Fürstin des Nordens - Trilogy

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3

Es wurde noch ein langer Abend.

Getränke wurden gereicht, Lieder wurden gespielt und munter dazu gesungen. Die Fürstin schüttelte betrübt den Kopf, nickte aber wacker zum Verlust ihres Vermögens und ging von Tisch zu Tisch, um den Männern zu ihrem Sieg zu beglückwünschen. Alles in allem, so meinten die Leute, nahm sie es gut auf. Die Werwölfe waren besiegt- jene verhassten Feinde, die man all der Zeit ertragen musste. Kein blutiger Kampf, sondern durch ein Spiel, das überwiegend von Glück und Kalkulation bestimmt wurde. Es schien nur passend, dass die Hohen Herren durch die Intelligenz der Menschen besiegt wurden. Aber was noch wichtiger war als der Goldschatz in jedermanns Beutel: die Fürstin hatte sich zu einem Wettstreit von ihrem Thron zu ihnen bemüht und fair gespielt. Natürlich fair. Wer spielte schon falsch, nur um zu verlieren?

Wenn man den richtigen Ansatzpunkt gefunden hatte, war alles ein Kinderspiel. Bei den Bürgern war es die Würde.

Der Morgen graute fast, als Claudile mit dröhnenden Schädel zu Pater Brain hinübersah. Er lächelte knapp ihr zu, und nickte wissend.

Er weiß es, dachte sie und nickte zurück. Er weiß es genau, aber er sagt nichts.

Natürlich war es ein gut geplantes Schauspiel. Wo die Münzen herkamen, gab es noch viel mehr und irgendwie schien das jeder zu wissen, aber keiner sprach es laut aus. Denn das hätte den Traum zerstört.

Sie erwachte mit den schlimmsten Kopfschmerzen ihres Lebens und auf dem Rücken liegend auf dem Bett. Sie hatte noch immer die Soldatenhose an, die mittlerweile Löcher und Risse aufwies – und getrocknetes Erbrochenes – das war das erste, was sie registrierte. Das Licht brannte, und jemand saß auf der Kante ihres Bettes und presste ihr ein angefeuchtetes, eiskaltes Tuch über Stirn und Augen.

Als sie die Lider hob, lief ihr Wasser in die Augen. Sie blinzelte, hob den Arm und versuchte das Tuch samt der Hand, die es hielt, beiseite zu schieben.

„Bleibt liegen, Herrin“, sagte Francesco, als sie sich automatisch in die Höhe stemmen wollte. Die Sorge in seiner Stimme war echt, ebenso wie die Besorgnis in seinem Blick, die nicht geschauspielert war.

In ihrem Kopf erwachte, ein grausamer, pochender Schmerz, der so heftig war, dass ihr für einen Moment übel wurde.

„Ich habe kein Mitleid mit euch“, stellte ihr Freund klar und verschränkte die Arme vor der Brust. „Heute haben wir etwas gelernt. Ihr vertragt keinen Alkohol. Nach dem Geruch, der an Euch haftet, möchte man meinen, Ihr hättet darin gebadet.“

„Kein Wort mehr“, befahl sie schwach mit belegter Stimme und fühlte Schwindel und Übelkeit. „Ich will sterben…“

Sein Blick wurde etwas versöhnlicher. „Das habt Ihr gut gemacht. Obwohl ich der Meinung bin, dass einige Leute durch die Tür kamen, sich das Geld holten, dann aus dem Toilettenfenster klettern – nur, um sich dann wieder anzustellen. Der Verlust hält sich in Grenzen. Aber wir sollten das nicht jeden Abend machen, denn sonst ist das Fürstentum am Ende des Monats bankrott.“ Zufrieden stand er auf, ging zum Fenster und riss die schweren Vorhänge beiseite. „Nun, ein neuer Tag bricht an. Was habt Ihr heute vor?“

Hinter Claudiles Stirn wirbelten Bilder und Erinnerungsfetzen durcheinander, ohne im ersten Moment einen Sinn ergeben zu wollen.

