Fürstin des Nordens - Trilogy

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Harzig. Moschus. Sehr alt.

Der Werwolf hatte geblutet.

Interessant, dachte sie und folgte der Spur. Jede weiter sie der Spur folgte, desto mehr vernahm sie auch den beißenden Geruch von Furcht war. Aber nicht menschlich. Tropfen von Tränen. Seine Tränen. Claudile schüttelte es, als die Erkenntnis sich Bahn brach. Ungeheuerlich. Werwölfe weinten nicht. Vielleicht klagten sie, aber nur kurz. Tränen waren ein Zeichen von Schwäche.

Hatte er Kummer?

Vor einigen Jahrhunderten hatte das neue Reich die Pax Magnis erzwungen. Sie ließ sich mit den Worten zusammenfassen: „Kämpft nicht, oder wir töten euch.“ Aber wie ließ sich das bewerkstelligen, wenn Werwölfe trauerten?

Schwäche wird nicht geduldet.

Warum, Mutter?

Weil sie sich sonst erheben.

Mit einem Mal wurde es ihr klar: der Werwolf hatte seine Herde geschunden und sich dann zurückgezogen, um zu trauern. Er hatte Schwäche gezeigt. Auf zweierlei Arten: zuerst hatte er maßlos gewütet und die Herde unruhig gemacht – und sich dann seiner Schwäche ergeben.

„Du kannst ruhig hervortreten, Fritz“, murrte sie leise und sah zur Tür.

„Herrin, ich“, begann der alte Mann und verbeugte sich umständlich. „Der Herr ist nicht da“, erklärte er überflüssigerweise.

„Das Volk steht kurz vor der Revolte“, bemerkte sie spitz und überlegte sich ihre nächsten Worte sehr genau. „Du wirst mir alles sagen.“

„Da war ein Mädchen“, stammelte Fritz und wich an die Wand zurück, während seine Drüsen Angstpheromone produzierten. Claudile schnupperte und unterdrückte ein Schütteln. Widerlich.

„Und weiter?“ knurrte sie.

„Der Herr… war besorgt um sie.“

„Was hat sie gemacht??“

„Was sie gemacht hat? Nichts, nehme ich an. Ihre Mutter hatte nur neun Kinder großgezogen, in zwei Zimmern, die einmal genug Platz bieten, um sich ganz auszustrecken. Sie nähte Hemden für zwei Cent das Stück. Die ganze Familie arbeitete rund um die Uhr, so auch die Tochter Alexandra Häberlein. Ja, so war ihr Name“, brabbelte der alte Mann hilflos und sah ihre Krallen bedrohlich näherkommen. „Er wollte sie haben. Sie war die Tochter des Tünchers, er versuchte sie vor ihm zu verbergen doch der Herr wollte sie. Er besuchte die Familie, und…“

„Still“, mahnte sie und sah sich nochmal um. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Ja, da waren Kratzspuren im Holz, in den Steinen. Überall. Der Baron war unruhig geworden. „Er konnte sie nicht haben“, schloss sie zusammen. „Sie liebte ihn nicht. Wie frustrierend für einen mächtigen Mann, nicht wahr?“

Sie nahm am Schreibtisch Platz, nahm erneut ihr kleines Buch und notierte:

-Alexandra Häberlein??

„Wo ist sie jetzt?“

Erneut schien er mit sich zu ringen, während seine Augen unstet hin und her gingen. „Vermutlich tot… nach dem Brand…“

„Brand?“ fragte sie.

„Das ganze Haus in der Tuchmüllenstraße. Niemand weiß es. Ich schwöre es, Herrin.“

Erneut schien ihr irgendetwas an dem Haushalter sonderbar, aber sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was.

Francesco trat durch die Tür.

„Er hat das hier gelesen, oder?“

Claudile schaute auf. In seinen Händen eine Art Buch, ein zerfleddertes Irgendetwas. Als es Fritz sah, geschah etwas Seltsames: er wurde kreidebleich.

„Was ist das?“ fragte sie und nahm es entgegen.

Fritz wollte etwas sagen, schwieg aber schnell.

Es waren Notizen auf Pergamentpapier, die mit einem einzelnen Faden zusammengehalten wurden. KLÄRUNG DER SINGULARITÄT. Ein Regelwerk für die Töchter der Einen.

Claudile stutzte kurz, und blätterte.

