörte sie ihn schnarchen als würden Männer aus Mooswald ein Wäldchen mit ihren Sägen abholzen.

„Ich glaube, der steht nicht mehr auf“, sagte jemand leise und mit einem Glucksen.

Sonia blickte aus großen Augen auf den umgefallenen Mann und verharrte neben einer Kiste. Alkohol brachte Leute dazu, ungehobelte Barbaren zu werden. Das hatte sie schon oft gesehen. Zittrig und etwas außer Atem richtete sie sich auf und trat langsam näher heran. Dort lag der Mann: mit dümmlichen Grinsen im Gesicht schien er tief zu schlafen. Sonia hatte nicht vor ihn aufzuwecken.

Und wieder die Stimme: „Du kannst jetzt sein Essen haben, aber zuvor wäre ich dir unendlich dankbar, wenn du mich aus dem Käfig befreien würdest. Würdest du das tun?“

Sonia traute ihren Augen kaum. Da war nichts. Nichts neben dem Wagen, nichts im Wald und nichts neben ihr…

„Im Käfig.“

Langsam hob sie den Blick. Es war ein kleiner Käfig. Hockte dort etwa ein Gnom? Nein, es war eine Krähe. Eine schwerfällige Krähe mit dichtem Gefieder und langem Schnabel. Kluge schwarze Knopfaugen blickten ihr entgegen, als sie mit offenem Mund entgegentrat. „Du darfst jetzt nicht schreien…“

Sonia schrie und sprang zurück.

Die Krähe legte den Kopf zur Seite. Sie öffnete nicht den Schnabel beim Sprechen. Die Stimme kam woanders her. „Und du schreist doch. Hör mal, wir können das alles abkürzen und zum Wesentlichen kommen. Ich bin ein verzauberter Mensch. Zufrieden? Kein Dämon. Kein Geist.“

„Teufelswerk“, hauchte Sonia fassungslos und bekreuzigte sich, wie es ihr mal ein Templer gezeigt hatte. „Ich beschwöre dich, Geist, fahre zurück in deine Sphäre…“

„Würde ich ja gerne. Würdest du mir den Käfig aufmachen?“

„Ich helfe keinem Dämonen.“

„Ich bin kein Dämon. Pass auf“, sie räusperte sich kurz und putzte sich das Gefieder. „wir machen das so: du scheinst Hunger zu haben. Mein Freund Lukas steht heute nicht mehr auf. Warum isst du nichts von seinem Essen? Er ist eh zu fett und jetzt viel zu betrunken. Während du isst, erzähle ich dir eine Geschichte. Mit vollem Bauch kannst du dann immer noch entscheiden, ob du mich freilässt.“

„Eine Geschichte“, krächzte das Mädchen leise und starrte zu den Würstchen in der Pfanne, die einen betörenden Duft verströmten. Der Magen knurrte zur Antwort.

Langsam hielt sie es nicht mehr aus, schnappte sich Brot, Butter und Messer und machte sich daran, zu essen. Die Würstchen waren von erlesener Qualität, das Brot frisch und die geröstete Schicht rauchig und lecker. Sie mampfte, schluckte und nahm sich kaum Zeit zu kauen.

Ein Hochgefühl.

Die Krähe starrte zufrieden zu ihr herunter. „Versuch die Würstchen. Von einem Händler aus Mooswald. Der Schlachter garantierte uns, dass das Fleisch so frisch sei, dass man das Entsetzen des Schweins noch schmecken kann.“

Sonia runzelte die Stirn und starrte zu ihm herüber. „Das ist eklig. Das arme Tier.“