Sie blickte ihn an, bekam plötzlich große Augen und schaffte es gerade noch den Kopf zur Seite zu drehen.

„Gute Güte“, schniefte Francesco. „Das mache ich nicht weg.“

Um zwölf Uhr fand Claudile die nötige Kraft und die Energie, um endlich aufzustehen und sich zu waschen. Als sie zurück in ihr Zimmer kam, war das Malheur bereits verschwunden – nur ein feuchter Fleck auf dem Teppich zeugte von ihrem ungezügelten Nachtleben. Auf dem frisch gemachten Bett lagen frische Klamotten, ein Tablett mit einem Kräutertee und frisches Brot vom Vortag. Sie schnüffelte kurz.

Sie hatte Fritz richtig eingeschätzt. Der Mann überlebte, weil er ein Wetterhahn war und immer darauf achtete, wohin der Wind wehte, und derzeit wehte er in ihre Richtung. Er hatte sogar an Socken und Unterhose gedacht, obgleich das nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Eine aufmerksame Geste.

„Möchtet Ihr Frühstück, Herrin?“ Fritz sah sie von der Tür freundlich an und deutete hinter sich auf die Treppe nach unten. „Ich kann euch etwas zubereiten, wenn Ihr wollt.“

„Danke, Fritz. Aber ist das nicht eher die Aufgabe von Bettina?“

„Darüber wollte ich mit Euch reden“, sagte der Haushalter. „Die Glückliche Bettina ist wohl kaum die Richtige. Ich würde mich mit einem Schreiben nach Hrolung aufmachen, um dort an der Städtischen Schule für Zofen und Hebammen eine geeignete Magd mit tadellosem Ruf suchen zu lassen. Es würde nur zwei Wochen dauern, …“

„Ich sehe dazu keine Veranlassung.“

„Sie ist eine Bürgerliche…“

Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Brust.

„Das sind Mägde im Allgemeinen“, wies Claudile zurecht. „Ich brauche keine Küchenmagd mit blauem Blut, ich brauche jetzt eine geeignete Kraft. Die Glückliche Bettina wurde von Francesco gestern eingestellt.“ Sie besah sich im Spiegel und zupfte an ihren roten Locken. „Schockiert, Fritz?“

„Erstaunt, Herrin.“ Sein Lächeln löste sich allmählich auf. „Wir müssen an der Etikette festhalten. Und diese vielen Kinder! Empfindet Ihr das nicht als störend?“

Die Art, wie er „Kinder“ sagte, gefiel ihr nicht.

Ganz und gar nicht.

„Nein.“

„Warum?“

Claudile richtete sich kerzengerade auf. Langsam ging ihr Fritz wirklich auf die Nerven.

„Wenn ich Francesco richtig verstanden habe, haben wir gestern viele aus der Stadt eingestellt. Ich beabsichtige nicht in nächster Zeit eine Dinner-Party zu geben, nur um dann mit dem Finger auf die Küchenmagd zu zeigen und zu sagen: Wusstest ihr schon, dass unser Personal eine tadellose Ausbildung hat? Es kümmert mich nicht.“

„Nein, offensichtlich nicht“, murrte Fritz und versuchte es sogleich anders: „Dürfte ich in einer delikaten Angelegenheit mit Euch sprechen?“

Claudile schmerzte noch immer der Kopf. „Nein, Fritz. Jetzt gerade nicht. Ich gehe nach draußen auf den Markt. Bisschen frische Luft schnappen.“

„Ihr würdet mit den gewöhnlichen Bürgern auf einem Platz sein“, platzte es aus ihm heraus.

Claudile wandte sich vom Spiegel ab. „Keine Sorge, Fritz. Sie werden mich schon nicht auf ihr niedriges Niveau herabziehen. Du musst lernen, die Angelegenheit etwas entspannter zu sehen.“

Sie wandte sich um, doch da war Fritz schon verschwunden. In der Ferne hörte sie ihn immer schneller gehen.