Die Erde muss von Wahnsinn, Krieg und Verbrechen befreit und eine Zivilisation ermöglichen werden, in der es geistige Gesundheit und Frieden gibt. Um dies tun zu können, müssen sie dem Einzelnen helfen, sich von seinen individuellen spirituellen Belastungen zu befreien und die dem Menschen grundlegend innewohnende Güte wiederzuerlangen. Zu diesem Zweck müssen wir uns läutern lassen von der Einen, die Alles sieht, die Alles kennt und die das Grün bevorzugt.

„Es war im Zimmer des Barons“, bemerkte Francesco kühl und maß Fritz mit unverhohlener Verachtung: „Es kommt dir bekannt vor, oder Fritz?“

Fritz fuhr sich mit der Zunge über die trocknen Lippen. Seine Augen verengten sich und seine angespannte Haltung sprach eine deutliche Sprache.

Claudile blätterte weiter. Es war nicht nur ein Regelwerk, sondern mehr eine schwulstige, nicht besonders gut verfasste Offenbarung. Eine Zukunftsvision, die keine Werwölfe duldete. Und ein Hohelied auf die „Eine“.

„Die Eine“, las sie laut vor, „ist das Gesamte der ganzen Kraft, die seit Tausenden von Jahren über alles Grün herrschte. Wir sind nur Staubkörner in ihrem Wesen, aber wenn wir befolgen, was sie befiehlt, wird sie uns vom Joch befreien.“ Sie schloss kurz die Augen und fasste für sich zusammen: „Er las ein Buch, dass eine Welt verspricht, in der die Werwölfe nicht existieren? Wer ist diese „Eine“?

„Hat dieser Geistliche etwas damit zu tun“, herrschte Francesco den Mann an. „Religionen sind nicht gestattet!“

Fritz straffte sich. Seine unterwürfige Körperhaltung veränderte sich zunehmend als wäre eine Verwandlung vorgegangen. Hochaufgerichtet und schweratmend starrte er sie beide an. „Der Herr… fand dieses Buch bei einem der Dorfbewohner. Er nahm es an sich. Mehr weiß ich nicht. Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich mich gern zurückziehen.“

Claudile beobachtete ihn genau. Er lügt. Ich weiß nicht, warum aber er lügt.

„Ja, sicher. Geh nur.“

Francesco schüttelte ungläubig den Kopf. „Fritz weiß mehr, als er zugibt.“

„Lass ihn. Wir haben andere Probleme.“

Sie lehnte sich langsam zurück und überflog ihre Notizen.

Jede Menge Probleme.

„Sie hassen uns“, sagte sie bedrückt und starrte aus dem Fenster. „Das wird in einem Unglück enden, sage ich dir.“

Francesco kam näher, stellte sich neben sie und folgte ihrem Blick. „Wieso uns? Ich bin ein Mensch.“

Sie wandte sich ihm zu.

„Nur ein Scherz.“ Er lächelte sanft und tätschelte ihre Schulter. „Ich schlage vor, dass wir zu Arbeiten beginnen. Ich werde Personal auftreiben und sehen, welche Rechnungen noch nicht bezahlt wurden. Ich nehme an, dass ich über das Geld verfügen darf, Eure Ladyschaft?“

„Selbstverständlich.“ Sie knabberte an ihren Fingernägeln.

„Und Ihr macht am besten das, was Ihr am besten könnt.“

„Herrschen?“

„Jagen“, stellte er klar und fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. „Holt Euch den Mistkerl.“

Claudile trat ins Schlafzimmer des Barons und war nicht überrascht, dass es ähnlich wirkte wie das Arbeitszimmer. Krallenspuren, Dreck und überall der unverkennbare Geruch von Angst und Kummer. Blutstropfen. Sein Blut. Er hat sich selbst verletzt. Warum?

Die Angelegenheit wurde immer merkwürdiger.

Lyren war ein brutaler Mann, der jede Frau zur Witwe machte, die ihm gefiel. Die Rechnungen wurden nicht bezahlt.

Das Fenster stand weit auf und zeigte zum Wald hin. Die Spur war unverkennbar. Es war Zeit, den Herrn zu Rede zu stellen.

Behände sprang sie aus dem Fenster, rollte sich am Boden ab und ging gleich in ihre natürliche Form über: Muskeln, Sehnen und Fell. Die Spur war wie ein glühender Faden vor ihr, die es nicht zu Verlassen galt.