„Ich rede gerne. Du musst entschuldigen.“ Die Krähe schien die Schultern zucken zu wollen, was aber anhand der fehlenden Anatomie schwerfiel. Sonia schnappte sich eines der Würstchen und hätte sich fast verbrannt. Das heiße Öl brannte in ihrer Kehle, aber der Geschmack war unbeschreiblich. „Da ist ein Krug mit Wasser“, hörte sie sie sagen. „Lass dir Zeit. Wir haben viel Geld verdient. Die Leute bezahlen viel für Kamile, die sprechende Krähe und Lukas, den stärksten Riesen. Aber ich fürchte, unsere Partnerschaft endet wegen verschiedener Differenzen. Anfangs hatten wir viel Spaß… jetzt gehen wir uns nur noch auf die Nerven.“

„Aha.“ Sie kaute auf dem Brot und fühlte sich neben dem Feuer sicher und bald gesättigt. Es konnte nicht schaden, sich unterhalten zu lassen. „Wer bist du?“

Der Krähe starrte sie prüfend an.

„Lukas, der Riese“, meinte die Krähe lakonisch und krächzte heiser. „Mein Name ist Kamile, früher hieß ich Prinzessin Lfayette aus dem Hause Aldigisl. Ich kenne jeden einzelnen Winkel in dieser Welt, kenne jeden Vertrag, der zwischen Göttern und Menschen geschlossen wurde und bin bewandert in allen Geheimnissen der Alchemie, Astrologie und der Magie. Ich blicke auf vierhundert Jahre Forschung und Wissenschaft zurück und gelte als das klügste Geschöpf in dieser Welt. Ich kenne die Antwort auf all deine Fragen.“

Ein weiblicher Krähe, dachte Sonia. Eine Prinzessin..?

Sonia behielt sie im Auge und mampfte weiter. „Warum bist du…so?“

Die Krähe breitete ihre Flügel aus. „Früher war ich eine Gelehrte, die im Auftrag der Götter Botschaften überbrachte. Die uralten Erinnerungen werden mit jedem Augenblick, der verstreicht, klarer. Wir folgen demselben Pfad, den die legendären Helden beschritten haben. Ich diente Anequinnius, dem Sendboten. Danach Salan-Hirin, der Weise der Sonne und Khassandra, die Liebende. Wir hatten uns lieb, es war eine Eintracht zwischen uns die du dir nicht vorstellen kannst. Diese Göttin war so bezaubernd schön und so rein, dass mir noch immer die Tränen kommen. Sie verbündete sich mit der Ewigkeit und nahm ihren Platz im Götterhimmel ein. Man brauchte keinen Menschen mehr. Also… habe ich mich in eine Krähe verwandelt.“

„Warum?“

„Nun“, die Krähe krächzte leise und scharrte mit dem Schnabel am Gatter. „ich war verliebt in Khassandra und dank meines Intellekts und meines Wissen erforschte ich die Geheimnisse der Alchemie so weit, dass ich einen Trank braute, um mich zu verwandeln und ihr nachzufliegen. Ich wollte ins Tal der Götter reisen und sie ein letztes Mal sehen. Oh, schaumgeborene Tochter des Schicksals, du süße… naja, hat geklappt. Wie du siehst.“

„Und dann?“

„Bin ich zurückgeflogen.“

„Und dann?“

Die Krähe antwortete nicht sofort. Sie druckste herum, bis sie es nicht mehr aushielt: „Gut, na schön, ich habe einen Fehler gemacht, ja?“ Aufgeregt wedelte die Krähe mit ihren Flügeln herum, dass der ganze Käfig wackelte. „Ich hatte das Gegenmittel als Lösung zubereitet. Aber die Sonne schien darauf und die Flasche war nicht zugestöpselt… kann doch passieren… du lachst… warum lachst du!?“

Sonia kicherte vergnügt und wischte sich Krümel aus dem Mund. „Du bist lustig!“

Die Krähe sah sie prüfend an. „Heute Abend haben die Götter einen Wirbel des Zufalls erzeugt. Du bist nicht ohne Grund hier, wie ich feststelle. Wie ist dein Name, Kind?“

 

„Sonia, Tochter von Annegret und Raphael Stolzenheim.“

„Sag, Sonia, warten nicht deine Eltern auf dich zuhause?“ Die Krähe beugte sich vor und maß sie mit einem fragenden Blick. „Sie werden sich wundern, wo du bist. Buchenwald ist nicht so sicher, wie es scheint.“

Sie straffte sich und beugte den Kopf. „Sie… starben vor einem Winter bei einem Brand. Seitdem bin ich bei meinem Onkel und meiner Tante. Ich soll für sie Rotfarnkraut suchen.“ Sie erzählte den Rest der ganzen Geschichte und beantwortete alle Fragen des Krähen.