Ein richtig mieser Tag
1

Die Glückliche Bettina gehörte zu den Menschen, die mit wenigen Dingen im Leben sehr zufrieden waren. Wenn die Ernten gut waren, alle Familienmitglieder gesund und alles seine Ordnung hatte, war es gut. So einfach. Die Mutter von sechszehn Kindern reichte Claudile ein gegrilltes Eichhörnchen am Spieß: „Die Stände sind gut gefüllt - wie die Münzbeutel der Leute. Eure Ladyschaft habt ein schweres Erbe angetreten“, sie biss von Spieß ab, kaute lange und schluckte langsam, bis sie hinzufügte: „Wie kommt Ihr mit den Leuten zurecht?“

Claudile starrte kurz zum Eichhörnchen am Spieß. „Mehr kann ich nicht tun, als ihre Sorgen etwas zu lindern.“

„Seid Ihr glücklich hier?“

„Ich erledige meine Pflichten genauso, wie wir es von euch erwarten.“

„Das ist keine Antwort.“

„Du bist erstaunlich offen mir gegenüber…“

„Verzeiht, Fürstin.“ Sie lächelte entschuldigend. „Als Mutter weiß ich, wann es Zeit ist zu reden. Das ist der einsamste Ort der Welt, wenn man keine Freunde hat. Darum solltet Ihr Euch fragen, ob Ihr hier seid, um anderen etwas zu beweisen, oder um Euch etwas zu beweisen?“

Claudile schluckte kurz, sah auf den Spieß und gab ihn weiter an eines der Kinder von Bettina, die wie Entenküken stets an ihrer Seite zu weilen schien. Das Kind gluckste fröhlich und grabschte nach dem Spieß. „Mir selbst.“

„Das ist gut“, bemerkte Bettina und zeigte auf ein Mädchen, das etwas abseits stand. „Das ist meine Tochter dort drüben. Isabelle kommt jetzt in ein Alter, in der sie vermittelt werden muss. Sie kann gut kochen, saubermachen und auf die anderen Kinder aufpassen. Sie ist in letzter Zeit immer etwas zerstreut. Es gibt manchmal Dinge, die man einer Mutter nicht anvertraut.“

Claudile sah zu ihr herüber. Eine kleine schmächtige junge Dame mit glatten schwarzen Haar starrte zum Himmel und schien ganz in ihrer Welt versunken. „Du willst, dass ich mal mit ihr spreche?“

„Wenn Ihr kurz Zeit hättet“, beeilte sich Bettina hinzuzufügen. „Vielleicht bringt Euch das auch auf andere Gedanken.“

Claudile fuhr sich über den schmerzenden Kopf und wollte am liebsten nur fort von hier – irgendwo, wo der Schmerz einfach aufhörte. Trotzdem ermahnte sie sich selbst, sich zu zeigen. Sie nickte verstehend, schlenderte herüber und setzte sich zu dem Mädchen. „Woran denkst du?“

Isabelle verneigte sich knapp. „An die Welt, Herrin.“

„Wie es dort draußen ist?“

Ihre Blicke wanderten zum Himmel. „Kann ich auch Fürstin werden?“

Das war es also. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben. „Ich weiß, es ist schwer hinzunehmen, aber du wirst nie Fürstin sein, denn dein Blut definiert dich. Du bist hier geboren, du wirst hier arbeiten und du wirst hier heiraten und Kinder bekommen.“

Ein Schatten legte sich auf ihren Zügen. „Werde ich hier sterben?“

„Eines Tages, ja. Aber du hast eine große Familie, eine gute Mutter und einen guten Vater. Du weißt, wo sie sind. Willst du wissen, wo mein Vater ist?“

 

Isabelle blickte sie fragend an.