Als Wolf trippelte sie erst langsam los, ging über in einen schnellen Galopp und raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Wald, das Vögel entsetzt aufstoben. Nach einer Weile begleiteten sie ein Rudel Wölfe.

Sie ahnten, dass es was zu sehen gab.

In der Krone einer stattlichen Kiefer hatten geschäftige Hände einen sicheren Hort gebaut. Von außen kaum zu erkennen und vor allem sehr schwer zu erreichen. Die einzige Person, die dort im Schatten kauerte, unterbrach ihr Mahl und beobachtete dem Werwolf, wie sie schnell Richtung Nordosten lief. Sie trug eine engansitzende Lederkleidung und einem dunkelgrünen Mantel – ganz nach der Art der Waldläufer. Aber sie war kein Waldläufer.

Die Gestalt lächelte sanft, beendete das Mahl und nahm Stift und Pergament um sich Folgendes zu notieren: „14/10/43: Die Fürstin ist angekommen. Tochter von Alemont. Sie schnüffelt.“ Die Gestalt runzelte die Stirn und strich den letzten Eintrag. „Geht auf die Jagd und hat Wölfen Grenzen aufgezeigt.“ Schrieb sie stattdessen. Nun gut, es war kein Roman aber dennoch haltbar. Die Frau schirmte ihr Gesicht von den einfallenden Sonnenstrahlen ab und fluchte dezent, als Licht auf ihre kalkweiße Haut traf. Sofort kräuselten sich die Haare und der Geruch von verbranntem Haar machte sich breit.

Sie musste unbedingt die Stelle ausbessern, nahm sie sich vor. Sonst würde sie eines Morgens als Häufchen Asche aufwachen und das war mehr als nur störend.

Dennoch lächelte sie hinter ihrer Kapuze. Die Fürstin würde interessante Dinge tun.

3. Kapitel Neue Besen

Die Tür wurde geöffnet.

„Oh, guten Tag“, sagte die Glückliche Bettina freundlich und lächelte sanft Francesco an. „Entschuldige bitte die Störung. Du hast bestimmt viel zu tun, aber ich muss etwas fragen: Stimmt es, dass ihr Personal sucht? Mir fällt die Decke auf den Kopf.“

Francesco öffnete weiter die Tür und zählte sechszehn Kinder, die teils stoisch teils unruhig sich nach allen Seiten umsahen. Es waren verdreckte Gestalten unterschiedlichen Alters. Er blinzelte verstört. „Ich sehe, dass sich Nachrichten schnell verbreiten. Was kannst du so?“

 

„Alles.“

„Sind das deine Kinder?“

„Alle.“

„Was können sie?“

„Alles.“

Bettina gehörte zu den Frauen, die sich ganz ihrem Schicksal ergaben und einem Nachschlag verlangten. Ihr Becken war gewaltig, ihre Hände schwielig und das Kreuz von Gram gebeugt. Trotzdem lächelte sie auf eine Art, als würde sie als Mutter des Jahres einer Jury vorsprechen wollen. Francesco zweifelte nicht daran, dass diese Frau noch viele Kinder bekommen würde. Sie gehörte zu den Frauen, die selten Nein sagten.

Er nickte wissend. „Mmh, ich könnte eine Dienstmagd gebrauchen. Oder eine Küchenmagd. Oder eine Dienstbotin.“ Er überlegte kurz. „Eigentlich kannst du es dir aussuchen.“

„Gut“, sagte sie und zwängte sich an ihm vorbei. „Montag ist mein Ruhetag. Ich putze, wasche, koche, grille und stopfe Socken. Vier Cent pro Socke, Fünf Cent pro Hose, Zehn Cent pro Hemd und Waschen wird einzeln abgerechnet.“

„Du müsstest auch hier wohnen“, überlegte Francesco laut und sah sich um. „Ich glaube, wir haben noch Betten. Die Kinder bleiben draußen.“