„Das tut mir leid, Sonia. Wenn es dich erheitert, erzähle ich dir eine Geschichte. Magst du Geschichten?“

„Ja, sehr.“

„Ich erzähle sie dir, wenn du mich rauslässt. Das ist versprochen. Willst du mir helfen?“ Sie beugte sich vor und schwarze Knopfaugen starrten sie erwartungsvoll aus den Gittergefängnis an.

Sonia sah keinen Grund, ihr zu misstrauen. Schnell war der Käfig geöffnet und der Vogel flog eine kleine Runde und setzte sich dann auf eine Kiste nahe des Feuers. „Ich kann dich gut leiden, Sonia. Bereit für deine Geschichte?“

Das Feuer prasselte laut, als sie noch einen Scheit nachlegte. Ab und zu knurrte und stöhnte Jakob, der Riese im Hintergrund, aber niemand achtete auf ihn.

Und die Krähe erzählte…

Die Legenden berichten, dass das Land Haven frei und jedermann zugänglich war. Man erzählt sich, dass früher alle freien Menschen in großer Eintracht unter dem guten König und seiner Königin lebten und dass es überall auf den Straßen im Land nichts zu befürchten gab. Sicher, von Zeit zu Zeit schwärmten ein paar hungrige Trolle durch die Gegenden und man war gut daran getan, wenn man ein scharfes Schwert bei sich trug, doch solche Zwischenfälle waren eher sehr selten. In jenen Tagen boten viele Kaufleute ihre Waren vom Pferderücken aus an und die Reichsstraße führte durch alle Länder dieser Welt, so dass die Menschen ihre Kulturen und ihr Wissen miteinander austauschen konnten. Wanderschauspieler, Spielleute und Akrobaten zogen zu den zahlreichen Märkten und Volksfesten, Abenteurer traten auf dieser Straße ihre Reise in fremde Länder an und in jenen Tagen war die Erde wild und gut. Damals waren die Tiere und Pflanzen auf eine Art miteinander verbunden, wie sie kein Sterblicher je begreifen kann. Die Elfen –jenes fast vergessene Volk, das dieses Land einst besiedelte – lebten in Eintracht mit den Orks und den Menschen. Über Generationen hinweg hatten die Könige der Menschen den Frieden gesichert, und dieser König und seine Königin bildeten keine Ausnahme. Nicht durch Erlasse, sondern durch weises Lenken der Menschen, so dass Streitigkeiten schnell geschlichtet wurden. Alle, die im Reich ankamen, wurden bestärkt, ihre Gewohnheiten und Bräuche beizubehalten. So wurde Haven ein wundersamer Schmelztiegel der Unterschiede. Moormenschen vermischten sich mit Hochländern, Seefahrer mit den wilden Lycanthen, Waldbewohner mit Bergbewohner. Kinder, die damals in jener Zeit aufwuchsen, waren umgeben von einem bunten Farbengemisch. Die unendlich vielen verschiedenen Speisen, Gewürze, Fertigkeiten in Handwerk und Kunst kannst du dir gar nicht vorstellen! Das alles wuchs zur Stärke des Reiches bei! Der junge König war schön und gut und ein würdiger Gefährte. Er war der Prinz aus dem nördlichen Kaiserreich und der zweite in der Thronfolge. Er vereinigte in sich alle Tugenden des königlichen Hauses – Mut, Güte, Großzügigkeit, Geduld. Er sah gut aus mit seiner königlichen Haltung und dem breiten offenen Gesicht. Die Königin war groß und stolz, besaß eine ungewöhnliche Ausstrahlung und Schönheit, so rein wie ein stiller Teich. Ihre Tugenden standen den seinen in nichts nach, sie glich ihm an Erhabenheit und sie war die einzige Tochter des einzigen Königs der Menschen. Stell sie dir vor, wie sie beide bei Festlichkeiten auf ihren weißen Rössern durch die Menge ritten, absaßen, um zu Fuß weiter zu schlendern und mit den Leuten zu feiern, ihre Speisen zu segnen und bei Spielen und Wettkämpfen mit ihnen zu lachen! Es war eine perfekte Verbindung und schnell wurde jedem klar, dass aus ihrer Liaison eine fruchtbare Herrschaft hervorgehen würde – eine weise und gute Regentschaft. Als ihre Verlobung bekanntgegeben wurde, welche Feste wurden überall gefeiert. Das nördliche Königreich der Orks freute sich ebenso wie das östliche Königreich der Elfen, denn alle Herrscher waren zu der Zeit gleichgestellt und sie alle zeichneten sich dadurch aus, dass sie die Ruhe in ihren Landen durch weises Lenken sicherten. Natürlich starben damals schon Menschen, aber zu jener Zeit war uns klarer, dass alles wiedergeboren wurde. Ihr Schloss wurde über und über mit Fahnen und Blumen geschmückt. Die breite Straße war mit Blüten übersäht. Aus allen Teilen der Reiche kamen Menschen herbeigeströmt, um Segenswünsche und Geschenke darzubringen. Die Ehe war glücklich, ihre Tochter war liebreizend, bei bester Gesundheit und bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr eine Freude für alle…