„Mein Vater ist der Große Khan von Norfesta. Er ist fort. Er verschwand einfach. Ich vermisse ihn.“

„Das ist ungerecht.“

„Ja.“ Claudile stand auf und sah sie prüfend an. „Ich beneide dich, Isabelle. Aber das ist ein Geheimnis zwischen uns, einverstanden?“

Das Mädchen nickte zaghaft.

„Geh nun, und habe Spaß. Es reicht, wenn sich die Erwachsenen Gedanken über diese Welt machen.“

Das Mädchen zögerte kurz. „Darf ich Euch etwas fragen?“

Claudile nickte.

„Wie ist es so?“

„Ein Werwolf zu sein?“

„Fresst ihr Menschen?“

Claudile stöhnte besorgt. „Nein, ich glaube nicht.“

„Ihr glaubt nicht...?“

„Ich tue es nicht“, stellte sie klar. „Meine Brüder sehen das anders, aber ich mag Reh oder mal ein Huhn. Wildschwein ist auch nicht zu verachten. Aber einen Menschen habe ich noch nie gegessen. Stelle dir vor“, sie setzte sich wieder und zeigte auf den nahen Wald, dessen Kiefern sich sanft im Wind bewegten, „du fühlst den Wald und den Wind um deinen Körper. Du riechst die Spuren der Tiere und musst nichts fürchten, denn selbst die Bären fürchten deinen Zorn. Du atmest schneller, kannst selbst die Vögel im hohen Geäst hören und die Kälte des Winters ist nichts als ein zarter Winterhauch. Freiheit. Kraft. Dominanz.“ Sie blickte das Mädchen vor sich an und strich ihr sanft über das Gesicht. „Einsamkeit. Du ahnst nicht, wie einsam man ist. Selbst in einem Rudel gibt es Streit und Neid. Das ist der Preis.“

„Klingt schrecklich.“

„Ich habe nicht darum gebeten. Genauso wenig wie du für deine Stellung. Aber wenn ich wählen dürfte“, sie nickte bedeutungsschwer mit dem Kopf. „wäre ich gerne an deiner Stelle.“

Das Mädchen starrte sie betroffen an, nickte schließlich und ging zurück zu ihrer Familie.

Claudile streifte über den Markt.

Hier und da vermieden die Leute es, in ihre Richtung zu sehen. Sie konnte spüren, dass man ihr misstraute. Das ist in Ordnung, dachte sie bei sich. Ich an eurer Stelle würde mich zuhause einschließen und mich nicht mal auf die Straße trauen. Kein Wunder, dass Pater Brain voller Gram ist und auch kein Wunder, dass Alexandra es vorzieht, als ein Mann von der Stadtwache durchzugehen.

Wo wir gerade davon sprechen…

An einem Stand bemerkte sie den Geistlichen, wie er mit einer Schürze um den breiten Bauch Kisten mit Fisch stapelte. Sein langer Bart glänzte vor Fischschuppen. An den Blicken der Leute bemerkte sie, dass der ältere Mann von allen geachtet und geschätzt wurde. Sie schlenderte langsam heran und besah sich die Auslage.

Als er sie bemerkte, lächelte er grimmig und zog langsam ein Messer zum Fischausnehmen hervor.

„Ich will nichts stehlen.“

„Du würdest auch nichts finden“, grummelte er spöttisch, schnappte sich einen Heilbutt und schlitzte ihn fachmännisch auf. „Man muss ja schließlich von etwas leben.“

„Keine Angst.“

„Ich habe keine Angst! Ich bin zu alt, um mich zu fürchten.“ Mit zwei Fingern holte er die Innereien heraus und warf sie in einen Eimer. „Was willst du?“

„Die Stadt braucht einen Stadtvogt.“

Brain hob eine Augenbraue. „Hah! Ich habe deine Tour gestern zu spät durchschaut. Du bist ein kluges Mädchen – wirfst mit ein paar Münzen um dich und machst dich Liebkind beim Volk. Sogar mich hattest du überzeugt.“ Mit beiden Fingern packte er den Fisch bei den Kiemen und hielt ihn hoch. „Du spielst den Leuten vor, dass wir beste Freunde wären, aber sobald ich dir den Rücken zukehre, reißt du mich in Fetzen und behauptest anschließend, es wären Ganoven gewesen.“