„Nein“, widersprach Bettina. „Ganz ausgeschlossen.“

„Nein, sagst du.“

„Nein, sage ich.“ Bettina holte kurz Luft. „Klaus bekommt bald seinen ersten Zahn, Michel zahnt noch und braucht jeden Abend einen Wickel aus Kräutern. Isabelle kann nicht gut mit Mopsie, darum muss sie in meiner Nähe bleiben, aber sie hilft beim Kochen aus, Ferdinand tollt gerne herum und braucht eine starke Hand aber ihr Papa ist Müllkutscher und kommt erst spät nach Hause, darum ist er lieber in meiner Nähe, weil ich es so möchte. Jedes Kind ist ein Geschenk, aber jedes Geschenk ist einzigartig, wenn du verstehst, was ich meine, Herr. Die drei Kleinen da vorne können sich selbst beschäftigen, aber wenn ihre Mutter nicht in der Nähe ist, flechten sie sich gerne die Haare, Herr. Habt ihr schon mal versucht geflochtene Haare zu waschen? Es ist kein Vergnügen, Herr. Dann wären da noch Bubsie, Semmel, Knödel und Gustav. Sie können putzen, Herr. Wir brauchen nur Lappen. Und wir nehmen es in bar und sofort.“ Ruckartig ging ihre Hand zur Seite und erwischte einen Jungen dabei, wie er gerade auf Schatzsuche in seiner Nase ging. „Lass das, Björn. Mutter mag das nicht.“

Die ganze Zeit lächelte sie unverwandt und starrte Francesco an. Dieser starrte zurück. In ihren Augen glühte eine Art Wahnsinn, der nicht bösartig war, sondern diejenigen befahl, die sich mit ihrer ganzen Existenz einer Sache verschrieben hatten. Wie ein Briefmarkensammler, der beim Postamt arbeitete. Oder ein Schuster, der sich größte Mühe bei seiner Arbeit gab und auf der Straße jedem vorbeilaufenden Kunden zuerst zu den Füßen schaute, ob es den Schuhen auch gutging.

Er schluckte hart.

„Wir sind uns einig?“ flötete sie.

„Wir sind uns einig“, flüsterte er kleinlaut und machte Platz. „Ich hatte ja keine Ahnung…“

„Kann vorkommen, Herr“, antwortete sie und ging durch die Halle. „Zeig mir die Küche, Herr. Wir brauchen Lebensmittel, Kernseife und Nadel und Faden. Viel davon. Nur auf Vorkasse, Herr. Meine Spezialität sind Aufläufe. Ich weise daraufhin, dass ich nur die allerbesten Ratten verwende“, rief sie über die Schulter und ging mit ihrem Pulk voran. „Große, dicke Exemplare von erlesenen Orten! Keine Latrinenviecher oder so! Und die sind schwer zu finden, das kann ich Euch sagen!“

„Ich kümmere mich um alles“, sagte er und wandte sich um. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. „Moment, was...?“

3

Tiefer Wald.

Niemand wusste so recht, wie groß die Wälder von Norfesta waren und was sich alles in ihnen verbarg. Meilen über Meilen konnte hier nichts gefunden werden, was nicht gefunden werden wollte. Die Bäume wuchsen unbeeindruckt in die Höhe und wiegten sich im kalten Wind des Nordens, während ein dichter Teppich aus Gestrüpp und Ranken manchen Weg einfach enden ließ. Leben und Tod waren hier anzutreffen. Auf vielerlei Arten.

Es war später Mittag, als endlich Claudile die Stelle fand. Die Wölfe neben ihr hechelten laut und bewegten sich langsam um sie herum. Geduckt und vorsichtig. Sie jaulten leise.

Böser Ort, vermittelte der Leitwolf. Dunkel, grau. Mit Metall. Nicht gut.

Claudile nickte verstehend. Langsam verwandelte sie sich wieder zurück in einen Menschen.

Die Spur führte zu einem tiefen Loch in der Erde, das meterweit in die Dunkelheit reichte. Doch da war noch mehr. Die Angst hatte hier überhandgenommen und vermischte sich mit Schmerz. Tiefen, langanhaltenden Schmerz. Ein stechender Geruch, der auch die Wölfe nervös machte.

Ein sterbender Gott unter Wölfen war hierhergekommen, um…

Vorsichtig nahm sie einen Stock vom Boden und schlug damit gegen die Wand. Sie witterte Metall, nein es war eine ganz besondere Ader von…

Silber!

Fauchend wandte sie sich ab.

Der Leitwolf jaulte leise.

Ströme von Blut. Er will leiden. Warum? Werwolf verrückt.

Die anderen stimmten zu. Es war ihnen ein Rätsel.

„Ich versteh das nicht“, sagte Claudile leise und trat näher an die Höhle heran. Der Gang führte weiter und immer weiter durch eine Art Stollen. Mit ihrer Hand schob sie den Dreck beiseite und fuhr zurück, als sie das Silber berührte. Die Wunde am Zeigefinger stach vehement und schien infiziert von innen heraus zu brodeln. Gottverdammtes Silber!