Aber es sollte nicht sollen sein.

Alle Zauberer der Menschen, alle Elfen und sogar die Orks spürten eine Veränderung aufziehen. Die Reiche veränderten sich nicht; sicher, es gab mal Krieg mit den Trollen im nördlichen Kaiserreich und auch im Osten gab es Landplagen wie die blutsaugenden Nachtgierer, aber es gab viele Helden, die sich darum kümmerten. Und die Orks, die nichts mehr so verehren wie einen guten Kampf gegen ein Monster! Alle Zauberer aller Schattierungen aus allen Teilen dieser Welt spürten, was geschah. Sie spürten die Bestürzung und Hilflosigkeit und die schlimmen Ahnungen unter ihresgleichen.

Der König der Menschen hieß Buri und er war, wie eben berichtet, die Sanftmut und Erhabenheit in Person. Aber man unterwies seinen Enkel Boltek früh in das Große Mysterium, das ewig und voller Geheimnisse ist und jeder, der sich darin bewegt, muss genau erkennen, was gut und was böse ist. Bolteks Weg führte ihn tief an die Grenzen des Großen Mysteriums und anfangs waren ihm Grenzen durch das Gewissen gesetzt, an die er sich strickt hielt. Aber eines Tages fing er an sich zu fragen, ob ewig Frieden herrschen würde, und wenn nicht, ob er sein Land beschützen konnte. Die Bande zwischen den Neun Ländern waren stabil, aber was, wenn…

Boltek schloss sich lange in sein Studierzimmer ein und studierte immer länger die alten Schriften. Er spielte mit seinen Söhnen, er regierte mit seiner Frau und er kam seinen Pflichten nach, aber immer mehr ließ ihn der Gedanke nicht los, dass etwas nicht stimmte. Er wurde still und verstand es lange seine Ziele vor den Seinen zu verbergen, bis es zu spät war, bis er die Grenzen der Kontrolle überschritten hatte. Es gibt Magier, die die Selbstbeherrschung abschütteln; sie gieren nach Macht wie ein Verdurstender in der Wüste nach Wasser und werden eine Gefahr für andere. Schon oft hörte man von Dunklen Magiern, die von Helden in ihrem Treiben gestellt und zur Rechenschaft gezogen wurden. Boltek sah sich selbst nicht als böse an und verschleierte seine Pläne gut – bis alles zu spät war. Boltek vernachlässigte nach und nach alles und selbst seine Familie wurde ihm eines Tages nur noch eine Last. Wo einst Fröhlichkeit und Lachen geherrscht hatten, gab es jetzt nur noch Düsternis und Trauer. Sobald Buri und sein Vater Bor gestorben waren, ging die Krone an ihn über und Bolteks größte Furcht war die Schwächung seines Reiches. Boltek war sich sicher, dass die anderen Völker von Haven die Menschen eines Tages angreifen würden – also scharrte er eine Armee um sich und führte Kampagnen gegen die Reiche durch. Die Menschen führten Krieg gegen alle Völker, und er verbreitete Angst und Schrecken… bis heute!