Die Spitze hatte gesessen. „Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.“

„Siehst du! Von mir kannst du noch etwas lernen.“ Brain packte den Fisch in eine Tüte, griff unter dem Tisch und stellte mit seinen von Blut besudelten Fingern zwei Becher und eine Flasche Selbstgebrannten auf den Tisch vor ihm. „Willst du einen Drink?“

Claudile nickte, ganz der höfliche Gast. Brain schüttete ihr und sich etwas ein und reichte ihr ein Glas. Nachdem er geleert hatte, sah er sie prüfend an: „Warum solltest du das tun? Warum sollte ich das tun? Wir sind keine Freunde!“

„Die Leute sehen zu dir auf. Sie brauchen Hilfe.“ Sie kippte die ölige Flüssigkeit in einem Zug herunter. „Ich bin neu hier, und Francesco war früher Soldat. Er gibt sich Mühe aber das können wir nicht allein. Du bist der Einzige, der uns die Stirn geboten hat. Ja, du hast nichts mehr. Also auch nichts zu verlieren.“ Himmel, das Gesöff war stark genug um beschlagenes Silber glänzend zu machen! „Du stehst jeden Morgen auf und leerst die Spänebottiche im Werk. Du gehst bei deinem Freund Michel auf dem Fischmarkt aushelfen und isst jeden Mittag dort Fisch, den du umsonst bekommst. Die paar Münzen reichen gerade mal so für die Miete. Du hast Kraft und du bist überzeugt davon im Recht zu sein.“

Brain runzelte die Stirn und sah sie aufmerksam an.

Für Claudile ergab die Wahl Sinn – für sie war Brain ein Querulant, ein alter Mann mit einer Vorgeschichte, der sicherlich von jedem in der Stadt akzeptiert wurde. Er war aber auch erfahren und nahm kein Blatt vor dem Mund. Er würde immer die Wahrheit sagen. Darauf baute sie. Wenn sie ihm Freiraum gab, konnte er ihr noch nützlich sein. Schlaue Tiere ließen sich leichter zähmen.

Brain fiel nicht darauf rein. „Ich arbeite nicht für dich! Für einen Werwolf arbeiten!?“

Claudile ließ sich nicht so leicht abschrecken. „Mmh, das erschwert die Sache. Ich könnte auch jemand anderen fragen“, bemerkte sie beiläufig. „Unser Haushalter würde sicherlich nicht Nein sagen.“

Brains Miene wurde eine Spur dunkler. „Fritz!? Diese kleine Ratte kriecht nur zu gerne in andere Leute Ärsche. Er ist kein moralischer Mensch.“ Brain merkte, dass Claudile ihn unter Druck setze. „Mmh, ich gebe dir Bescheid.“

„Wann?“

„Wenn ich so weit bin, verstanden?“ blaffte er. Mit seiner schwieligen Hand fuhr er sich über den langen Bart. „Ich traue ihm nicht.“

„Wem?“ fragte Claudile unschuldig.

„Fritz.“ Er bedeutete ihr näherzukommen. „Hat sich schon früh für die hohen Herren auf der Burg interessiert. Ich kenne ihn noch aus einer Zeit, in der wir beide noch grün hinter den Ohren waren. Wollte immer wie sie sein. Ganz oben. Kaum war er als Lakai eingestellt, grüßte er niemanden mehr. Irgendwann kam er nicht mehr in die Stadt. Das geht jetzt schon seit Jahren so. Mit dem Baron Mattes Lyren war er dicke.“ Er nickte bedeutungsschwer. „Sie waren Freunde, so scheint es. Es kam mir immer so vor, als wolle er lieber einer von euch sein.“

„Ein Werwolf!? Er?“ Claudile lachte trocken. „Tja, er scheint sich dafür zu interessieren. Hat ein Buch über eine Art Gottheit. Ein sakraler Führer oder so.“ Sie warf dem Geistlichen einen Blick zu. „Seltsam, oder?“

Er rümpfte mit der Nase. „Das Buch würde ich gerne mal sehen. Ich denke über deine Bitte nach. Und jetzt geh! Du vergraulst mir die Kunden!“

Claudile ließ sich nicht so leicht abschrecken. „Warte nicht zu lange“, brummte sie mit widerstrebender Zufriedenheit.