„Warum tut er das?“, sagte sie unter Schmerzen und fauchte leise.

Die Wölfe duckten sich weg und stoben auseinander. Die Jagd war vorbei.

Sie ließ sie gewähren und blickte mit unheilvollen Gedanken zum Loch. Kein Werwolf suchte freiwillig eine Silbermine auf – außer, er wollte…

„Oh, verdammt“, hauchte sie leise und trat den Rückzug an.

Jeder hatte einen Ansatzpunkt. Oft war es Habgier, eine altbewährte Sache. Oder auch Stolz. Francesco hatte viel als Soldat gesehen und erlebt, aber noch mehr gelernt als er in die Dienste eines Werwolfs trat: als dienender Mensch beobachtete er die Bürger von Norfesta und verstand sehr schnell, was sie am meisten begehrten: sie wollten ihre Würde behalten. Mochten Dutzende von Monstern auch über sie herrschen – die Würde durfte man ihnen nicht nehmen, sonst verloren sie allen Mut.

Die Glückliche Bettina wollte sich frei entfalten und unbedingt ihre Kinder schützen, man sah es in ihren Augen. Wenn man den richtigen Ansatzpunkt gefunden hatte, war alles ein Kinderspiel.

„Meinst du, wir bräuchten mehr davon?“ fragte Francesco unschuldig und deutete auf einen Sack Mehl. „Du musst es nur sagen. Ich kenne mich damit nicht aus.“ Er breitete hilflos die Arme aus.

Die mehrfache Mutter hatte die Ärmel hochgekrempelt und bearbeitete den Teig mit beiden Händen. Kurz warf sie ihm einen Blick zu, der folgendes zum Ausdruck brachte: Natürlich weißt du das nicht. Darum bin ich eine Frau. Eine Frau weiß alles. „Wäre nicht schlecht“, meinte sie nur und lächelte auf ihre besondere Art.

Die Küche war ein Tummelplatz voller Leiber, die emsig ohne zu Fragen an die Arbeit gegangen waren. Vier Kinder hatten Wasser aus einem Brunnen geholt und warfen dreckige Kleider in einen Trog, indem sie gleich auch reinsprangen und wie wild mit den Füßen traten, als würden sie Wein treten wollen. Francesco war sich sicher, dass Wäsche so nicht gewaschen werden sollte, schwieg aber lieber. Es war nicht seine Sache.

Ein Mädchen schnippelte Kartoffeln, während ein anderes Mädchen Zwiebeln schälte. Zwei Jungen putzten die Fenster mit ihren eigenen Klamotten und spuckten hingebungsvoll in ihre Handflächen. Ein Junge befeuerte den großen Kamin, während ein anderes einen großen Kessel an dem Haken hängte. Es waren sechszehn kleine Kinder und sie alle reagierten ohne zu murren. Die Glückliche Bettina hatte alles im Griff und schaute kaum auf, als Francesco beschloss zu gehen. Er hatte ihr Geld dagelassen – von jetzt an würde es laufen.

„Wir brauchen Holz.“

„Kriegst du.“

„Ich war so frei und habe meinen Schwestern gesagt, dass sie auch kommen sollen. Die Burg ist ziemlich groß und so. Das stört dich doch nicht, oder?“

„Wie viele Schwestern hast du?“

„Drei.“

„Oh, einverstanden.“ Ja, das konnte nicht schaden, wenn…

„Auch sie haben Kinder.“ Oh, Mist.

„Ich habe Vertrauen, Frau Bettina“, sagte Francesco und straffte die Gestalt.

In dem Empfangsaal hatte sich eine Menge eingefunden. Er wusste bereits: Die Bürger von Blaqrhiken besaßen ein hervorragendes Informationsnetz. Jedermann hasste die Werwölfe und der alte Baron schuldetet ihnen allen Geld, aber wenn der Magen knurrte, wollte man etwas dagegen tun.

Francesco nahm sich einen Stuhl, stellte sich darauf und formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. „Meine Damen und Herren“, rief er laut. „Wir brauchen einen Gärtner, einen Förster und Leute, die etwas vom Putzen verstehen. Wer Arbeit sucht, soll sich links von mir aufreihen.“ Ihm kam ein bedrückender Gedanke. „Ähm, … wem das Fürstentum Geld schuldet, kommt am besten zu mir!“

Er war nicht überrascht, als sich sogleich alle auf den Weg zu ihm machten. Damit hatte er gerechnet. Langsam stieg er von dem Stuhl herunter und machte sich an dem großen Tisch an die Arbeit.