Eine Scharr Unzufriedener, die vor allem nach Macht streben und Zugang zur Dunkler Magie haben, können viel bewirken, … wenn sie im Geheimen arbeiten. Weit ab vor den Augen der Rechtschaffenden und fern von Licht und Harmonie beschworen sie uralte Kräfte und handelten Verträge aus… tief im Geheimen an einem Ort, der auf keiner Karte verzeichnet war, denn Licht und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung waren hier nicht willkommen. Alle Türen waren mit schweren strohgefüllten Säcken gepolstert. Nicht einmal Geräusche sollten nach draußen geraten…“

„Moment. Warst du dort?“, unterbrach Sonia sie mit glühenden Wangen.

„Nein.“

„Du erzählst so anders…“

„Es ist meine Geschichte. Ich erzähle sie so, wie ich es meine. Also lass mich.“

„Verzeihung.“

„Schon gut.“ Kamile räusperte sich leise. „Der Boden, auf dem die Verschwörer Böses planten und durchführten, war dunkel und klebrig. Boltek selbst sehnte sich nach grenzenloser Macht, aber noch mehr fürchtet er Verrat und Tod. Er schloss düstere Pakte mit Kräften, die man am besten meiden sollte. Es folgte die Nacht der Blitze! Der Krieg der Kriege. Orks gegen Elben, Elben gegen Menschen und Menschen gegen Orks. Und das war erst der Anfang!“

„Wie schrecklich“, hauchte Sonia leise und schlang ihre Arme fester um ihren Körper.

„Fürwahr“, bestätigte der Vogel und nickte. „Er streifte jegliche Verstellung ab und entfaltete seine verderbliche Macht. Kinder wurden krank. Tiere verendeten. Das Getreide welkte und ging ein. Die Gefolgsleute litten Qualen. Bizarre und abstoßende Wesen krochen aus den Höhlen und überfielen Höfe. Sie waren Wesen, wie sie nur ein vollkommen verderbter Wille ins Leben rufen kann. Die Banditen der ganzen Welt, die bislang in den anderen Reichen die Strafen der Justiz fürchten mussten, verstanden schnell dass die Reiche schwer erschüttert waren, und sobald trieben sie ihr unseliges Treiben. Horden von Halsabschneidern, Schmuggler, Dieben und Mördern machten die Straßen unsicher, denn die Armee sucht bis heute nach Feinden, die ihrem König schaden könnten.

Nach zehn Jahren Krieg, keine Seite hatte etwas Gutes bewirkt, war die Nacht der Blitze schließlich vorbei. Die Orks begaben sich in den Norden zurück und die Elben verschwanden im Osten, um die Menschen und die Orks gleichermaßen zu meiden. Seitdem herrscht Friede, aber der Feind kann jederzeit wieder erstarken und diesmal wird es endgültig sein“, raunte der Krähe und putzte sich kurz das Gefieder, bevor er fortfuhr: „Wir können sagen, dass Boltek schließlich verstarb, ohne Erben und ohne Thronfolge. Die Menschen im Süden begannen einen Krieg, der nur für Chaos und Leid gesorgt hat– das Land, das herrscherlos von Banditen und Monstern bevölkert ist. Wir sind verloren, Sonia. Und allein.“

Sonia schluckte.