„Ah, junge Dame“, sagte Hauptmann Gaver, als er sie fast umlief. „Ist es nicht ein schöner Tag?“

Bis zu diesem Moment, dachte Claudile, und ging rasch einen weiteren Schritt zurück als ihre gesteigerten Sinne seine Abneigung gegen das Waschen mitteilten. „Du musst Gaver sein, stimmt es?“

„Ja, so ist es, nja. Hauptmann Gaver für dich, fürchte ich“, sagte Gaver und räusperte sich mit böser Vorbedacht. „Habe gehört, dass gestern Abend im Bärendrücker Glücksspiel“, für einen Moment überlegte er, bis ihm das passende Verb einfiel, „gespielt wurde. Dabei tauchte eine junge Dame mit deiner Beschreibung auf. Gestehe!“

Claudiles gelbe Wolfaugen richteten sich auf Gaver.

Gaver bedachte Claudile mit einem strengen Blick. Er sollte folgende Botschaft vermitteln: Wir wissen alles über dich, und deshalb solltest du uns alles über dich erzählen. Aber er war nicht besonders gut darin. „Dort wurde um Geld gespielt. Um eine ziemlich große Summe, fürchte ich. Du hast ziemlich viel Geld verloren, nja, das ist schade, aber du bist selbst schuld. Glücksspiel ist seit der Satzung, nja, nach der Bengelsbacher Rechtsprechung vierzehn B verboten. Angesichts der angespannten Lage wäre das genug für die Todesstrafe.“

Brain, der zufällig noch in Hörweite war, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Hah! Gaver, zeig es ihr!“

Langsam drehten sich die Leute zu ihnen beide um. Einige wisperten, wenige tuschelten aufgeregt. Aber sie bemerkte zu ihrem Vergnügen, dass manche auch grinsten. Und sie lachten bestimmt nicht über sie.

Claudile erwiderte den Blick ungerührt. „Ich gestehe.“

„Wie lautet dein Name?“ fragte Gaver, als er begriff, dass sie der bessere Starrer war.

Claudile lächelte in die Runde und sprach deutlich und laut. „Ich gebe dir ein Rätsel auf, Hauptmann: was hat gelbe Wolfsaugen, einen Kater und hat heute noch nicht gefrühstückt?“

Kichern. Selbst Brain grinste verschmitzt.

„Nja, das Witzereißen wird dir noch…OH!“

Einige Passanten lachten hinter vorgehaltener Hand. Brain schüttelte schließlich den Kopf und zeigte Gaver einen Vogel.

„Verdammt und zugenäht“, hauchte Gaver.

„Verdammt und zugenäht, Herrin“, sagte Claudile. Wendig wie eine Viper schoss ihre Hand vor und packte seinen Arm. Noch bevor Gaver vor Schreck und Schmerz quicken konnte, hatte sie ihn schon in eine Gasse gezehrt.

„Es ist nützlich, dich zu kennen“, flüsterte Claudile. „Da bin ich mir sicher.“

„Nja, denke schon“, sagte Gaver und stand auf den Zehenspitzen.