„Das Forstamt bekommt noch die Löhne von drei Monaten!“

„Ihr schuldet der Bäckerei noch vierhundert Münzen!“

„Das Sägewerk kann seine Arbeiter nicht bezahlen!“

So ging es drunter und drüber. Francesco bedeutete zu warten, holte Schreibmaterial und einen Sack Münzen, trat wieder vor den Schuldnern und griff zu einem Federkiel.

„Kann losgehen“, sagte er gedämpft und begann.

Schweratmend kam Claudile an der Burg an. Sie witterte Veränderung in der Luft, konnte aber nicht sagen, woher und vor allem was sich veränderte. Der Wald war alt, aber etwas war dort gewesen, erinnerte sie sich. Eine Präsenz, die sich nicht klar definieren ließ. Etwas war im Gange und schien sie zu beobachten. Sie drehte sich um die eigen Achse und schnupperte probeweise. Nichts. Und doch war da etwas.

Ein Frösteln durchlief ihren Körper. Das war neu.

Sie kam nicht weiter. Der Baron war in dem Loch gewesen, aber die Spur verlor sich. Und sie musste schnell handeln, bevor sich die Spur verflüchtigte.

Sie brauchte Hilfe.

Wer wäre besser geeignet als die Stadtwache?

Sie nickte sich selbst zu ihrem Entschluss zu, betrat ihre Burg auf dem gleichen Weg wie sie gegangen war und zog sich eiligst um. Kurz zuvor betrachtete sie das auffällige Rüschenkleid und die Hose von Francesco. Das Kleid war unnatürlich. Es engte sie ein und ließ sie aussehen, als wäre sie eine Menschenfrau mit einem viel zu breiten Becken. Zum Teufel, damit!

Ohne den Tumult im Saal beachtend kletterte sie auf die Mauer und sprang geduckt in den Graben, wo sie wenig später an der Wache ankam. Zu ihrem Glück trat Korporal Axel gerade aus der Tür.

„Einen schönen Abend, Herrin.“

„Ich habe ein Problem“, begann sie und erklärte ihm alles auf dem Weg. „Darf ich dich kurz begleiten?“

Axel nickte. „Es ist nur der übliche Rundgang. Es könnte eher langweilig werden.“

„Nein, schon gut.“

„Wie Ihr wollt.“

„Hast du denn keine Angst?“ fragte sie ihn, als sie durch die Düsternis des aufkommenden Abends durch die Gassen schlenderten.

„Nein.“

„Aber es könnten überall Schurken und Halunken auf der Lauer liegen.“

„Oh, ja. Aber ich bin schon seit einer ganzen Weile nicht mehr belästigt worden.“

„Fürchtet man vielleicht deine Uniform?“

„Möglich“, räumte Axel ein.

„Vermutlich haben die Leute gelernt, Respekt davor zu haben. Ich finde Gefallen an Männerhosen. Könnte ich mir ein paar Hosen von euch leihen?“

„Nicht die von Gaver, oder?“

Beide lachten ungezwungen. Claudile schüttelte den Kopf. „Wie lange bist du schon hier?“

„Ich kam erst vor einem Jahr hier an.“

„Vor einem Jahr verschwand auch Alexandra Häberlein“, erwiderte sie beiläufig und blickte interessiert in ein Schaufenster, das frischen Wolfspelz anbot.

Er zuckte leicht zusammen.

„Äh… entschuldigt bitte, aber… Ihr kamt mit einem Problem zu mir?“

„Schön, dass du fragst“, sie lächelte knapp. „Ich bin der Spur des Barons gefolgt, so gut es ging. Sie verliert sich in einem alten Silberstollen. Nur, damit ihr von der Wache Bescheid wisst. Er wird seiner Strafe nicht entgehen.“

 

„Das… ist gut zu wissen.“

„Mir wurde heute gewahr, dass sich wohl eine kleine Religionsgemeinschaft gebildet haben könnte“, erklärte sie wie beiläufig. „Du weist nicht zufällig etwas darüber?“

„Nein.“

Sie forschte in seinem Blick und fand nichts anderes als Aufrichtigkeit. „Gut, dann belasse ich es dabei. Wo wohnst du?“

„Ich wohne bei meinem Onkel“, sagte Axel.