Ein milder Regen setzte ein. Warme Tropfen aus einer Wolkenfront, die aus dem Osten gekommen war, benetzten den schlafenden Jakob, den Wagen und trommelten leise auf den Blättern der Bäume. Er hielt die ganze Nacht über an, befeuchtete in leiser Verschwörung die frisch bestellten Felder und flüsterte Verheißungen in die Ohren der beiden so unterschiedlichen Geschöpfe.

Das Feuer knackte leise, die Flamme wurde kleiner. Der Krähe flog zu einer Kiste und tippte mit dem Schnabel darauf. „Hier ist eine flauschige Decke, Sonia. Du solltest schlafen.“

Siedend heiß fielen ihr Llug und Olg ein. Sie zitterte bei dem Gedanken an Strafe. „Ich kann nicht. Ich muss das Kraut suchen. Sonst bekomme ich großen Ärger.“

Die Krähe war nicht zufrieden. „Das sind ja schöne Verwandte! Schicken ein kleines Mädchen in den dunklen Wald. Du solltest fliehen, Sonia. Weg von denen!“

„Sie würden mich finden“, hauchte sie tonlos und zog die Knie noch näher an ihren Körper.

„Ich weiß, wo das Kraut ist. Ist nicht schwer zu finden“, sagte Kamile und flog einen Bogen um Sonia herum. „Ich denke, ich kann noch etwas bei dir bleiben. Wenn es dir so wichtig ist, dann zeige ich dir den Weg.“

Sie nickte dankbar und stand auf. Noch immer schnarchte der gewaltige Jakob und würde wohl noch bis zum Morgengrauen weiter schlafen. „Was machen wir mit ihm?“

„Er ist ein Riese. Die sind unverwüstlich. Lass ihn einfach. Hier trennen sich meine und seine Wege.“ Die Krähe flog auf Sonias Schulter und versuchte bei ihrer Landung nicht herunterzufallen. „Ich hätte mich gerne nochmal von ihm verabschiedet, aber er war es auch, der mich in den Käfig sperrte. Egal, siehst du den umgestürzten Baum dort hinten? Gehe weiter und dann bis zur Lichtung.“

Es war eine ideale Nacht. Wolken verdeckten den abnehmenden Mond, und mit Kamiles Hilfe kamen sie schnell und sicher voran. Das Rotfarnkraut war schnell gefunden und Sonia sammelte so viel, wie sie tragen konnte. Damit war ihr Auftrag erfüllt. Auf dem Heimweg flog der Krähe voraus und hielt nach möglichen Gefahren Ausschau. Einmal trottete ein riesiger Oger stampfend über ihren Weg, aber Kamile warnte sie rechtzeitig, so dass sie durch eine hinter Büschen verborgene Spalte zwischen den Felsen kriechen und unbemerkt vorbeischleichen konnte. Der Oger war grünhäutig, voller Schlamm und verfaulenden Ästen und labte sich an dem Kadaver einer Kuh. Nicht auszudenken, wenn er sie bemerkt hätte.

 

„Ich würde gern ein Wörtchen mit deinem Onkel wechseln“, zischte Kamile aufgebracht, als sie sich weiter entfernt hatten. „Ist er zugänglich für Kritik?“

„Lass es lieber. Ich glaube nicht.“

„Wir werden sehen. Da ist schon die Taverne. Oh, welch angenehmes Amüsement. Und das Ambiente… ein Hort der Freiheit und des Verweilens, wenn man nach getaner Arbeit die Füße hochstrecken will. Die Speisekarte ist bestimmt reich an Genüssen, die dem Gaumen schmeicheln. Und rieche ich da Dung? Menschendung? Fürwahr, das nennt man … weiß ich auch nicht. Mir fehlen die Worte.“ Die Krähe schüttelte aufgebracht ihr Gefieder.