„Du hälst Augen und Ohren offen, wie? Kennst jeden in der Stadt, was?“ Ohne den Griff zu lockern strich sie ihm mit ihrer Klauenhand über die Wange. „In jeder Stadt gibt es einen Hauptmann, der jeden Kniff kennt. Der seine Pflichten ernst nimmt. Der sich um das Wohl der Bürger sorgt.“

„Nja, ja, Herrin.“

„Ich habe einen Auftrag für dich, Gaver.“ Sie erhob sich und drehte den Kopf, als wolle sie sich vergewissern, dass auch niemand zuhörte. „In dieser Stadt gibt es eine Religionsgruppe, die im Geheimen operiert. Mit mir will niemand darüber sprechen, aber du bist aus einem anderen Holz geschnitzt.“

Religion?“

„Ja. Halte die Ohren am Boden und hör dich mal um. Bis morgen Abend will ich was hören, Gaver. Ich weiß, dass ein Mann wie du das kann. Und es springt auch etwas für dich heraus, Gaver.“

„Was denn, Herrin?“ fragte Gaver, der Claudiles Griff als unangenehm empfand.

„Meine Freundschaft“, sagte Claudile. „Sie ist selten und kostbar.“

„Verstanden, nja.“

„Sehr gut, Gaver.“ Sie nickte ihm freundlich zu und richtete ihn wieder auf. „Du wirst es noch weit bringen. Vielleicht ernenne ich dich sogar zum Leitenden Hauptmann. Würde dir das gefallen?“

Gaver schluckte. „Sehr gerne, Herrin. Mit Vergnügen, Herrin. Nja, Ihr könnt Euch auf mich verlassen!“

„Gut, dann gehe ich mal.“ Und wasche mich gründlich.

Gaver salutierte eifrig und hüpfte davon.

Als sie zum Brunnen ging um sich die Hände im kalten Wasser zu waschen, blickte sie zum grauen Himmel. Ein Wind aus dem Norden kündigte einen Wetterwechsel an. Es war kein plötzlich aufleuchtendes Signal, wie eine aufflammende Kerze in einer mondlosen Nacht, sondern ein Sog aus der Ferne, der kontinuierlich anschwoll, sich langsam aufbaute. Tiere spürten es nahen. Das taten sie jeden Herbst. Nicht ohne Grund zogen viele Tiere in den Süden.

Ihre gute Laune verblasste, als sie zur Nordwand des nächsten Berges blickte. Menschen sahen eine weiße Wand aufragen, schräg und steil, und voller Schnee und Eis. Der Wolf in ihr witterte eine knackende Fläche voller Versprechungen. Nicht heute, nicht morgen… aber sehr bald.

Hoch im Norden kam der Winter schneller und mit weiten Schritten heran, und er würde lange anhalten, das wusste sie aus Erzählungen. Die Unterredung mit Gaver und all die kleinen Ereignisse der letzten Tage bekamen plötzlich eine ganz neue Bedeutung, als sie an Schnee und eiskalte Nächte dachte. Und an Lawinen.

Eine bedrohliche Wahrheit.

 

Nicht für sie. Werwölfe litten kaum Hunger und würden selten an Unterkühlung sterben.

Nein, es kam etwas aus dem Norden und wehe dem, der nicht vorsorgen konnte.

„Verzeihen Sie“, sprach sie eine ältere Frau an, die zufällig des Weges kam. „Wie lange dauern die Winter hier?“

Sie hörte geduldig zu. Langsam bekam sie eine Ahnung, von dem, was bald unweigerlich bevorstand. Ein eisiger Winter.

Feuer und Nahrung sollte die Menschen am Leben erhalten. Sofern genügend davon vorhanden war.

Sofern…

Sie warf einen prüfenden Blick auf die breiten Giebelhäuser der Stadt, auf die vermoderten Wände und die undichten Fenster. Anders als bei Menschen witterte sie die Vorboten des beinahe sicheren Todes, aber sie widerstand der Versuchung Alarm zu schlagen. Das wäre unangebracht gewesen. Trotzdem mussten sie sich beeilen. Sonst würde Claudile Alemont bald Fürstin eines Totenreichs sein.

Sie schluckte hart, als unweigerlich in ihrem Blickfeld eine einzelne Schneeflocke sacht und sanft zu Boden sank.