„Man braucht einen Ort, wo man sich selbst entfalten kann. Wie ist es da so?“

„Ach, nicht sehr gemütlich. Mein Onkel ist Gerber und redet von nichts anderem. Vom Geld machen und so.“

„Ich dachte, Menschen lieben Gold.“

Axel verharrte kurz und suchte offensichtlich nach Worten. Dann erklärte er: „Nicht alle. Ruhe und Frieden sind auch sehr wichtig.“

„Familie, möchte ich meinen.“ Sie lächelte kokett ihm zu. „Es muss schön sein, eine Familie zu haben. Aber es gibt bestimmt auch interessantere Themen wie Familie und Geld.“

„Zum Beispiel?“ fragte er lauernd und blickte sich um. „Wo sind wir?“

Sie standen beide am Scheideweg einer kleinen Kreuzung.

Claudile hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und blickte vielsagend zu einem Schild, das an der Mauer eines Hauses genagelt war.

Tuchmüllenstraße.

Axel starrte sie an und sagte kein Wort.

„Wie tragisch. Es muss schlimm gewesen. Eine große Familie stirbt in den Flammen. Vor einem Jahr.“ Claudile schaute nach links und rechts und witterte kurz. Sie waren allein. Kein Zweifel. „Seltsam, dass ein Stadtwächter diese Straße nicht kennt“, bemerkte sie höflich. „Wir könnten auch über Frisuren reden. Oder Kleidung. Ver…kleidung.“

Axel Gesicht gefror zu einer starren Maske. Langsam erschlafften seine Schultern.

„Mich stört es nicht. Du beweist Einfallsreichtum.“

„Das habt Ihr extra gemacht!“

„Ja, das wollte ich geklärt wissen“, meinte sie jovial und trat näher heran. „Es liegt am Geruch, musst du wissen. Den Baron Mattes Lyren konntest du täuschen, wahrscheinlich weil er die meiste Zeit betrunken und seine feine Nase schon fast taub war von dem billigen Fusel.“

Axel errötete und nahm seine Mütze ab. „Alexandra Häberlein, Euch zu Diensten.“

Hauptmann Gaver starrte auf die Menge vor sich im Saal. Auf der Liste der Dinge, die er besonders gut konnte, kam Starren an zweiter Stelle, direkt nach reglosem Hocken. Er brachte immer die besten Leistungen, wenn es darum ging, nichts zu tun. Einfach wie erstarrt dasitzen – das war seine größte Stärke. Er war auf eine besondere Art Dumm, die eine gewisse Faulheit voraussetzte. Zu seinem Glück gab es unter den Leuten keine nennenswerten Verbrechen.

Als die Menge sich nach und nach lichtete, und die meisten mit Säcken voller Geld verschwanden, trat er vor und versuchte sein Glück.

Francesco sah ihn fragend an.

Gaver nickte. Ganz in seinem Universum vertieft.

„Du musst schon etwas sagen, wenn du etwas willst“, knurrte Francesco leise.

„Ich komme von der Stadtwache, Herr.“ Er bearbeitete beim Sprechen eine Lücke im Zahn, hinter der sich etwas vom Mittagessen verkrümelt hatte. Er wartete geduldig, bis die Zunge das Stück loseisen konnte und nickte glücklich.

„Und?“

Gavers Handfläche tauchte auf. Er hatte wohlweislich etwas aufgeschrieben. „Nja, Ich bin Gaver“, las er tapfer ab. „Wir benötigen ein neues Sitzkissen.“

Francesco starrte ihn an.

„Was-?“

„Die Sitzkissen sind ganz durchgescheuert, also besser zwei oder drei. Lavendel finde ich schön. Aber du solltest wissen, Herr, nja, dass wir nicht nur arbeiten!“

„Ach?“

„Wir brauchen eine neue Pfanne, Herr.“ Er schniefte leise. Etwas hatte sich in seinem linken Nasenloch gebildet. Starr vor Staunen beobachtete Francesco wie sich sein Finger hob. „Und der Winter naht, Herr. Ein neuer Ofen wäre nicht schlecht, nja. Etwas Kohle dazu, eine neue Pfanne und ich mache die besten Speckkartoffeln, die du dir vorstellen kannst. Ist kein Witz, Herr.“

„Bitte benutz ein Taschentuch. Willst du Geld, Mann? Schulden wir euch Gehalt? Wenn ja, wieviel?“

Gaver erstarrte, blickte Francesco aus großen Augen an und hob langsam die rechte Hand, um davon abzulesen. „Wir… haben… Gehalt von Juli bis August… und das kann ich nicht lesen!“