Sonia beeilte sich zur Küchentür zu kommen, wurde aber von Kamile aufgehalten. „Höre Sonia. Das ist falsch, sage ich. Wir sollten uns Gedanken um deine Zukunft machen. Überall ist es besser als hier. Du hast Besseres verdient. Dort draußen wartet eine Welt voller Abenteuer und Gelegenheiten. Ich weise dir den Weg zu den reichsten Tafeln der Königshäuser, ich kenne Magier und Gelehrte, die dir das Tor zur Erkenntnis aufstoßen und wenn ich erstmal von der Schönheit der Frauen anfange…“ Sie unterbrach sich. „Nein, das interessiert dich nicht.“

„Was ist das für einen Lärm“, brüllte jemand von drinnen und sofort wurde eine Tür aufgestoßen. Es war ihr Onkel Llug und er wirkte nicht glücklich. Sonia zuckte zusammen aber hielt das Kraut in ihren Händen tapfer. Llug nickte stumm und gebot ihr einzutreten. „Mit wem hast du geredet? Da ist niemand.“

„Mit niemanden, Onkel.“ Unsanft wurde sie nach vorne gestoßen.

„Dummes Kind“, grummelte er leise. „Redet mit sich selbst! Aber das Kraut hast du wenigstens.“

Olg kam zur Stelle und wirkte aufgebracht. „Die Männer sind da, mein Liebster. Sie warten … du weißt schon, worauf.“ Zu Sonia gewandt: „Du! Zerstoße das Kraut, bis es ein feiner Brei ist. Dann mische es mit der Ziegenmilch. Du bringst unseren Gästen die Becher.“

Sonia machte große Augen. Machten sie sie etwa zur Mittäterin?

Aber Reden machten jetzt keinen Sinn mehr. Auf ihrem Schemel in der Küche zerrieb sie das Kraut und mischte es in die Milch. Wenn man diese trank, würde man stundenlang in einen Schlaf fallen. Was sollte sie tun? Wo war Kamile, wenn man sie brauchte?

Sie schaute in die Haupthalle, wo alle Männer und Frauen sich waffenstarrend still verhielten. Niemand trank ein Bier oder scherzte. Von der Heiterkeit am vor Stunden war jetzt nichts mehr zu spüren. Dunkle Absichten glommen in den finsteren Augen der niederträchtigen Scharr, und sie würden sich nicht mit weniger zufriedengeben. Es war also so weit. Sobald der Trank wirkte, würden sie die drei Männer ihm Schlaf erdolchen da sie einen Kampf mit ihm scheuten. Und nachdem, was Sonia über ihn bis jetzt erfahren hatte, konnte man davon ausgehen, dass jede Vorsicht gerechtfertigt war. Ihr kam eine Idee…

Mit dem Becher Ziegenmilch auf dem Tablett stieg sie die Stufen nach oben, vorbei an bewaffnete Unholde, die ihr misstrauisch entgegenstarrten. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, sie war wieder allein in ihrer eigenen, kleinen Welt gefangen mit Menschen, die sie insgeheim verachteten. Olg schritt hinter ihr her, und als Sonia die Hand zum Türknauf erhob, packte ihre Tante sie grob am Kopf, während sie mit der anderen Hand das Tablett festhielt. „Ein Wort von dir“, raunte sie leise. In ihrem Blick lag ein tödliches Versprechen.

Die Drohung kam an. Sonia hätte fast geweint, denn sie verstand auch was das Bedeutete: Ihr wurde klar, dass sie tun konnte, was sie wollte… selbst, wenn sie die Wachen und den Kaufmann eigenhändig töten würde, würden ihr Onkel und ihre Tante sie nicht in Frieden leben lassen. Da half auch keine Puppe mehr.

Dieser Gedanke kam mit so einer Klarheit, dass sie beinahe das Tablett fallengelassen hätte.

Sie öffnete die Tür zum besten Zimmer, das sie hatten – und da saßen sie. Sie wirkten wie Statuen und beäugten das Mädchen misstrauisch.