„Gibt es eine Mama oder einen Papa, mit dem ich reden dürfte?“ half Francesco aus und spürte, wie sich sein Nacken verspannte. „Jetzt verstehe ich, warum du als Letzter kommst.“

Das letzte Haus in der Tuchmüllenstraße war ein einsames, bis auf die Grundfesten niedergebranntes Gemäuer. Die Balken waren schief und krumm, aus der Asche sprossen vereinzelt Setzlinge. Nach über einem Jahr hatte niemand daran gedacht eine Neues zu bauen. Zum Glück der Stadt war es an der Mauer gelegen, so dass die Flammen kaum Chancen hatten, überzugreifen. Brände in Städten konnten alles zerstören – das war kein Geheimnis.

Alexandra Häberlein setzte sich schweratmend auf einen Stein und starrte in die erkaltete Asche. Mehr und mehr sackte sie in sich zusammen, bis sie ihr Gesicht verbarg. Lautes Schluchzen ließ Claudile dazu herab, sich zu ihr zu setzen. „Er war so gemein“, schniefte sie leise und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. „Meine Brüder und meine Mutter! Wir haben versucht ihn festzuhalten, doch er war zu stark. Er hatte schon viel getrunken und dann…“

Claudile stöhnte leise mitfühlend und tätschelte ihr die Schulter. „Es war bestimmt anstrengend, die ganze Zeit einen Mann zu spielen, was?“

„Ihr habt ja keine Ahnung“, brachte sie hervor. „Die Idee hatte mein Onkel. Wir sahen keinen anderen Ausweg. Also nahm ich die Schere und schnitt mir alles ab. Mit einem Laken band ich mir das Oberteil fest und versteckte mich für einige Wochen bei den Holzfällern im Ort. Dort nahm man mich auf und ich lernte zu gehen und zu sprechen wie sie. Ich wusste nicht weiter! Immerzu diese Maskerade.“

Claudile nickte mitfühlend. „Er hat dich nie gefunden. Du bist jetzt frei.“

Sie blickte mit ihrem verquollenem Gesicht auf: „Frei? Sagtest du frei!? Ich bin schon so lange ein Mann, dass ich nicht mehr weiß, was ich eigentlich bin!“

Wer wüsste das besser als ein Werwolf? Gefangen in einem Körper, der weder zur einen noch zur anderen Seite gehörte. „Als würde man zwischen einem Spiegel leben. Die eine Seite verlangt ihr Recht, sowie die andere Seite.“

Beide blickten traurig in die Reste des Hauses, das einst so voller Leben war. „Wir hatten immer genug zu essen, bis der Baron kam. Er lief durch die Straßen und setzte sein Recht durch wie ein…wie ein…,“

„…wie ein Werwolf“, half Claudile aus und nickte beklemmend. „Das wolltest du doch sagen, oder?“

„Baron. Wie ein Baron. Verzeihung“, schniefte sie leise.

„Nein, du hast recht“, gab sie bekümmert zu. „Warum war er hinter dir her? Komm, mir kannst du es sagen“, versuchte sie zu trösten und nahm sie in den Arm. „So ist es gut. Ja, jetzt wird alles gut.“

Alexandra wandte sie um und sah sie ängstlich an. „Ihr dürft es niemanden sagen, Herrin. Bitte, ich beschwöre euch!“

Sie stutzte, aber nickte schließlich. „Gut, verstanden.“

Alexandra nickte zaghaft und schluckte trocken. „Jungfrau.“

„Mmh.“ Claudile wusste, dass sich manche Männer von den Unberührten angezogen fühlte. Offenbar galt das auch für männliche Werwölfe. „Verstehe. Hast du...?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Gut, äh… ist besser so.“ Sie hustete trocken. „Sind deine Eltern… standesgemäß beigesetzt worden“, fragte sie leise und strich ihr übers Haar.

„Darum hat sich Pater Brain gekümmert“, antwortete sie leise. „Er ist ein guter Mann, Herrin. Er schimpfte und tobte, aber wenn er mich sah vergoss er immer Tränen. Seine Grabesrede war gut. Ich mag ihn sehr.“

Mich mag er nicht, dachte Claudile böse. „Könntest du ein gutes Wort für mich einlegen?“

Alexandra lächelte und kuschelte sich näher heran.

So saßen sie eine Zeitlang beisammen.