Sie schloss die Tür hinter sich und balancierte das Tablett auf einem Arm. In ihrem Inneren vibrierte es voller Anspannung. Jetzt war sie Teil von etwas Großem, das sie nicht wollte. Kein Mensch sollte vor so einer Wahl gestellt werden.

Der Kaufmann öffnete seine Augen und lächelte. „Das kleine Mädchen. Sieh an. Ich freue mich, dich zu sehen.“

„Ja, Herr.“ Er beobachtete Sonia, während sie die Becher auf den einzig freien Tisch abstellte. Dabei zitterten ihre Hände. Ihm entging diese Veränderung nicht. Die Wachen warfen sich vielsagende Blicke zu.

Sie atmete schwer aus dem Mund, die Schultern bebten und alles in ihr drängte danach, sich zu ergeben, ins Freie zu stürmen und irgendwohin zu rennen. Ihre Eltern fehlten ihr so sehr. Sie hatte gelernt, lautlos zu weinen. Sie war nur ein Kind, keine Soldatin oder eine Gelehrte: die Tränen rannen ihr über die Wangen und mit bebendem Kinn starrte sie ihn nur an.

Er beugte sich vor, blickte ruhig und entschlossen, ergriff sie am Arm und zog sie an sich. Er roch nach Pulverdampf, Öl und Schweiß, aber das störte sie nicht. Mit zittrigen Fingern umarmte sie ihn und ließ sich fallen. Hielt ihn fest und zitterte, bibberte als wären die Teufel hinter ihr her. Sie raunte ihm leise ins Ohr.

„Du bist tapfer, kleine Sonia“, murmelte er leise und hielt sie weiter fest. Sie ließ es zu, während er ihr sanft den Rücken streichelte. „Meine Schwester hatte oft Angst vor Gewitter. Sie kam zu mir und suchte Schutz. Sie ist mir genommen worden.“ Er ließ los und blickte sie ernst an. „Du musst tun, wozu du bestimmt bist.“

Sie verließ das Zimmer und wurde sogleich von einem der Banditen an den Schultern gepackt, noch bevor die Tür zugefallen war. Grob wurde ihr das Tablett aus der Hand gerissen, jemand versetzte ihr einen harten Schlag gegen die Lippe während schwielige, dreckige Hände ihr den Mund zuhielten. Sie waren so viele; ungebremste Männer ohne Moral und ohne Anstand, die das Kind in ihrer Mitte schlugen, traten und nach unten in die Küche schleiften. Dabei achteten sie sehr darauf, dass alles still verlief.

Llug war außer sich vor Zorn und packte Sonia am Hals, schüttelte sie wie ein Handschuh. „Haben sie getrunken?“, presste er zischend hervor. „Haben sie verdammt nochmal getrunken?“ Um sie herum standen lauernd die Ganoven mit Messern, Schwertern, Keulen und finsteren Mienen. Was konnte sie jetzt noch sagen? Sie war nur ein Kind. Eine der Klingen berührte ihren Hals und sie wagte nicht zu atmen. Alle stanken nach Gewalt und Alkohol. Ihr wurde schlecht. Beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen.

„Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun!“

Alle verharrten und blickten sich um. Wer hatte da gesprochen?

Alle drehten sich um sahen zur Treppe. Der Kaufmann und seine Wachen standen drohend wie ein Racheengel und wirkten zornig, ihre Schwerter gezogen. Prüfend starrten sie die Gemeinschaft an. „Wir werden gehen. Hier ist es nicht sicher“, grollte der Alte und zog einen Dolch hervor. „Und das Mädchen kommt mit!“

Niemand rief zu Mord. Alle wichen mit angestrengter Miene ein Stück zurück. Einige funkelten ihn entschlossen an; mutige Narren, die nicht verstanden, dass das Ende gekommen war. Der Rest wirkte, als wäre er lieber woanders.

Der Anführer der Truppe unternahm einen letzten Versuch: „Leg dein Schwert nieder. Dann wird es schnell gehen.“